Читать книгу Teufels Träume - Jasmin Salfinger - Страница 6
Schwarzes Debüt
ОглавлениеEin satter Bass brummte über den Gehweg. Musik wummerte laut aus einer großen Villa auf die Straße hinaus. Es war ein Wunder, dass sich noch keine Nachbarn beschwerten. Auf dem Rasen parkten teure Autos, wie Ferraris, Porsche und Bentleys und ein paar Schüler torkelten betrunken herum.
Der Debütanten Ball der in der St. Monterose Akademie stattgefunden hatte, war längst vorbei. Dafür war Mels Party im Inneren des Hauses in vollem Gange. Der Salon und das große Wohnzimmer hatten sich in eine rauschende Tanzfläche verwandelt. Mel hatte sogar ein richtiges DJ-Pult organisiert und während die meisten ihrer Mitschüler in feinen Designerroben ausgelassen um die modernen Möbel tanzten, taten sich andere an den exquisiten Snacks in der Küche gütlich. Jede menge Cupcakes, extravagantes Fingerfood und exotische Obststücken waren von einer Cateringfirma hübsch und appetitlich drapiert worden. Jetzt wurden alle Speisen von angeheiterten Schülerfingern zerpflückt. Eine Bowle Schüssel zerschellte auf dem Boden und während sich der purpurne Saft über die weißen Marmorfliesen ergoss, brach auch noch eine Designerlampe von der Wand. Dr. Salveter würde die Decke hochgehen, wenn er das Chaos sah, dass diese Party anrichtete. Spätestens wenn er die ganze Kotze im Pool bemerkte, sollte Mel die Flucht ergreifen.
In einem dunklen Zimmer im ersten Stock war die Musik der Party nur dumpf zu hören. Eine Tür ging sachte auf und jemand huschte in einem Ballkleid blitzschnell in den dunklen Raum.
Es war Emilia, die sich hochgeschlichen hatte um in Mels Zimmer Detektiv zu spielen.
Emilia hatte aus Mel nichts herauskitzeln können. Da Emilia aber wissen wollte, was Mel mit den Dieben zu tun hatte, und warum sie ihr ihre Kette gegeben hatten, machte sie sich selbst auf die Suche nach Antworten. Wenn sie hier ihre Kette fand würde Mel mit der Sprache herausrücken müssen.
Ihr schlechtes Gewissen, beim durchwühlen von Mels Sachen hielt sich ebenfalls in Grenzen: Die Kette gehörte schließlich ihr. Sie schaltete die Lampe Ihres Smartphones ein und zog leise die oberste Schublade von Mels Edelstahlkommode auf. So leise wie möglich ging sie eine Lade nach der anderen durch, finden konnte sie jedoch nichts.
Emilia wollte sich gerade Mels Schreibtisch zuwenden als ihr Blick an dem Spiegel auf der Kommode hängen blieb. Es war eigentlich ein gewöhnlicher mittelgroßer Standspiegel mit einem dicken Zierrahmen. Emilia spürte kleine Impulse in ihren Fingerspitzen. Ihre Finger wollten sich nach dem Spiegel ausstrecken. Emilia legte ihr Smartphone auf der Kommode ab und hob den Spiegel mit beiden Händen an. Für seine Größe war er ziemlich schwer. Ein weiterer Impuls brachte sie dazu ihre Hände den Kunststoff-Rahmen entlang gleiten zu lassen. Ihre Fingerspitzen bekamen ein ungutes kribbeliges Gefühl und brachten sie dazu fester zuzudrücken. Der hintere Teil des Rahmens gab unter ihren Fingern nach und Emilia konnte eine kleine Einbuchtung ertasten. Überrascht hielt sie inne, drehte den Spiegel herum und sah sich das genauer an. Sie konnte einen Teil der Rückseite des Rahmens anheben und einen Hohlraum freilegen. Kurz hielt sie gespannt die Luft an, ehe sie den Rahmen leicht schüttelte und etwas heraus auf die Kommode purzelte.
Drei Gegenstände fielen heraus:
Emilias blaue, Saphir-Skarabäuskette
Ein Schlüssel
Und-
Ein durchsichtiges Säckchen, zum bersten gefüllt mit einem weißen Pulver.
Emilia starrte sprachlos auf die drei Dinge.
Drogen. Das waren Drogen.
Das weiße Säckchen war nicht einmal das Schockierenste. Viel mehr schockierte sie der Anblick des Schlüssels. Das war der Schlüssel zum Aufbewahrungsraum im Rathaus. Der Schlüssel der eigentlich in dem Büro ihrer Mutter liegen sollte. Mel steckte tatsächlich mit den Dieben unter einer Decke. Sie war für den Raub verantwortlich.
Und langsam kam ihr auch eine Erklärung für das „Warum?“:
Mel wollte von den Terrino Typen Drogen kaufen. Drogen waren durch die strengen Gesetzte noch viel teurer und schwieriger zu bekommen als früher. Sie waren so teuer, dass ein Kauf selbst bei den reichen Kids auffallen würde.
Leisten konnte sich Mel das Pulverchen sicher, aber wie hätte sie das Fehlen der Summe ihrem Vater erklärt? Hätte sie bar bezahlt, hätte er wissen wollen wozu sie so viel Bargeld brauchte. Die Kreditkarte zu verwenden kam gar nicht erst in Frage: 1. die Abrechnung lief über ihn, 2. Wer war so blöd Drogen mit Kreditkarte zu bezahlen? Nein, Mel brauchte eine andere Lösung. Sie wusste, dass sie Zugang zu dem Büro von Emilias Mutter haben würde. Sie wusste ebenfalls dass der Schlüssel dort aufbewahrt werden würde. Sie hatte einen Tauschhandel vereinbart. Sie bekam Drogen von den Terrinotypen, diese wiederrum bekamen von ihr den Schlüssel und einen Freifahrtsschein um ein paar Wertgegenstände von der Auktion zu klauen. Niemand hätte Mel verdächtig, der Diebstahl hätte nichts mit ihr zu tun gehabt. Doch leider war Emilia in den Raub geplatzt. Der Typ musste vorzeitig abbrechen und hatte sich genau das falsche Schmuckstück gegriffen. Und zwar das der Tochter der Organisatorin. Emilias Mutter war ein hohes Tier, hohe Tiere beklaut man nicht, denn die werden aggressiv und weil Mel Angst vor Emilias Mutter hatte und dem was sie herausfinden könnte, wollte Mel die Kette zurückhaben. Ihre Drogenschulden würde sie irgendwie anders tilgen müssen.
Ok, das war jetzt eine sehr spekulative Erklärung, aber was Logischeres fiel Emilia gerade nicht ein.
Warum, WARUM zum TEUFEL wollte Mel Drogen haben? Ging es ihr mental so schlecht? Oder war sie so gelangweilt von ihrem Leben? Das war doch einfach nur hirnrissig! Wieso hatte Emilia das nicht bemerkt, keiner stand Mel näher als sie...
Noch viel schlimmer war das Emilia jetzt in eine verflucht zwicklige Lage geraten war. Drogen zu besitzen wurde extrem schwer geahndet. Zu wissen, dass jemand Drogen besaß, ohne es den Behörden mitzuteilen, war aber auch schon eine schwere Straftat.
Emilias Hirn arbeitete auf Hochtouren, was sollte sie jetzt tun? Dachte sie fiebrig.
"Lia! Wo steckst du?!" Das war Corrinns Stimme.
Eilige packte Emilia schnell die Kette, samt dem Schlüssel und den Drogen in ihr Täschchen und stürzte aus Mels Zimmer.
