Читать книгу Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe) - Jean-Jacques Rousseau - Страница 17
Zehnter Brief.
An Julie.
ОглавлениеWie Recht haben Sie, meine Julie, wenn Sie sagen, daß ich Sie noch nicht kenne! Immer glaube ich, alle Schätze Ihrer schönen Seele schon zu erkennen, und immer entdecke ich neue. Welches Weib hat je wie Sie Zärtlichkeit und Tugend so mit einander vereint und, die eine durch die andere mildernd, beide reizender gemacht? Ich finde etwas unsäglich Liebenswürdiges, Gewinnendes in dieser Verständigkeit, die mich zur Verzweiflung treibt, und Sie schmücken mit so unendlicher Anmuth die Entbehrungen, welche Sie mir auflegen, daß Sie sie mir fast lieb machen.
Ich fühle es jeden Tag mehr, das größte der Güter ist, von Ihnen geliebt zu sein; es giebt keines, kann keines geben, das diesem gleich käme; und wenn ich die Wahl hätte zwischen Ihrem Herzen und Ihrem Besitze selbst, nein, reizende Julie, ich würde mich keinen Augenblick bedenken. Aber woher käme dieses bittere Entweder Oder, und warum müssen wir als unverträglich ansehen, was die Natur hat vereinigen wollen? Die Zeit ist kostbar, sagen Sie, trachten wir, sie zu genießen, wie sie ist, und hüten wir uns, durch Ungeduld ihren friedlichen Lauf zu stören. Ei, möge sie doch vorübergehen und glücklich sein! Muß man denn, um ein liebliches Loos zu schmecken, das, was noch schöner ist, aus den Augen lassen, und die Ruhe dem höchsten Glücke vorziehen? Ist nicht alle Zeit verloren, die man besser anwenden könnte? Ach! wenn man tausend Jahre in Einer Viertelstunde leben kann, wozu dann trübselig die Tage zählen, die man gelebt haben wird?
Alles, was Sie von dem Glücke unserer gegenwärtigen Lage sagen, ist unbestreitbar; ich fühle, daß wir glücklich sein sollten, und dennoch bin ich es nicht. Die Vernunft hat durch Ihren Mund gut reden, die Stimme der Natur ist die stärkere. Sagen Sie, wie soll man ihr widerstehen, wenn sie mit der Stimme des Herzens Eins ist? Außer Ihnen und Ihnen allein sehe ich nichts auf dieser Erde, was würdig wäre, meine Seele und meine Sinne zu beschäftigen; nein! ohne Sie ist die Natur mir nichts mehr; aber ihre Gewalt ist in Ihren Augen und da, da ist sie unüberwindlich.
Mit Ihnen ist es anders, himmlische Julie; Sie begnügen sich, unsere Sinne zu reizen, und leben nicht im Kriege mit den ihrigen. Es scheint, daß menschliche Leidenschaften etwas zu Niedriges sind für eine so erhabene Seele, und wie Sie engelschön sind, sind Sie engelrein. O Reinheit, die ich murrend verehre! warum kann ich nicht entweder Sie herabziehen oder mich bis zu Ihnen erheben! Aber nein, ich werde mich stets im Staube winden und Sie, Sie stets im Himmel strahlen sehen. Ach! sein Sie glücklich auf Kosten meiner Ruhe; genießen Sie Ihrer Tugenden aller; Tod dem elenden Sterblichen, der es je wird versuchen wollen, eine derselben zu beflecken! Sein Sie glücklich; ich will mich bestreben zu vergessen, wie sehr ich zu beklagen bin, und aus Ihrem Glücke selbst will ich den Trost für meine Leiden schöpfen. Ja, theure Geliebte, es scheint mir, daß meine Liebe ebenso vollkommen ist wie ihr anbetungswürdiger Gegenstand; alle Begierden, die von Ihren Reizen entzündet werden, löschen aus in den Vollkommenheiten Ihrer Seele; ich sehe diese so still, so friedlich, daß ich es nicht wage, ihre Ruhe zu trüben. So oft ich versucht bin, Ihnen die kleinste Liebkosung zu stehlen, wenn dann die Gefahr, Sie zu erzürnen, mich zurückhält, hält mich noch mehr mein Herz zurück durch die Furcht, ein so reines Glück zu stören; die Güter, nach denen ich strebe, schätze ich nur nach dem, was es Sie kosten würde, sie hinzugeben; und da ich nicht mein Glück und das Ihrige in Uebereinstimmung bringen kann, sehen Sie, wie ich liebe, so habe ich auf das meinige verzichtet.
Welche unauflöslichen Widersprüche in den Gefühlen, die Sie mir einflößen! Ich bin zu gleicher Zeit unterwürfig und keck, ungestüm und zurückhaltend; ich kann nicht die Augen zu Ihnen aufschlagen, ohne daß ich Kämpfe mit mir selbst zu bestehen habe. Ihre Blicke, Ihre Stimme gehen ans Herz, mit der Liebe, dem rührenden Reiz der Unschuld ; ein himmlischer Reiz ist das, den man um Alles nicht zerstören möchte. Wenn ich meine Wünsche bis zum Aeußersten schweifen lasse, so ist das nur in Ihrer Abwesenheit; meine Begierden wagen sich nicht bis zu Ihnen, wenden sich nur an Ihr Bild, und an dem räche ich mich für die Scheu, die ich gegen Sie zu beobachten gezwungen bin.
Indessen schmachte ich hin und vergehe; Feuer strömt durch meine Adern; nichts kann es löschen oder dämpfen, und ich entfache es heftiger, indem ich es zu bändigen versuche. Ich soll glücklich sein, ich bin es, das gestehe ich ein; ich beklage mich nicht über mein Loos; so wie es ist, würde ich nicht mit den Königen der Erde tauschen. Jedoch ist es ein wirkliches Uebel, das mich quält, ich suche vergeblich ihm zu entkommen; ich möchte nicht sterben und doch sterbe ich; ich möchte leben für Sie, und Sie nehmen mir das Leben.