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Kapitel 4 – Damals – Perfektion
ОглавлениеAls Rose 14 Jahre alt war, spürte sie, wie jeder Junge in ihrer Klasse sie begehrte. Manche fragten sie nach einer Verabredung, manche riefen ihr derbe Sprüche hinterher, und andere wurden rot, wenn sie vorbeiging.
Einzig Marc war anders. Er war der schönste Junge, den Rose je gesehen hatte. Sein Gesicht verriet niemals Emotionen, blieb stets ausdruckslos. Seine Haut war makellos. Die stahlgrauen Augen schienen bis ins Innerste ihres Gegenübers vorzudringen. Rose fühlte eine Verbindung zu ihm. Er war anders als die anderen, wunderschön, und er wusste es. Marc verstand, wie sie sich fühlte. Er kannte das Gefühl, alle zu sich aufblicken zu sehen, besser als sie zu sein. Auch er hatte die Gabe.
In seiner Gegenwart verspürte Rose zum ersten Mal in ihrem Leben eine Art Nervosität. Es war, als würde plötzlich alles einen Sinn ergeben. Zwei perfekte Menschen in einer Welt voller tödlich langweiliger Normalität. Zwei Menschen, die zusammen sein mussten, weil beide anders waren. Es war unausweichlich, dass sie ausgehen würden.
Rose und Marc verbrachten einen romantischen Abend bei einem Picknick im Park. Er hatte sie eines Morgens zwischen Geographie und Algebra auf dem Flur einfach gefragt. Rose hatte ein paar Stunden lang die Unnahbare gespielt und dann eingewilligt. Marc erzählte ihr bei ihrem Date immerzu, wie schön sie sei. Sie verhielten sich, als hätten sie es vorher abgesprochen. Die Komplimente, ihre Gespräche – alles passte. Danach brachte er sie nach Hause und küsste sie zum Abschied sanft. Als Rose die Tür hinter sich schloss, musste sie lächeln. Ihre Ahnung hatte sich bestätigt. Marc war der perfekte Partner und, was noch viel wichtiger war, ihr ebenbürtig.
Noch am selben Abend rief sie ihre beste Freundin Isabelle an. Sie war die Einzige, die ihr äußerlich annähernd das Wasser reichen konnte. Sie pflegten eine oberflächliche Freundschaft. Rose hielt den Kontakt aufrecht in der Hoffnung, er werde ihr eines Tages von Nutzen sein. Isabelle erfüllte alle erforderlichen Parameter für eine beste Freundin. Sie schenkte Rose Aufmerksamkeit und stand ihr loyal zur Seite. Zwar hätte Rose auf die stundenlangen Telefonate, in denen Isabelle ihre Erlebnisse und Probleme schilderte, verzichten können, doch sie hörte sich stets geduldig an, was die Freundin zu berichten hatte. Man wusste ja nie, ob sich zwischen der einen oder anderen Jammerei doch eine wertvolle Information verbarg. Rose hatte eigentlich nicht sonderlich viel übrig für Isabelle, aber sie schätzte sie für ihr Aussehen und ihre selbstbewusste Art. Von allen Menschen war sie noch der erträglichste.
An diesem Abend klang Isabelle merkwürdig am Telefon – reserviert und verdruckst. Rose hatte ihr die Verabredung mit allen Details geschildert, doch von der Freundin kam nur ein trockenes »Das klingt nach einem schönen Abend.«
»Hast du mir nicht zugehört? Es war perfekt. Er und ich, wir sind das neue Traumpaar.«
»Hat er das gesagt?«
»Nein, er ist schließlich ein Kerl. Aber niemand küsst ein Mädchen so und meint es dann nicht ernst.« Rose verdrehte die Augen. Isabelle hatte einfach keine Ahnung von Männern. Rose legte mit dem Gefühl auf, den anderen Menschen wieder einmal ein Stück voraus zu sein. Sie würde die Erste in der Klasse sein, die einen festen Freund hatte. Wie sanft sich Marcs Lippen angefühlt hatten. Mit einem seligen Lächeln schlief sie ein.
Am Morgen nach dem Date ging sie voller Freude und mit Herzklopfen in die Schule. Sie hatte sich für Marc besonders schön gemacht. Auf dem Gang schlug ihr das Herz bis zum Hals. Gleich würde sie ihn wiedersehen, ihn wieder küssen.