"Ich bin hier." Rief sie und räusperte sich. Corrinn erspähte sie vom Ende des Ganges.
"Na endlich!" Rief Corrinn und lief in einem Traum von einem weißen Ballkleid auf Emilia zu. Sie ergriff ihre Hand und zerrte sie lachend mit sich.
"Komm schon, du verpasst sonst alles!"
"Was? Was meinst du?" Fragte Emilia
"Mel hat eine Überraschung für uns, aber sie wollte nicht ohne dich anfangen. Deshalb hat sie sich heute so merkwürdig verhalten, die kleine geheimtuerische Hexe." Erklärte ihr Corrinn grinsend und schüttelte ihre blonde Mähne.
"Ach tatsächlich?" Murmelte Emilia halblaut und zog skeptisch eine Braue hoch.
Eine Überraschung hm? Was das wohl sein mochte. Sie vermutete, dass es nichts mit dem Inhalt in ihrem Täschchen zu tun hatte.
Zu zweit liefen die beiden die große Villa hindurch, vorbei an etlichen Partygästen, hinunter in das Erdgeschoss. Das Haus war extrem modern. Dr. Salveter, als alleinerziehender Vater, hatte es im maskulinen Stile eingerichtet. Es wirkte alles ein bisschen zu modern, und in zu vielen Grautönen. Nur Mels Zimmer und der Wintergarten hatten eine exzentrische Extravaganz abbekommen. Auf den Wintergarten schlitterte Corrinn mit Emilia im Schlepptau zu. Benjamin und Alexander standen samt Smoking und Krawatten vor der schwarzen Glastür. Alex wirkte genervt und Ben...naja betrunken. Er hatte wohl fünf Gläschen Champagner zu viel gekippt.
Corrinn trippelte an ihnen vorbei und klopfte an die Glastür.
"Mel, wir sind's! Lässt du uns jetzt rein?" Fragte sie neugierig. Die Tür ging auf und wogender blauer Tüll kam ihnen entgegen als Mel in ihrem Kleid heraustrat. Sie grinste von einem Ohr zum anderen.
"Na, seid ihr schon Neugierig?!" Fragte sie spitzbübisch und strahlte sie begeistert an.
"JA!" Platzte Corrinn heraus. Ben nickte nur mit halb geschlossenen Liedern und Alex grunzte. Emilia reagierte gar nicht, sie sie spürte das Gewicht der Drogen in ihrer Tasche.
"Kommt rein!" Forderte Mel sie auf und kicherte. Der Wintergarten glich einer von Kräutern und Pflanzen zugestellten Bibliothek. Mel liebte die Wildheit der Natur und lies Topfpflanzen über die Möbel drüber wachsen. Es verlieh dem Ganzen ein außergewöhnliches Ambiente. In dem Raum war kein Licht eingeschaltet, stattdessen brannten unzählige Kerzen. Und in der Mitte des Raumes lag Mels Überraschung:
"Nicht dein Ernst Mel?! Dafür schleppst du uns von der Party weg?" Fragte Alex, er war schon die ganze Zeit schlecht gelaunt, vermutlich hatte er Stress mit seiner Freundin. Mels Überraschung begeisterte ihn jedenfalls überhaupt nicht.
Corrinns Neugierde und Begeisterung war so schnell verschwunden wie sie gekommen war. Äußerst skeptisch betrachtet sie den kleinen Tisch in der Mitte des Raums.
"Ein Ouija Brett? Also nee..."
Mel sah sie Reihum an und bestrahlte sie mit pure Begeisterung. Emilia fiel es ganz schwer jetzt nicht die Augen zu verdrehen. Mel wollte während ihrer Afterparty eine Seance mit einem klapprigen Ouija Brett abhalten. Das war mit Abstand das klischeehafteste Teenie-Szenario, dass so ziemlich jeden Horrorfilm einleitete.
Mel stand auf so Zeug. Sie war auf alles versessen was irgendwie abergläubisch oder übernatürlich war. Eine der Wenigkeiten die Emilia mit ihr absolut nicht gemeinsam hatte.
„Eine Séance? Das soll wohl ein Scherz sein? Melica, wir wissen das DU ein verrücktes Hexenweib bist, aber WIR sind normal, das ist doch dämlich...“sagte Alex ungläubig und schnaufte erbost.
Mel hatte für sie eine kleine Geisterbeschwörung vorbereitet.
Emilia betrachtete skeptisch das Brett
„Mel, das ist viel zu gruselig. So eine Aktion hätten wir doch auch... ich weiß nicht, mit Tageslicht veranstalten können.“ sagte Corrinn zögerlich und verschränkte missmutig die Arme.
„Ja, aber dann hätte es nicht diesen Kick! Sowas gehört sich zur Geisterstunde!“ Mel war übermäßig begeistert.
„Mitternacht ist schon lange rum.“ Bemerkte Emilia übermäßig unbegeistert.
„Ihr Unwissenden, die richtige Geisterstunde ist um drei Uhr morgens!“
„Na schön! Bringen wir es hinter uns“ entnervt ließ sich Alex auf den dunklen Boden plumpsen. Corrinn tat es ihm nach, wenngleich sie darauf achtete ihr Kleid nicht zu verknittern. Mel liebte diese Sachen, sie liebten Mel, also wollten sie ihr die Freude lassen und spielten mit.
Emilia sah Mel immer noch mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. Am liebsten hätte sie ihr den Inhalt ihrer Tasche auf das Ouija Brett geknallt und mit erhobenem Finger eine Erklärung verlangt. Aber nein, vor den anderen war das keine gute Idee. Sie würde sich bis nach der Geistersitzung gedulden müssen. Mel sah sie leicht verwirrt an, sie verstand den Blick nicht den sie von Emilia kassierte. In der Hoffnung das ganze rasch hinter sich zu bringen ließ sich Emilia zu Boden sinken. Ben der für jeglichen Widerspruch sowieso zu betrunken war, plumpste einfach auf seinen Hintern. Ein Grinsen breitete sich wieder auf Mels Gesicht aus. Schweigend sahen sie zu, wie Mel verschiedene Dinge positionierte und ihnen erklärte wofür man was brauchte: Eine Kerze, für Feuer stellte sie näher an das Brett. Etwas Erde aus einer Dose, Wasser aus einer kleinen Flasche und eine Feder, die den Wind symbolisieren sollte. Sie verteilte all die Dinge rund um das Oval, in jeweils einer der vier Himmelsrichtungen. Auf der Mitte des Brettes war eine kleine schwarze Einkerbung. Mel zog ein kleines Messer hervor und hielt es über die Flamme einer Kerze.
„Zu guter Letzt“ sagte sie leise; „einen Tropfen reinen Blutes… sprich einer Jungfrau.“
Nacheinander blickten sie alle Emilia an.
Emilia sah aber nur gebannt auf das Brett, sodass sie das nur mit leichter Verzögerung bemerkte.
„Was seht ihr mich so- Oh NEIN! Vergesst es, ganz bestimmt nicht. Von mir bekommt ihr kein Blut. Am Ende bin ich noch verflucht oder so was!“ wehrte sie vehement ab und fuchtelte mit den Händen.
„Komm schon Lia! Von uns bist du die einzige, deren Blut wir nehmen können.“ Sagte Corrinn.
