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Kapitel 2 – Damals – Gabe

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Als Rose fünf Jahre alt war, merkte sie zum ersten Mal, dass sie schön war. Es war die Art, wie die Leute sie auf der Straße ansahen – ehrfurchtsvoll, bewundernd. Sie erinnerte sich daran, wie sie mit ihrer Mutter durch die Stadt spazierte und von Blicken verfolgt wurde. Es fühlte sich merkwürdig an. Sie strich ihr Sommerkleid glatt und suchte nach einem Fleck, doch sie konnte nichts Außergewöhnliches finden. »Mum, warum starren mich die Leute so an?«, fragte sie.

Ihre Mutter, zu dieser Zeit noch kerngesund, hatte ihr ein Lächeln geschenkt. »Rose, du bist schön. Du bist ein wunderschönes kleines Mädchen.«

Das war der Grund? Nur zwei Tage nach dem Gespräch mit der Mutter war Rose klar, dass diese Recht haben musste. Ein Mann sprach sie eines Morgens vor dem Supermarkt an. Rose verstand nicht viel von dem, was er sagte – nur, dass er Fotos von ihr machen und sie dafür bezahlen wollte. »Dieser Mann ist auf der Suche nach schönen Menschen, und er hat dich ausgewählt. Es ist eine unglaubliche Ehre«, erklärte ihr die Mutter.

Rose war verdutzt. Warum sollte jemand dafür bezahlen, Fotos mit ihr zu machen? Sie war doch bereits auf vielen Bildern – im Urlaub oder bei ihrem Kindergeburtstag. Wieso konnte man die nicht dem Mann geben? Ihre Mutter erwiderte darauf nichts, sondern lachte nur. Und Rose erkannte, dass sie eine Gabe haben musste.

Zu Hause erzählte sie es sofort ihrem Vater. Der runzelte nur die Stirn, wie er es immer tat, wenn er mit etwas nicht einverstanden war. »Geh' schon mal in dein Zimmer, Schatz. Ich komme gleich«, sagte er, an seine Tochter gewandt.

Rose tat, wie ihr geheißen, hörte den Streit der Eltern aber trotzdem. »Sei doch vernünftig, Paul, Rose kann uns helfen. Das gibt eine Menge Geld«, argumentierte die Mutter. Rose wusste, dass ihre Eltern Geldprobleme hatten. Die Tatsache, dass sie der Familie vielleicht helfen konnte, machte sie stolz.

»Ich halte überhaupt nichts davon, Alice. Du nutzt unsere Tochter nur für deine Zwecke aus. Es geht dir doch gar nicht um das Geld. Du willst mit ihr angeben.« Es wurde immer besser. Ihre Eltern wollten mit ihr angeben, weil sie so unglaublich stolz auf ihre Tochter waren. Rose spürte, wie ihr Herz schneller klopfte.

»Vielleicht, ja. Aber schließlich ist es deine Schuld, dass ich nichts vorzuweisen habe. Ich will nicht, dass Rose denselben Fehler macht wie ich damals.«

Einen Moment lang herrschte Stille. Dann hörte man den Vater sagen: »Ein Fehler? Ich wusste immer, dass du es so siehst, aber es ist das erste Mal, dass du es offen aussprichst. Herzlichen Glückwunsch. Aber du hast deine eigenen Bedürfnisse ja immer über die der Familie gestellt.«

»Du undankbarer Versager«, schrie Alice Carter. Rose zuckte vor der Tür zurück. So hatten ihre Eltern noch nie miteinander gesprochen. Schimpfworte waren nicht erlaubt. »Du hast mir alles genommen, was ich hatte. Ich war eine wundervolle Frau – beliebt, berühmt, begehrt. Du hast aus mir ein Nichts gemacht.«

»Du hast eine Tochter, die dich liebt. Reicht dir das nicht? Willst du wirklich dein altes Leben zurück? Tagelang zugedröhnt mit Männern im Bett, deren Namen du nicht mal kennst, und bei windigen Modelscouts Nacktaufnahmen machen? Ja, das war ein tolles Leben.« Ihr Vater lachte freudlos auf. Rose verstand nicht, wovon er sprach, doch sein Tonfall war verbittert, traurig.

