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Neunter Brief.
Von Julie.

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Inhaltsverzeichnis

Ich verstehe: die Genüsse des Lasters und die Ehre der Tugend — so möchten Sie sich's gern bereiten, Ist das Ihre Moral? .... Ei, mein Freund, Sie sind der Großmuth gar schnell überdrüssig worden. War denn Alles nur Kunst und Verstellung? Seltsamer Beweis von Liebe, sich über meine Gesundheit zu beklagen! Hofften Sie vielleicht darauf, sie durch meine tolle Liebe endlich ganz zerstört zu sehen, und erwarteten nur den Augenblick, da ich mir das Leben von Ihrer Gnade erbitten würde? Oder waren Sie darauf gefaßt, mich so lange in Ehren zu halten, als ich zum Furchtmachen wäre, Ihr Wort aber zurückzunehmen, sobald ich leidlich würde? Ich sehe in dergleichen Opfern kein Verdienst, das so sehr der Rede werth wäre.

Mit eben so großem Rechte machen Sie mir einen Vorwurf daraus, daß ich Ihnen schmerzliche Kämpfe mit sich selbst erspare, als ob Sie mir nicht vielmehr dafür Dank schuldig wären. Dann sagen Sie sich von der übernommenen Verpflichtung los wie von einer zu schweren Bürde; dergestalt beschweren Sie sich in dem nämlichen Brief darüber, daß Sie zu viel, und darüber, daß Sie zu wenig zu leisten haben. Ueberlegen Sie besser, was Sie sagen, und suchen Sie mehr Uebereinstimmung in Ihre eigenen Gedanken zu bringen, damit nicht das, was Sie zu leiden vorgeben, einen so unwahrscheinlichen Anstrich habe; oder vielmehr lassen Sie diese ganze Heuchelei, die nicht in Ihrem Charakter liegt. Was Sie auch sagen mögen, Ihr Herz ist zufriedener mit dem meinigen, als es sich stellt: Sie wissen nur zu gut, undankbarer Mensch! daß es Ihnen nie Leides thun kann. Ihr Brief selbst straft Sie Lügen durch seinen aufgeweckten Styl, und Sie würden nicht mit so vielem Geist schreiben, wenn Sie nicht ruhig genug wären. Schon zu viel über die leeren Vorwürfe in Betreff Ihrer selbst; nun zu denen, welche mich betreffen und welche auf den ersten Blick gegründeter scheinen.

Ich fühle es wohl, das sanfte, stille Leben, das wir seit zwei Monaten führen, stimmt nicht zu meiner früheren Erklärung, und ich gestehe, daß Sie nicht ohne Grund von dem Abstande überrascht sind. Sie haben mich zuerst in Verzweiflung gesehen, jetzt finden Sie mich zu ruhig; daher klagen Sie meine Gefühle der Unbeständigkeit und mein Herz der Launenhaftigkeit an, O Freund, richten Sie nicht zu strenge? In einem einzigen Tage ergründet man ein Herz nicht. Geduld, und Sie werden vielleicht finden, daß dieses Herz, das Sie liebt, des Ihrigen nicht unwerth ist.

Wenn Sie es fassen könnten, mit welcher Seelenangst ich die ersten Regungen des Gefühls empfand, das mich Ihnen verbindet, so würden Sie die Verwirrung begreifen, in die es mich stürzte: ich bin in so strengen Grundfätzen auferzogen, daß mir die reinste Liebe schon das äußerste Maß der Entehrung schien. Alles belehrte mich oder machte mich glauben, daß ein feinfühlendes Mädchen bei dem ersten zärtlichen Worte, das sich aus seinem Munde stiehlt, verloren sei; meine aufgeschreckte Einbildungskraft verwechselte Schuld und das Geständniß meiner Leidenschaft mit einander; und dieser erste Schritt erschien mir in meiner Vorstellung so entsetzlich, daß ich von ihm bis zu dem letzten kaum einen Zwischenraum gewahrte. Der außerordentliche Mangel an Selbstvertrauen, den ich empfand, vergrößerte meine Furcht; der innere Kampf der Bescheidenheit schien mir ein Kampf der Schamhaftigkeit; die Qual des Verschweigens nahm ich für die Heftigkeit der Begierden, Ich hielt mein Verderben für gewiß, sobald ich sprechen würde, und doch mußte ich sprechen oder Sie ins Verderben rennen lassen. So nun, da ich meine Gefühle nicht länger verbergen konnte, suchte ich die Ihrigen zur Großmuth anzuspornen, und indem ich mich mehr auf Sie als auf mich verließ, wollte ich dadurch, daß ich Ihnen meinen Schutz zur Ehrensache machte, mir Hülfsquellen sichern, die ich in mir selbst nicht zu besitzen glaubte.