„Ach traust du dich nicht? Ich dachte du glaubst sowieso nicht an sowas?!“ sagte Mel mit herausforderndem Ton. Es sollte witzig klingen, aber Emilia war überhaupt nicht zu spaßen zumute. Sie hätte Mel viel lieber patzig angemault. Sie konnte das Gewicht der Drogen direkt spüren. Statt dass sie Mel Vernunft einprügeln konnte musste sie erst so ein bescheuertes Spiel spielen.
„Tu ich auch nicht.“ Glühte sie Mel so richtig schön passiv aggressiv an. Mel blinzelte schon wieder verwirrt, tja sie hatte immer noch keinen Plan was Emilia alles wusste.
„Äh..., na dann trau dich doch einfach. Sollte kein Problem sein oder?“ sagte Melica etwas verunsichert.
Nein, es hätte eigentlich kein Problem sein dürfen. Emilia glaubte nicht an Geister oder Gespenster oder sonst irgendetwas. Eigentlich glaubte Emilia an gar nichts. Weder an mystische Kräfte, esoterischen Hokuspokus noch an sonst irgendetwas übersinnlicher Natur. Sie glaubte nicht einmal an Gott oder Religion. Emilia glaubte das, was sie sah und an die Wissenschaft. Auf den Himmel vertrauen zu können, wäre so schön einfach, machte in ihren Augen aber keinen Sinn. Beten löste keine Probleme.
„Ja. Ist kein Problem. Na schön!“ Sagte sie abgehackt.
Widerwillig streckte sie die Hand aus. Sie hatte wenig Lust sich in den Finger ritzen zu lassen, das tat nämlich trotzdem weh. Sie wollte aber Mel nicht zugestehen, dass ihr das Holzbrett Angst machen könnte.
Es war ein kurzer schneller Schnitt in ihren Zeigefinger. Schon landete ein kleiner Tropfen ihres Dunkelroten Blutes in der schwarzen Einkerbung.
Mel wies sie an, sich an den Händen zu halten. Das Ganze hatte was von einer Kindergartengruppe, die gleich ein Lied zusammen singen würden.
„Schließt die Augen und Konzentriert euch. Ruft nach einer toten Seele. Spürt die Energien der Vergangenheit…“
„Hey GRANDMA-„brüllte Ben und alle zuckten vor Schreck zusammen.
„Nicht laut du Schwachkopf!“ Quakte Mel ihn von der Seite an: „In deinen Gedanken!“
„Achsoooo.“ Sagte Ben aufgeklärt. Alle bis auf Mel brachen in Gelächter aus.
„Oke oke, jetzt konzentriert euch!“ forderte Mel sie tadelnd auf. Na schön.
Alex neben ihr, konnte sich ein kurzes spöttisches Glucksen nicht verkneifen und auch Emilia tat sich schwer damit nicht verächtlich zu schnaufen. Nach wem sollte sie rufen? Hallo? Werter Toter Herr, möchten sie mir erzählen wie es dazu kam, dass sie die Radieschen von unten sehen. Schwachsinn. Eine ganze Weile saßen sie so da und Emilias Gedanken entglitten ihr. Fort von der Party, fort von Mel, fort von den Drogen.
Sie dachte nach. Über ihre Zukunft, ihre Wünsche und und und... und wie sehr sie sich eigentlich wünschte, dass sich nichts verändernd würde... Die Zukunft konnte einem Angst machen. Diesen Zeitpunkt hier in ihrem Leben einfrieren zu können, ewig jung zu sein, nie sich dem tatsächlichen Leben stellen zu müssen... das war eine Vorstellung die ihr gefallen würde.
Plötzlich schien sich etwas zu verändern, ein mulmiges Gefühl baute sich in Emilia auf. Ihre Magengegend begann zu flattern. Ihr Täschchen an ihrer Hüfte schien plötzlich viel mehr Gewicht zu haben und- und wurde das Ding etwa heiß? Sie fühlte wieder diesen Druck auf ihren Lungen als würde sie nicht mehr Atmen können. Plötzlich hatte sie das Verlangen, die blaue Skarabäuskette aus der Tasche zu holen und sich um den Hals zu legen. Denn dann würde sie wieder atmen können, dann wäre sie frei, dann wäre alles besser... Sie spürte wie Corrinn und Alex den Druck um ihre rechte und linke Hand genau im selben Moment verstärkten. Der Druck wurde immer stärker, die Luft immer schwerer und dann geschah – nichts!
Emilia öffnete ihre braunen Augen.
„Wow, Nichts! Das war der Wahnsinn… tolle Geschichte Mel“ sagte Alex gelangweilt.
Und mit seiner Aussage war jegliche gruselige Atmosphäre verschwunden. Corrinn fing an zu kichern und Ben versuchte in seinem Schneidersitz nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Langsam schien er wohl wieder nüchtern zu werden.
Mel zog erbost die Brauen zusammen, es gefiel ihr nicht von den anderen verspottet zu werden: "Ihr habt es gar nicht richtig versucht! Kommt schon konzentriert eu-" sie wurde von einem Geräusch abgelenkt.
Von draußen hörten sie Motorenlärm. Mel drehte blitzschnell den Kopf herum um durch die gläsernen Wände hinaus auf die Straße zu spähen. Einzelne Lichter sausten in der Dunkelheit vorbei. Sobald der Schwarm an Lichtern vorbeigezogen war, erstarben auch die Motorengeräusche - weil die Maschinen geparkt wurden. Motorräder.
Ungläubig sah Emilia auf Mel. Das war ein Scherz oder? Die Terrinotypen parkten gerade nicht wirklich auf der Straße neben Mels Haus oder?
Mel schnellte hoch und sauste ohne Erklärung zur Tür hinaus.
Emilia überkam leichte Panik, sie hatte den gestressten und verängstigten Ausdruck auf Mels Gesicht gesehen. Irgendetwas stimmte nicht.
Emilia überkam die pure Verwirrung; arbeitete Mel mit diesen Typen jetzt zusammen oder hatte sie Angst vor ihnen? Hatte Emilia die Sache auf dem Parkplatz gestern falsch interpretiert? Waren die Kerle jetzt hier um Stress zu machen? Wenn ja, weswegen?
Ben, Corrinn und Alex bekamen von alledem nichts mit und sahen Mel überrumpelt nach.
Alex war der erste der sich fing, galant aufstand und verkündete: "Wenn Mel sich einfach verzieht, kann ich mich anschließen. Falls ihr mich braucht, findet ihr mich bei dem kläglichen Versuch aus meiner Freundin schlau zu werden: Sie ist sauer und ich habe keine Ahnung wieso. Mal wieder. Ciao." Er strich seinen Anzug glatt und verschwand genervt durch die Glastür.
"Okay, was war das jetzt?" Drehte sich Corrinn sofort zu Emilia herum.
Emilia antwortete zögerlich: "Ich weiß es nicht. Sie führt sich schon die ganze Zeit seltsam auf." Das war gelogen, Emilia saß auf glühenden Kohlen. Sie wusste das gerade irgendein krummes Ding auf Mels Party ablief, weswegen waren die Typen sonst vorgefahren? Sie war zwar sauer auf Mel, wollt sie aber nicht noch mehr in Schwierigkeiten reiten. Außerdem musste sie die anderen schützen: sie würden sich Strafbar machen, wenn Emilia ihnen von den Drogen erzählte und dann aber keiner zur Polizei ging. Nein es war besser sie im Unklaren zu lassen. Corrinn sah Emilia kurz schweigend an. Leider war Corrinn viel zu schlau um sich etwas vorspielen zu lassen. Ihre Oberflächlichkeit war reine Tarnung, hinter der sich eine Intelligenzbestie versteckte. Sie wusste das Emilia log. Sie interpretierte es als ein Geheimnis zwischen Emilia und Mel. Was sie somit ausschloss. Verärgert stand sie auf. "Schön, dann ist ja alles paletti." Sagte sie säuerlich und bevor Emilia noch irgendetwas sagen konnte war sie davon gerauscht.