»In der Zeit war ich wenigstens glücklich. Jetzt lebe ich in einer hässlichen Vorstadt mit einem langweiligen Ehemann, einem lahmen Bürojob, und das Einzige, was ich vorzuweisen habe, ist eine schöne Tochter. Wirf mir jetzt verdammt nochmal nicht vor, dass ich versuche, das Beste aus der Situation zu machen.«

»Ich bin dagegen, unsere Tochter wie Fleisch auf dem Markt anzubieten.«

»Es sind Fotos, Herrgott.«

»Ich verbiete es.« Ihr Vater hatte ein Machtwort gesprochen. Rose wusste, dass es nun keine Diskussion mehr geben würde. Sie spürte die Wut heiß in sich aufsteigen. Wieso wollte ihr Vater diese Chance nicht zulassen? Tränen liefen über ihr Gesicht. Wie konnte er so ungerecht sein? Sie wollte sich ins Bett legen, die Decke über den Kopf ziehen und dort für immer bleiben.

Dumpf drangen die Stimmen durch die Tür. Ihre Lautstärke hatte sich verringert. »Alice, wie konnte es soweit kommen?«

Alice‘ Stimme klang kalt wie Eis. »Ich dachte es, aber ich habe mich geirrt.«

»Wieso trennst du dich dann nicht? Wieso bleibst du bei deinem langweiligen Ehemann? Des Geldes wegen?«

Die Mutter lachte freudlos schnaubend auf. »Ich bin schwanger. Und ich weiß meine Verpflichtung gegenüber meiner Familie durchaus einzuschätzen. Ich werde jetzt bügeln.«

Rose erstarrte in ihrem Zimmer zur Salzsäule. Ihre Eltern würden noch ein Baby bekommen? Aber sie war doch das einzige Kind. Sie allein würde ihnen bei den Geldproblemen helfen – mit ihrer Gabe. Vor ihrem geistigen Auge sah Rose ein kleines Mädchen, das ihr Sommerkleid trug und ihre Eltern in die Arme schloss, während sie danebenstand und nach Aufmerksamkeit schrie. Die Eltern sahen sie jedoch gar nicht. Sie hatten nur Augen für die neue Tochter, die noch viel schöner war als Rose.

Bei dem Gedanken schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie packte ihre Lieblingspuppe und warf sie mit aller Kraft gegen die Wand. Lilly war eine schöne Puppe, blond, mit blauen Glasaugen und einem gelben Sommerkleid, wie Rose es trug. Mit einem Klirren zerbrach Lillys linkes Auge. Die Puppe fiel schlaff zu Boden, das Auge lag zerbrochen daneben. Rose sank auf die Knie und drückte Lilly fest an ihre Brust. »Es tut mir leid«, schluchzte sie und ließ ihren Tränen nun freien Lauf. Es waren Tränen der Eifersucht auf das Kind, das noch nicht einmal geboren war, ihr aber bereits das Leben verdarb. Rose wusste, dass ihre Eltern allein schuld daran waren, dass Lilly sich verletzt hatte – ihr Vater, weil er ihr die Fotos verbat, und ihre Mutter, weil sie Rose durch eine neue Tochter ersetzen wollte. Jetzt fehlte Lilly ein Auge. Sie würde nie mehr die sein, die sie gewesen war.

Rose‘ Blick fiel auf den Spiegel, der an ihrem Kleiderschrank hing. Selbst weinend sah sie noch schön aus. Sie hatte zarte Haut, große Augen und sah in ihrem Kleid wie eine Prinzessin aus. Fast musste Rose schon wieder lächeln. Sie stand auf und berührte ihr Spiegelbild leicht mit der Hand, fast liebevoll. Egal, was ihre Eltern tun würden, die Gabe konnten sie ihrer Tochter nicht nehmen.

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