Ich habe erkannt, daß ich mich irrte; kaum hatte ich gesprochen, so fühlte ich mich erleichtert; kaum hatten Sie geantwortet, so fühlte ich mich vollkommen ruhig, und die Erfahrung dieser zwei Monate hat mich belehrt, daß mein zu zärtliches Herz der Liebe, nicht aber meine Sinne des Liebhabers bedürfen. Urtheilen Sie nun, der Sie die Tugend lieben, mit welcher Freude ich diese glückselige Entdeckung machte. Befreit aus diesem Abgrunde der tiefsten Beschämung, in den mich meine Angst gestürzt hatte, schmecke ich nun die selige Lust einer reinen Liebe. Dieser Zustand ist das Glück meines Lebens; meine Stimmung, meine Gesundheit spüren es. Ich kann mir kaum einen süßeren denken und dieser Verein von Liebe und Unschuld dünkt mich das Paradies auf Erden zu sein.

Seitdem habe ich Sie nicht mehr gefürchtet, und wenn ich es sorgfältig vermied, mit Ihnen allein zu sein, so geschah das ebensowohl Ihretwegen als meinetwegen; denn Ihre Augen und Ihre Seufzer verriethen mehr Trunkenheit als Besonnenheit; und wenn Sie das Gesetz vergessen hätten, das Sie selbst aufgestellt haben, ich würde es nicht vergessen haben.

Ach, mein Freund, warum kann ich Ihnen nicht dieses Gefühl seligen Friedens mittheilen, das mein Herz erfüllt; warum kann ich Sie nicht lehren, des köstlichsten Zustandes, den das Leben hat, in Ruhe genießen! Die Reize der Herzensgemeinschaft vereinigen sich uns mit denen der Unschuld; keine Furcht, keine Schande stört unser Glück; im Schoße aller Liebeswonne können wir von der Tugend sprechen, ohne zu erröthen,

E v' è il piacer con l'onestade accanto. [Und die Luft ist mit der Sittsamkeit im Bunde".] Ich weiß nicht, welche bange Ahnung in mir aufsteigt und mir zuruft, daß wir jetzt der einzigen glücklichen Zeit genießen, welche uns der Himmel bestimmt hat. Ich sehe in der Zukunft nichts als Trennung, Stürme, Unruhe, Widersprüche: die kleinste Aenderung unserer gegenwärtigen Lage scheint mir nur ein Unglück sein zu können. Nein, wenn ein noch süßeres Band uns je vereinigte, so weiß ich nicht, ob das Uebermaß des Glückes nicht bald dessen Untergang sein würde. Der Augenblick des Besitzes ist ein Wendepunkt in der Liebe und jeder Wechsel droht der unsrigen Gefahr; wir können dabei immer nur verlieren. Ich beschwöre dich, mein theurer, einziger Freund, suche die Trunkenheit der eiteln Wünsche zu bemeistern, denen immer Leidwesen, Reue, Trübsal auf dem Fuße folgt. Laß uns in Frieden unser gegenwärtiges Glück genießen. Es macht dir Freude, mir Unterricht zu geben, und du weißt, wie gern ich diese Stunden habe. Wir wollen sie noch vermehren; wollen nicht öfter von einander getrennt sein, als der Wohlstand erfordert; laß uns die Augenblicke, in denen wir nicht bei einander sein können, benutzen, um uns zu schreiben, und die kostbare Zeit auskaufen, nach der wir vielleicht eines Tages seufzen werden. Ach! wenn doch unser Loos so, wie es jetzt ist, dauern könnte, so lang als unser Leben dauert! Der Geist bildet sich, der Verstand klärt sich auf, die Seele kräftigt sich, das Herz genießt: was fehlt uns zu unserem Glückt?

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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