"Warum sind heute eigentlich alle so schlecht gelaunt?" Fragte Ben stöhnend und rieb sich die roten Augen, während er recht ungraziös mit Anzug im Schneidersitz saß. Aha, der war geistig anscheinend wieder anwesend.
"Ben, auf einer Skala von 1 bis 10, wie betrunken bist du?" Fragte Emilia, sie musste wissen wie aufnahmefähig er war.
"5" sagte Ben und sah sie müde an. Das war nüchtern genug. Emilia dachte nicht wirklich groß darüber nach: Diese Terrino Kerle waren vielleicht gefährlich. Sie brauchte Hilfe. Auch wenn Ben dadurch Strafrechtlich verfolgt werden konnte, musste sie ihm alles erzählen. Ben war stark, er würde sich zwar niemals prügeln, aber eine einschüchternde Statur genügte vielleicht schon um das Ganze zu deeskalieren. Außerdem liebte er Mel. Er würde also auf Mel aufpassen und die Sache mit den Drogen nicht verraten. Hoffentlich.
"Ben, hör mit jetzt mal ganz genau zu, ich muss dir was erzählen." Ihr eindringlicher Ton führte dazu das Ben hellwach war. Sie erzählte im von A bis Z alles, über die Auktion, über den Parkplatz und wer gerade draußen vorgefahren war. Noch während sie sprach, wusste sie, dass es keine gute Idee gewesen war ihn einzuweihen. Seine Miene verfinsterte sich zu einer düsteren Grimasse. Plötzlich war sich Emilia gar nicht mehr so sicher ob sich Ben niemals prügeln würde.
Ohne Vorwarnung sprang Ben auf: "Ich kümmere mich darum." Er schlug die Tür auf und verschwand mit energischen Schritten. Mist! Emilia folgte ihm auf dem Fuße:
"Ben, warte nein, ich-" doch er hörte ihr nicht zu, sondern beschleunigte seine Schritte und lief zur Eingangshalle des Hauses.
Na toll, sie wollte das Ben eine Eskalation verhinderte, jetzt sah es eher so als würde er sie verursachen. Emilia lief hinunter ins Erdgeschoss, sie musste endlich wissen was los war, jetzt oder nie! Also Mel, wo bist du?
Aus den Augenwinkeln nahm sie einen blutroten Farbklecks war, der gerade auf einen der Hinterausgänge zulief und nach draußen verschwand. Emilia raffte ihr silbernes Kleid hoch und legte trotz Higheels einen Sprint zur Hintertür hin (sie hätte jedem Sportler alle Ehre gemacht). Einige Partygäste, die es sich in der Küche gemütlich gemacht hatten, sahen ihr verwundert hinterher.
"MEL!" Brüllte sie lautstark als sie aus der Tür ins Freie platzte.
Ein roter Haarschopf, der gerade auf dem Weg zu einem Seitentor in der Gartenmauer war, sprang zu Tode erschrocken herum. Hä? Wollte Mel gerade abhauen?
"WAS?" Fragte sie gehetzt zurück. "Ach du bist es." Sagte sie und kam wieder zu Atem.
"Warum erschreckst du mich denn so?" Fragte sie bemüht unbekümmert. Sie versuchte sich ganz normal zu verhalten, doch sie scheiterte kläglich. Angespannt lief ihr der Schweiß über die Schläfen.
"Mel. Was ist hier los?"
Mel stellte sich dumm und sah sie verwirrt an. "Was meinst du? Was soll den los sein?"
"Ich hab dich gestern gesehen. Auf dem Parkplatz mit diesen Typen vor der Schule."
Mels Gesicht schien ihr kurz zu entgleiten
"Und?" Fragte sie mit undefinierbarer Stimme. Sie wusste nicht wieviel Emilia wusste und stellte sich weiterhin dumm. Emilia legte die Karten auf den Tisch.
Sie griff an ihre Tasche und holte den Schlüssel, die Kette und das Drogensäckchen heraus.
Mel gab keinen Mucks von sich. Sie bewegte sich nicht einen Millimeter während sie die Gegenstände anstarrte. Emilia konnte förmlich Rädchen in Mels Kopf rattern hören während sie fieberhaft nachdachte.
"Nichts?! Hast du dazu nichts zu sagen?" schnaubte Emilia.
"Wo hast du die Sachen her?" Fragte Mel mit Grabesstimme.
"Vollkommen egal! Warum hattest DU diese Sachen?!" Platzte es aus Emilia heraus.
Mel hob die Arme, beschwichtigend machte sie einen Schritt auf Emilia zu. "Lia, es ist nicht so, wie es aussieht."
"Tatsächlich? Weißt du nämlich wie es für mich aussieht? Drogen! Das ist gefährlich! Nicht nur für dich, sondern für alle die was davon mitkriegen könnten!"
„Das Zeug ist überhaupt nicht so gefährlich" sagte Mel ausweichend.
"Ich meine nicht deren Wirkung du Idiot! Ich meine was passiert, wenn dich irgendwer erwischt!" Emilia wurde richtig wütend. Sie bemühte sich dennoch leise zu sprechen, das hier sollte schließlich nicht jeder mitbekommen.
"Nein- die sind nicht-" nur ein paar abgehackte Wörter purzelten aus Mels Mund.
"Was? Die sind nicht für dich? Na dann stört es dich nicht, wenn ich das mache oder?!" Knurrte Emilia. Sie nahm das Drogensäckchen in ihre rechte Hand, riss es auf und katapultierte es in hohem Bogen in einen Gartenteich wenige Meter neben ihnen. "NEI-" rief Mel und griff dem Säckchen nach ins Leere. Es plätscherte und das weiße Pulver verteilte sich in dem dunklen Wasser. Die Hand immer noch erhoben drehte sich Mel mit entsetzten Gesichtsausdruck zu Emilia herum. Ihr Gesicht schien vor Wut rot anzulaufen.
"Was hast du getan? Bist du WAHNSINNING?" Brüllte Mel los.
"Nein Mel, Was hast DU getan!" Gab Emilia nicht minder wütend zurück.
"Ich wollte nur deine Kette zurückholen, du, du-" ihr schien kein passendes Schimpfwort einzufallen. Stattdessen stürzte sie plötzlich auf Emilia zu. Emilia stolperte überrumpelt ein paar Schritte zurück und hob die Hände schützend vors Gesicht. Sie hatte nicht damit gerechnet das Mel sie angreifen würde. Tat Mel auch nicht. Sie umschloss aber Emilias Hand und entwendete ihr die Skarabäuskette.
"Was du kannst, kann ich schon lange Lia!" Schnaufte sie wütend und warf die Kette ebenfalls ins Wasser.
Na und? Wollte Emilia ihr entgegen pfeffern, aber sie brachte die Silben nicht über die Lippen. Plötzlich fühlte es sich so an als ob ein Anker in ihrem Bauch versank und das schwere Gefühl auf ihren Lungen war wieder da. Sprachlos starrte sie auf den Teich. Bevor die Situation noch weiter ausufern konnte, hörten die beiden klirrende Geräusche aus der Villa. Beide wandten die Köpfe automatisch zurück zum Haus. Glas klirrte, irgendetwas war zerbrochen und laute Rufe hallten zu ihnen herüber. Das war kein Partygeschrei.