Als sie das Klassenzimmer betrat, fühlte sie sich, als habe man ihr ins Gesicht geschlagen. Marc saß auf seinem Platz, eng umschlungen mit einem dunkelhäutigen Mädchen. Sie küssten sich, Marc flüsterte ihr etwas ins Ohr, und Isabelle lachte leise auf. Rose spürte, wie sie kalkweiß wurde.
Jeremy, ein Klassenkamerad, der bei Frauen völlig chancenlos war, sie aber vergötterte, fragte: »Rose, geht es dir nicht gut?« Er ergriff ihre Hand.
Rose schüttelte ihn ab wie ein lästiges Insekt: »Lass‘ mich in Ruhe! Mir geht es bestens.« Der Schmerz wich etwas anderem: tiefem, glühendem Hass. Sie musste sich zusammenreißen. Erhobenen Hauptes ging sie zu ihrem Platz – vorbei an ihrer ehemaligen besten Freundin und dem Jungen, den sie bis vor einigen Minuten noch für ihren festen Freund gehalten hatte. »Hallo Marc, Isabelle. Lasst euch nicht stören.«
Die beiden fuhren augenblicklich auseinander. Rose würdigte sie keines Blickes und setzte sich. Scheinbar geschäftig holte sie Stifte und Papier heraus, während sie innerlich kochte. Als sie aufsah, stand Marc vor ihr. Sie zog eine Augenbraue hoch. »Rose, ich hoffe, das mit Isabelle ist okay für dich. Ich will dich nicht verletzen«, sagte er zögerlich.
Am liebsten hätte sie ihm ins Gesicht geschlagen. Stattdessen massierte sie ihre Schläfen und schloss die Augen. Sie zwang sich dazu, ruhig zu sprechen. »Marc, das ist alles keine große Sache.« Sie presste ein Lächeln heraus. »Denkst du wirklich, ich erwarte, dass wir zusammen sind? Ich bitte dich. Das war ein Date, wie ich es jede Woche drei Mal habe.«
Das Bedauern in seinem Blick wich Erleichterung. »Dann bin ich froh. Isabelle und ich liegen einfach auf einer Wellenlänge. Wir treffen uns zwar schon seit einer Weile, aber das habe ich erst jetzt richtig verstanden.«
»Hey, du musst nichts erklären. Mach‘ dir keine Gedanken! Ich habe absolut nichts von dir erwartet.« Die Lüge kam ihr ohne Zögern über die Lippen. Sie grinste Marc an, doch ihre Augen blieben dabei eiskalt.
Marc sah glücklich aus. »Na, wenn das so ist. Isabelle meinte, es würde dich bestimmt ziemlich treffen, aber jetzt bin ich beruhigt. Das finde ich wirklich super von dir, Rose. Du hast ohnehin einen Besseren verdient.« Seine Hand berührte kurz ihre Wange. Er zwinkerte ihr zu und ging zurück zu Isabelle. Die Stelle, an der er sie berührt hatte, schien zu glühen. Rose presste die Zähne aufeinander, um nichts Unüberlegtes zu sagen. Als sie Isabelle mit ihren Augen fixierte, spürte sie einen Hass, den sie selten zuvor gespürt hatte. Auch wenn sie das Mädchen nie als echte Freundin empfunden hatte, so war sie doch eine Art Verbündete gewesen. Sie hatten etwas Einzigartiges gehabt, und Isabelle hatte es verraten. Eines war Rose klar: Die beiden würden es büßen, sie so vorgeführt zu haben.
Die passende Gelegenheit bot sich einige Wochen später, als Rose während der Geschichtsstunde auf die Toilette ging. In der Kabine neben sich vernahm sie ein leises, unterdrücktes Schluchzen. Normalerweise scherten sie Gefühlsausbrüche anderer nicht im Geringsten. Trotzdem fragte sie: »Kann ich helfen?«
»Nein, ich…mein Leben ist nur zerstört«, schluchzte eine Mädchenstimme.