"Mist!" Fluchte Mel und lief zurück ins Haus.
"Was zum-?" Emilia folgte ihr so schnell sie konnte.
Mel war zu schnell im Haus verschwunden und Emilia verlor sie aus den Augen. Sie trat durch eine moderne Tür und stand in einem der unzähligen Hausflure von Dr. Salveters Villa. Durch welche weitere Tür war Mel jetzt gehuscht?
Emilia hielt inne und lauschte von wo die Geräusche kamen. Jemand hatte etwas zerbrochen und sich gestritten. Durch den Lärm, den die ausartende Party verursachte, konnte sie jedoch nichts anderes mehr hören. Brummende Musik und das trippelnde Tanzen der vielen Gäste schluckte alle anderen Geräusche.
Wahllos riss sie die nächstbeste Tür auf und geriet in ein selten benutztes Nebenzimmer. Bis auf ein paar teure Designermöbel von zweifelhaftem Geschmack war nichts zu sehen. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich eine weitere Tür. Emilia durchquerte rasch das schwach beleuchtete Zimmer darauf zu. Da schwang die Tür wie bei der Auktion, von selbst nach hinten auf und, ebenfalls wie bei der Auktion, stolperte sie in einen Kerl hinein. Einen blonden jungen Kerl. Erschrocken tapste Emilia wieder einige Schritte zurück. Sonnenblondes Haar fiel ihm in die Stirn und er trug seine schwarze Motorradjacke.
„Ups, falsches Zimmer.“
Diesen Blondschopf hatte Emilia mehr als einmal gesehen:
"DU! Was zum Teufel willst du hier?" Fragte sie ihn übermäßig feindselig (viel feindseliger als es für sie üblich war, selbst bei einem Dieb).
Der Blondschopf dagegen erkannte sie nicht und zog spöttisch eine Augenbraue hoch.
"Tut mir leid Prinzessin, aber ich merke mir nicht jedes eurer Gesichter.“ Grinste er selbstgefällig. Er sah ziemlich, ziemlich gut aus. Was er wusste, denn er strahlte die pure Arroganz und Selbstsicherheit aus. Emilia hatte nicht vor sich einschüchtern zu lassen.
"Du bist dieser Dieb der mir meine Kette von der Auktion gestohlen hat! Was wollen du und deine Drogendealer Freunde hier? Das ist eine Privatveranstaltung, ohne kriminelles Terrino-Gesindel.“ Fauchte sie bissig. Ihre ganze angestaute Wut entlud sich auf den Typen. Naja er war auch irgendwie ursächlich für den ganzen Schlamassel. Es war ihr momentan egal, dass sie die Bewohner eines gesamten Stadtteils auf ihren gesellschaftlichen Status dezimierte. Etwas, dass sie unter gewöhnlichen Umständen niemals tun würde. Die Aura des Jungen hatte einfach etwas an sich, dass sie reizte. War es seine Arroganz oder seine Selbstgefälligkeit: Sie wusste es nicht, aber sie wollte das er wütend wurde und ihm das selbstgefällige Grinsen aus dem Gesicht fiel. Etwas in ihr wollte ihn provozieren.
Da blickte er ihr zum ersten Mal direkt in die Augen. Emilia erschauderte innerlich. Seine Augen waren... selten hatte sie so dunkle, katzenhafte Augen gesehen. Eigentlich waren sie schwarz und bildeten dadurch einen strengen Kontrast zu seinem hellen Haar. Sie waren kalt und hart, dennoch saß ein glänzender, hämischer Schalk in ihnen und ein loderndes Feuer brannte dahinter.
„Terrino-Gesindel?“ fragte er auf einmal gefährlich süß. Er kam einen Schritt näher und legte den Kopf schief. Emilia wich leicht zurück. Die Luft kühlte plötzlich um zehn Grad ab. Ihr stellten sich die Nackenhaare auf.
„Oh wir werden doch wohl keine Angst haben? Wir bösen Nachbarn wollten nur ein bisschen Spaß mit euch haben.“ Höhnte er voller Spott.
„Seht zu, dass ihr verschwindet oder ich rufe die Polizei.“ Sagte Emilia mit fester Stimme, wich jedoch noch ein Stückchen zurück.
„Du hältst dich für so viel besser als wir nicht wahr? Los mach doch kleines Mädchen, ruf die Polizei. Deine kleine rothaarige Freundin kann uns dann gleich begleiten." Grinste er böse.
Unsicherheit huschte kurz über Emilias Gesicht, was dem Blondschopf nicht entging.
"Ach wusstest du das nicht? Wir sind von ihr eingeladen worden. Die Rothaarige hat nämlich noch ein paar Schulden zu begleichen." Er schien es zu genießen wie sehr er Emilia verunsicherte.
"Tja das kommt davon we-"doch weiter kam er nicht. Schreie drangen durch die Türen. Emilia erkannte Bens Stimme und der Blondschopf schien auch jemanden an der Stimme zu erkennen. Schon ließ er Emilia stehen und flog zur Tür hinaus. Emilia folgte ihm auf dem Fuße. Das unfreiwillige Duo platzte mitten hinein in ein kleines Spektakel. Emilia hatte recht behalten. Alle Terrinotypen die sie gestern am Parkplatz gesehen hatte, waren auf Mels Party aufgetaucht. Sie standen auf dem schwarzen Perser Teppich vor der Haustür.
Ben hatte die Drogendealer ausfindig gemacht und sie vor allen anderen angeprangert. Er wollte sie mit dem kollektiven Willen aller vertreiben. Melica stand verzwickt daneben und hatte keinen Plan was sie jetzt tun oder lassen sollte. Sie wollte nicht zeigen, dass sie etwas mit den Kerlen zu tun hatte. Schon gar nicht neben dem großen Publikum an Partygästen.
Emilia trat angespannt der Schweiß auf die Stirn. Sie hätte Ben nichts davon erzählen sollen. Er brachte erst recht einen Radau rein. Bezüglich Mel war der Typ einfach nicht berechenbar. Betrunken zu sein war seiner Zurechnungsfähigkeit ebenfalls nicht förderlich. Er stand in vorderster Front und brüllte einen nicht minder großen schwarzhaarigen an.
„Ihr scheiß Terrino Dreckskerle! Haut ab ihr Abschaum!“ brüllte er. Dank des Alkohols bracht er nicht einmal den Satz gerade heraus. Happig wurde die ganze Sache als er sein Gegenüber zu Boden schubste. Ben war zwar betrunken, aber ein Berg an Muskeln, war immer noch ein Berg an Muskeln. Der Alkohol verursachte bloß, dass seine angesoffene Kraft schwerer zu kontrollieren war.
Wie auf Stichwort trat der Blondschopf dazwischen. „Was hast du gesagt?“ knurrte er.
Er trat demonstrativ nah an Ben heran.
„Hast mich schon verstanden, Abschaum“ murrte Ben. Er überragte den Blonden zwar um ein paar Zentimeter, aber unter dessen eisigen Blick, büßte er Selbstsicherheit ein.
„Du nennst mich Abschaum? Und was bist du? Was bist du ohne das Geld deines Papis?!“ zischte er. Es war für ihn nicht nötig laut zu sprechen. Das leise Droh geschwellte Zischen verfehlte seine einschüchternde Wirkung nicht.
Ben wollte zum Schlag ausholen, doch jemand hielt seinen Arm zurück. Es war Emilia, unterstützt von Corrinn, die sofort zu ihrer Seite war.
„NICHT!“ sagte sie bestimmt. Emilia trat vor Ben und legte ihm beschwichtigend aber hartnäckig die Hände auf die Schulter.
„Lass Gut sein Ben.“ sprach sie eindringlich, blickte dann zu dem Blondschopf und wiederholte: „Er ist es nicht wert!“
Der Blonde musterte sie verächtlich und durchbohrte sie mit seinen schwarzen Augen.
Corrinn trat ebenfalls vor: “Ich habe gerade die Polizei gerufen! Verschwindet wenn ihr nicht im Knast landen wollt.“
Der Blonde schenkte ihr keinerlei Beachtung, drehte sich einfach um und ging. Ohne weitere Worte zogen sich der Trupp zurück und marschierten aus dem Haus.
Mel drehte sich blitzschnell zu Corrinn herum: "Hast du wirklich die Polizei gerufen?" Fragte sie atemlos.
"Ja, wieso?" antwortete Corrinn und zog die Brauen zusammen.
Emilia sah zu wie Mel in Panik geriet, herumwirbelte und Hals über Kopf hinaus in den Garten lief.
"Warte MEL!" rief Emilia. Was hatte Mel den jetzt schon wieder vor? Sie hatte es satt ihr hinterher zu laufen, als wäre sie ein Hund und Mel ein Stöckchen. Trotzdem folgte sie ihr hinaus.
Der Garten der Salveters war überdimensional groß. Dementsprechend konnte man sich hervorragend verstecken. Vor allem um drei Uhr morgens, wenn alles dunkel und finster war und eine laute Party im Haus für Getöse sorgte (Wobei, dadurch dass Corrinn die Polizei gerufen hatte, war die Party sicherlich gerade dabei sich aufzulösen).
Emilia stand auf der großen Terrasse und sah sich um, die hell erleuchteten Fenster spendeten ihr Licht. Alles außerhalb der Lichtkegel war pechschwarz. Die kühle Nachtluft umkräuselte ihre Nase und kühlte ihre aufgeheizte Stirn. Es roch nach feuchtem Gras und ein paar Grillen zirpten ihre Takte.
Sie hörte ein knirschendes Geräusch und sah einen Fetzen Tüll aufblitzen der gerade an einem Busch vorbei huschte. Wollte Mel jetzt weglaufen oder was? Sehr sinnig. Dachte Emilia sarkastisch und eilte ihr sofort hinterher in die schwarze Nacht. „Mel!“
"Komm schon Mel, ich kann dich sehen, hör auf davonzulaufen!" Schnaufte sie, während sie dem roten Haarschopf folgte der vor ihr davon hüpfte. Ab und zu wurden sie vom silbrigen Mond beschienen.
Mel wurde immer schneller, seit wann konnte sie so schnell rennen? Außerdem lief sie merkwürdig. Sie bog nach links und rechts, lief unter Ästen hindurch und wurde dabei so schnell, dass Emilia nur mehr hin und wieder ihre Haare sehen konnte.
Emilia sah sie ruckartig nach rechts abbiegen. Eigentlich dachte sie, dass sie Mels Garten recht gut kannte, aber jetzt hatte Emilia die Orientierung total verloren. Wie groß war das Anwesen bitteschön? Bei Tage war eben doch alles anders. Sie konnte das Haus in der Dunkelheit gar nicht mehr sehen und ihr ging allmählich die Puste aus. Sie wollte Mel gerade um die Kurve folgen, da musste sie eine Notbremsung einlegen. Sie stand vor einer Tür. Sie waren am Rand des Grundstücks angelangt und vor Emilia erhob sich eine hohe Betonmauer. Direkt vor Emilia befand sich in dieser Mauer eine Tür. Eine dunkle, unscheinbare Metalltür.
Emilia kannte Mels Garten, sie war hier praktisch aufgewachsen, und sie hatte noch nie eine Tür in dieser Mauer gesehen. War die neu? Sie sah nicht neu aus, nein, sie schien sogar zu rosten.
"Mel?!" Fragte Emilia zaghaft und stupste die Tür zart an. Sie schwang sofort auf und dahinter war nichts außer schwarze Dunkelheit. Tief schwarze und unheilschwangere Dunkelheit. Emilia lauschte, wie seltsam, dass sie die Geräusche des Hauses gar nicht mehr hören konnte. Ein plötzliches und ziemlich nahes Kichern ließ sie entsetzt zusammenzucken. "Mel! Hör auf, das ist nicht lustig!" Rief Emilia. Sie war sich sicher, dass Mel gekichert hatte um sie gelungener Maßen zu erschrecken, also... ziemlich sicher.
"Mel?" Fragte sie, nun leicht verunsichert. Ok, das war doch irgendwie gruselig und unbehaglich trat sie von einem Fuß auf den anderen.
Es kicherte erneut, das war für Emilia Antwort genug und sie trat durch die Tür. Ein heftiger Windstoß blies ihr durch das lange braune Haar und mit einem Rums ließ der die Tür zufallen. Eisig erschrocken fuhr Emilia herum. Sie wollte die Tür wieder aufstoßen, doch von dieser Seite aus hatte die Tür keine Klinke. Ganz ruhig, ihre Nerven spannten sich unangenehm an. Sie stand jetzt nur in der Dunkelheit, auf einem unbeleuchteten Weg, in unbekannter Umgebung, mit dem Mond als einzige Lichtquelle. Alles war in Ordnung, alles war okay, alles war nicht gruselig. Ein kleines Mantra, dass Emilia in ihrem Kopf wiederholte, während sie sich an den Armen rieb. Sie hörte Schritte. Das musste Mel sein. Sie nahm einen roten Schimmer aus den Augenwinkeln wahr, der im Dunklen verschwand. Zaghaft bewegte sich Emilia vor und folgte dem Geräusch der Schritte. Die Tür war zu, zurück konnte sie so oder so nicht mehr.
"Melica, das ist echt nicht mehr witzig! Ich werde die Sache von vorhin auch erstmal ruhen lassen okay?!"
Als Antwort kam wieder nur Mels komisches Kichern hinter den Bäumen hervor. Ihre Schritte setzten erneut ein und Emilia folgte widerstrebend ihrem Klang, was sollte sie sonst tun. Die Stille bekam etwas Erdrückendes. Das spärliche Licht des Mondes tunkte alles in noch schaurigere Schatten. Emilia konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Dementsprechend kam sie nur langsam voran. Das Plätschern von Wasser drang an ihre Ohren. Moment mal, waren sie etwa an den Dharlingfluss gelangt? Wie konnte das sein, der befand sich ein paar Kilometer von Mels Villa entfernt.
Die Bäume lichteten sich und gaben den Blick auf den breiten Fluss direkt vor Emilia frei. Wo zum Henker war sie da gelandet? Wilde Wassermassen strömten in dunklen Tiefen vorwärts. Sie sah eine alte klapprige Brücke, so schmal, dass höchstens ein Mensch auf einmal sie passieren konnte. Auf der Mitte der Brücke stand eine dunkle Gestalt. Bei dem Anblick sackte ihr das Herz kurz in die Hose, das sah einfach viel zu gruselig aus.
"Melica?" Fragte Emilia zaghaft, während eine Gänsehaut ihre Arme hochkroch. Da setzte sich die Gestalt in Bewegung und überquerte die Brücke aufs anderer Ufer.