Das weckte Rose‘ Interesse. »Komm' doch mal raus, und lass‘ uns darüber reden, ja? Es gibt immer einen Weg«, sagte sie betont fröhlich. In Wirklichkeit hasste sie es, wenn Menschen weinten. Man verlor nicht nur seine Schönheit, sondern auch seine Würde. Doch ihre Worte schienen zu wirken. Ein Knacken verriet, dass der Riegel zurückgeschoben wurde.
Margret Lieberman aus der Parallelklasse trat aus der Kabine heraus und starrte Rose ungläubig an. »Du? Ich habe mit jedem anderen gerechnet.« Ihre Stimme bebte immer noch, aber sie hatte sich wenigstens die Tränen abgewischt.
»Warum denn? Wir müssen doch aufeinander achtgeben. Wir sind schließlich auf einer Schule.« Rose hörte selbst, wie falsch das klang, schließlich hatte sie noch nie zuvor ein Wort mit dem dicken Mädchen gewechselt. Es überraschte Rose bereits, dass sie Margrets Namen noch wusste. Doch die Mitschülerin nickte heftig. »Was ist denn los?«, fragte Rose lächelnd.
Das dicke Mädchen putzte sich laut schnaubend die Nase. »Ich kann es nicht sagen. Es ist so…beschämend.«
Rose musste sich zusammenreißen, um nicht mit den Augen zu rollen. Wieso war sie eigentlich noch hier? »Margret, sag', was los ist. Vielleicht kann ich dir helfen. Alle Probleme sind lösbar.«
Es waren leere Phrasen, doch sie schienen das Mädchen zu beruhigen. »Na gut.« Sie lehnte sich gegen die geflieste Wand. Rose zwang sich dazu, Margret über den Arm zu streichen. Diese begann wieder zu schluchzen und streckte ihr etwas entgegen. Rose runzelte die Stirn, als sie den Gegenstand nahm. Es war ein Schwangerschaftstest. Er zeigte zwei Striche an.
»Mir war immer wieder schlecht, und ich habe gehofft, dass ich mir den Magen verdorben hab‘. Aber jetzt ist alles klar. Mein Leben ist vorbei. Scheiße.« Margret brach in Tränen aus und drückte ihren Kopf gegen Rose‘ Schulter.
Diese konnte es nicht fassen. »Margret, mit wem hast du geschlafen?«
Das Mädchen schaute peinlich berührt zu Boden. »Du kennst ihn nicht. Es war einer der Gäste im Hotel meiner Eltern.« Sie zögerte und starrte krampfhaft ihre Fingernägel an. »Er heißt Jake. Er war auf der Durchreise und hat mir gleich so gut gefallen – groß und gut gebaut. Ich hätte niemals gedacht, dass so ein Mann wie er auf mich stehen könnte.«
Rose konnte sich das auch nicht vorstellen. »Du sagtest Mann?«
Margrets Augen flackerten ängstlich, als sie nickte. »Rose, du darfst es niemandem sagen. Bitte, du musst es mir versprechen. Ich komme in verdammte Schwierigkeiten. Wenn meine Eltern das herausfinden, dann werden sie Jake anzeigen. Und alle Welt wird erfahren, dass ich schwanger bin.« Sie wurde hysterisch und bekam rote Flecken im Gesicht.
Rose fragte sich, wer in aller Welt Margret attraktiv finden konnte. Vermutlich war sie einfach leicht zu haben gewesen. »Wie alt ist dieser Jake?« Rose musste dahinterkommen, welcher gutaussehende Mann eine 14-Jährige schwängerte.
Margret schluckte. »53, aber er sah aus wie Mitte 20, wirklich. Und er hat mir das Gefühl gegeben, wunderschön zu sein.« Rose wurde beinahe übel. Der Typ war ein Perverser, der Margret ausgenutzt hatte. »Und das Schlimmste ist, dass ich ihn liebe. Aber wir werden uns nie wiedersehen. Er ist inzwischen bestimmt schon in Texas.« Sie weinte immer heftiger.
Großer Gott, dachte Rose, wie naiv konnte ein Mädchen sein? »Komm schon, Margret. Beruhige dich! Wir finden bestimmt einen Ausweg.«
»Dafür gibt es keinen Ausweg.«
Rose jedoch fixierte schon wieder den Schwangerschaftstest. Schließlich grinste sie. »Ich habe die Lösung. Steh' auf!«