Emilia starrte ihr hypnotisiert nach. Sie hatte diese Brücke noch nie zuvor gesehen, geschweige denn von ihr gehört. Das Teil schien mehr als nur instabil zu sein. Sie kannte viel zu viele Geschichten von Menschen die in den Strömungen des Dharlingflusses ertrunken waren. Nichtsdestotrotz war sie so hypnotisiert von Mels eigenartigem Verhalten, dass sie ihr über das Klappergestell folgte. Wohlwissend tödliche, nasse Massen unter sich zu haben. Auf der anderen Seite befand sich eine Ziegelstein Mauer und sie sah sehr, sehr alt aus. Emilia sah wie die Gestalt von Mel sich bückte und in der Mauer verschwand. Ok, was?!
Emilia beschleunigte zu der Stelle. In der Mauer befand sich eine winzige, offenstehende Tür, gerade groß genug für ein Kind. Sie war aus Holz, mit Pflanzen überwuchert und mit Spinnenweben behangen. Sie hatte sogar ein altes lädiertes Schloss, aber es war aufgebrochen.
Sie quetschte sich durch die kleine Tür und schlüpfte hindurch in den wundervollsten Garten den Emilia je gesehen hatte. Nachdem sie ein paar Äste beiseitegeschoben hatte, überblickte sie die mondbeschienene Landschaft. Die Natur hatte sich über all die Jahre hinweg ihr Gebiet zurückerobert. Pflanzen und Blüten rankten sich über längst vergessene Statuen und zerbrochene Büsten.
Ein richtiger mystischer Garten. Mit ihrem Ballkleid schleifte sie über die erdigen Steine im Boden. Auch wenn es ein bezaubernder Garten war, so lief es Emilia doch eisig den Rücken hinab. Die Schönheit verschmolz in der Finsternis mit einer gewissen Schaurigkeit. Es war ihr als würde sie Regungen in den Schatten der Bäume wahrnehmen. Bestimmt nur Einbildung.
So bahnte sie sich den Weg durch den schönen, schaurigen Garten, bis sie vor einer Villa stand. Emilia erkannte diese Villa sofort. Sie hatte sie auf unzähligen Fotos und Unterlagen ihrer Mutter gesehen, das war die Morelli Villa. Ein Bauwerk vergangener Pracht. Sie befand sich auf dem sagenumwobenen Anwesen der Verstorbenen Familie Morelli. Ein mehrere Hektar großes Anwesen, das eigentlich nicht sehr nah an Dr. Salveters und Mels zu Hause lag. Emilia betrachtete das alte Gemäuer, vor lauter Staunen entging ihr gänzlich das Mels nirgends mehr zu sehen war.
Es war eigentlich kaum zu glauben, dass eine fast vergessene, altmodische Welt in ihrer Nachbarschaft existierte. Das Haupttor war immer verschlossen und eigentlich gab es keine bekannten Seiteneingänge, aber wer wusste das bei so einem riesigen Stück Land schon so genau. Emilia fragte sich gerade wie es im inneren des Hauses aussah. Sie blickte hoch zu den ausladenden Steinstufen die zu der schweren Eingangstür führten.
Plötzlich fühlte sie sich beobachtet. Mulmig wurde ihr wieder klar, dass sie eigentlich Mel verfolgte.
Nein, hier war alles viel zu merkwürdig. Es war besser zu verschwinden. Ein Knarren ließ sie erstarrt aufhorchen.
Die Eingangstür der Morelli Villa stand offen. War die gerade aufgegangen? War Mel das? Sollte sie nachsehen? Nein - alt, staubig, gebrechlich, baufällig, gruselig... noch mehr Adjektive fielen ihr ein und sie schüttelte den Kopf. Ein Schimmern erregte ihre Aufmerksamkeit und ließ sie widerstrebend nähertreten. Emilia klappte der Mund auf. Nein, das konnte nicht sein, oder?! Sie stand vor den Steinstufen, und sah hoch hinauf zur Eingangstür. Ihr Blickwinkel reichte aus um in das Innere des Hauses hineinspähen zu können, auf den dunklen Eingangsflur. Dort mitten im einsamen Strahl des Mondes der durch die leicht geöffnete Tür fiel, sah sie ein blau schimmerndes, glänzendes Etwas. Ein kleiner Gegenstand der eigentlich auf dem Grund von Mels Teich liegen musste.
Emilias glänzend blaue Skarabäuskette.
Sie musste sich das genauer ansehen und erklomm gegen jede Vernunft die alten, mit Efeu überwachsenen Stufen. Sie spähte in das pechschwarze Innere des Hauses.
"Hallo?" Rief sie zögerlich, doch ihre Stimme wurde vom Haus verschluckt. Sie holte Luft, sah auf die Kette, die nur zwei Meter vor ihr auf dem Boden lag und betrat das ehrwürdige Haus Morelli. Etwas lag in der Luft, kalter Schweiß lief ihren Rücken hinab. Ihr Instinkt wollte ihr etwas mitteilen; sie sollte nicht hier sein. Wie in Zeitlupe machte sie einen Schritt, ging in die Hocke und streckte sich nach der Kette aus. Sie würde sich das Ding schnappen und verschwinden, sie war gleich wieder weg. Just in dem Moment da sich ihre Finger um die Kette schlossen, gab der Boden nach.
Ein krachte bodenerschütternd und Emilia brach durch die morschen alten Dielen. Sie schlug die Hände über den Kopf als sie durch die Dunkelheit und das Holz fiel. Sie schlug hart auf kaltem Boden auf und winzig kleine Holzsplitter bohrten sich in ihre Haut. Der Aufprall presste die gesamte Luft aus ihren Lungen. Unter tränenden Augen versuchte sie nach Luft zu schnappen. All der Staub und das Holz in der Luft brachten sie zum Husten. Sie richtete sich auf und versuchte verzweifelt etwas zu sehen, um zu erkennen wo sie gelandet war. Der Boden auf dem sie lag fühlte sich an wie rauer Steinboden. Sie war in den Keller des Morelli Anwesens gestürzt. Der Staub legte sich und Emilia sah einen einzelnen dünnen Mondstrahl, der aus weiter Entfernung zu kommen schien. Der Schock saß zu tief in ihren Knochen, als dass sie die Schmerzen des Aufpralls gespürt hätte. Es war ein Wunder, dass sie sich nichts gebrochen hatte, vielleicht spürte sie, dass aber auch nur noch nicht.
Auf wackligen Beinen stand sie auf, um dem Mondlicht entgegengehen, als etwas Merkwürdiges ihre Aufmerksamkeit erregte.
Der silbrige Strahl fiel auf etwas Rundes, glattes das weiß glänzte. Emilia kam näher und nahm das merkwürdige Glänzen in Augenschein. Ihre Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit und die Konturen des Gegenstandes kamen klarer hervor.
Es war ein Totenschädel; besser gesagt ein ganzes Skelett, das aus der Wand hing. Es war ein kleines Skelet. Vielleicht das eines Kindes.
Anstatt zu Tode zu erschrecken und instinktiv zurück zu weichen, hatte Emilia auf einmal den Drang den Arm aus zu strecken und es zu berühren. Bildete sie es sich ein, oder hörte sie ein zischelndes Geräusch in der Dunkelheit. Es wurde immer lauter, bis es sich zu flüsternden Stimmen entfachte. Ihr Arm bewegte sich plötzlich wie von selbst. Sie streckte ihren noch immer blutigen Zeigefinger aus und je näher sie dem Schädel kam desto mehr dröhnten ihr die Ohren. Sanft strich sie die Linie des Mondlichtes nach, befühlte die glatte Oberfläche des Schädels. Sie hinterließ eine dünne rote schlierige Spur und plötzlich waren die Stimmen verstummt.
Emilia kam wieder zur Besinnung und zog rasch die Hand weg. Entgeistert starrte sie auf ihre Finger; wieso hatte sie das getan? Etwas in ihr meldete sich: Raus hier. RAUS HIER! Brüllten alle ihre Sinne. Die Schatten schienen auf einmal alle nach ihr zu greifen. Mit ihren klauenartigen Armen reckten sie sich nach ihr und wollte sie zurück ziehen in die Finsternis. Sie sah es zwar nicht, aber sie wusste, dass da etwas war vor dem sie fliehen musste! So schnell wie möglich!
Sie hastete in wilder Raserei dem Licht entgegen. Blind links stolperte sie über Geröll und Gestein, schabte sich an Mauern die Arme auf und floh. Weg von dem Grauen, dass ihr an den Fersen hing und sie immer weitertrieb. Sie lief zu einem mit Brettern vernageltem Ausgang durch deren Spalten das Mondlicht drang. Sie schmiss sich einfach dagegen, das morsche Holz gab nach und sie barste ins Freie hinaus. Die kühle Nachtluft schlug ihr entgegen und ihr Verfolgungswahn jagte sie durch den Garten. Äste und Gebüsch zerkratzten ihr das Gesicht. Ranken und Flechten knickten ihre Knöchel und sie stürzte in einen Teich. Es musste grotesk aussehen; ein Mädchen, das in einem durchnässten Ballkleid durch den Wald hetzte. Der Garten spuckte sie bei dem hohen Haupttor des Morelli-Anwesens aus. Das eiserne Tor sprang wie von Zauberhand auf als sie darauf zu stürmte. Abrupt hielt sie inne. Als sie über die Schwelle des Anwesens hinaustrat, fiel die Panik einfach von ihr ab.
Sie stützte für einen Moment die Hände auf den Knien ab und holte schwer Luft. Sie wischte sich mit dem Handrücken die schweigetränkten Haare aus der Stirn. Was zum Teufel ging hier vor?
Ein paar Autos fuhren vorbei und die ruhigen Geräusche der Nacht umfingen sie und beruhigten ihren Herzschlag.
Die Sammlungsphase war ihr jedoch nur kurz gegönnt. Das donnernde Motorengeräusch und die Vibration unter ihren Füßen kündigten neues Unheil an. Emilia konnte das kegelförmige Licht gerade rechtzeitig erspähen um sich haarscharf von der Straße zu retten.
Ein Motorrad schoss mit der Geschwindigkeit einer Feuerwaffe an ihr vorbei. Es raste auf die Gegenfahrbahn und kollidierte mit einem anderen Auto. Wie ein Spielzeug umschlug sich das Motorrad, während der andere Fahrer panisch einfach davonfuhr. Das Motorrad krachte an einen Baum. Maschinenteile segelten durch die Luft und schließlich kam es zur Ruhe.
Emilias Herz hatte ausgesetzt. Sie stand einfach nur da und sah zu wie ein Reifen des Motorrades an ihr vorbeirollte. Dann handelte Emilia aus reinen Impulsen heraus. Das Adrenalin floss wieder und füllte ihre Ohren mit Rauschen. Sie gelangte bei dem Motorrad an ehe sie sich bewusst war, dass sie über die Straße gerannt war. Es rauchte schwarz und Emilia konnte Benzin riechen. Kein gutes Zeichen. Schnell versuchte sie auszumachen ob der Fahrer noch lebte bzw. ob sie ihm noch helfen konnte. Sie fand ihn; der schwarze Helm lugte unter seiner Maschine hervor. Er war zwischen der Maschine und dem Baum eingeklemmt. Blut konnte sie keines erkennen, dafür sah sie aber wie sich seine Brust hob und senkte. Er lebte! Schnell ging sie um die Maschine herum. Sie musste ihn hervor zerren bevor das ganze Ding in die Luft flog. Man sollte Unfallopfer wegen eventueller innerer Verletzungen nicht bewegen, aber es war vermutlich auch nicht förderlich für seine Gesundheit in tausend Einzelteile zerfetzt zu werden.
Sie packte ihn an den Schultern und zog, doch sein Bein klemmte fest und sie bekam es nicht los. Komm schon! Fluchte sie innerlich, das musste schneller gehen. Sie fand einen Stock, schob ihn unter die Maschine und presste mit aller Kraft dagegen. Sie konnte das Motorrad zwar nicht wirklich anheben, doch es verrutschte leicht. Das war genug, sie konnte den Fahrer unter dem Motorrad hervorziehen. Es war zwar unmenschlich anstrengend, aber es ging. Sie schleifte ihn so weit wie sie konnte, bis sie am Rande der Straße neben einem Baum zusammenklappte. Sie lehnte den Fahrer gegen den Baum und fühlte seinen Puls. Sie klappte den Schutz seines Helmes auf um zu sehen ob er irgendwelche Verletzungen im Gesicht erlitten hatte. Sie traute sich nicht seinen Helm ganz abzunehmen, falls er eine Gehirnerschütterung oder so hatte. Plötzlich stöhnte der Kerl, krümmte den Bauch und erlangte wieder das Bewusstsein.
„Kannst du mich hören? Bist du verletzt?“ fragte Emilia eindringlich.
Ein sehr kaltes, schwarzes Augenpaar sah sie an.
„Du?“ krächzte der Fahrer. Er blickte zurück und sah sein demoliertes Motorrad.
„Aber… aber warum hast du mich gerettet?“ fragte er mit kratziger Stimme. Emilia wusste nicht wieso aber er spie ihr diese Frage aggressiv ins Gesicht.
„Ich… Das hätte jeder getan!“ sagte sie verdattert.
Mit einer ohrenbetäubenden Wucht explodierte das Motorrad und beide fuhren hoch. Dann wandte er ihr wieder den Blick zu. Er stierte sie immer noch bösartig an, dann bekamen seine harten Augen einen anderen Ausdruck.
„Ich schulde dir was.“ Sagte er mit Grabesstimme, während die Hitze der Flammen, selbst bei der Entfernung, über ihre Gesichter leckte.
„Was? Nein…das war doch-“
Sirenengeheul schnitt ihr das Wort ab. man hatten den Unfall bemerkt. Der Junge sprang auf und wollte anscheinend verschwinden.
„Wo willst du hin? Du musst ins Krankenhaus!“ sagte Emilia und packte ihn am Arm.
Er sah sie abschätzig an. „Mir geht es gut und ich werde nicht auf die Polizei warten.“ Dann riss er sich ruckartig los und war einfach auf und davon.
Emilia hatte noch nie ein so undankbares Unfallopfer erlebt! Er sollte sich glücklich schätzen, dass er noch lebte. Sie ging einer Begegnung mit der Polizei aber lieber auch aus dem Weg. Sie hatte keine Lust in Erklärungsnot zu geraten und irgendwie auf das Thema Drogen zu sprechen zu kommen. Letztendlich hatte das dafür gesorgt, dass sie hier gelandet war. Dieser Teil der Straße hier war aber relativ weit weg vom Schlag. Zu den nächsten Siedlungen dauert es beinahe einundeinhalb Stunden zu Fuß. Man musste die vielen Hektar des Anwesens umgehen. Der einzige schnelle Weg, war der den sie genommen hatte; eben durch das Anwesen. Emilia hatte nicht vor, in ihrem Leben jemals wieder auch nur einen Fuß auf dieses Anwesen zu setzten. Also machte sie sich auf den Weg und betete inständig, dass ein Taxi ihren Weg kreuzen möge.