Читать книгу Borne - Jeff VanderMeer - Страница 10
WARUM ICH IHN BORNE NANNTE UND WIE ER SICH VERÄNDERTE
ОглавлениеWick hatte mir nur wenig über seine Zeit bei der Firma erzählt, aber eine seiner Geschichten brachte mich auf den Namen »Borne«, Bürde. Über ein Wesen, das in seiner Werkstatt entstanden war, hatte er gesagt: »Es wurde geboren, aber ich habe es getragen.«
Wenn ich nicht auf einem Streifzug nach Sachen für Wick oder mich war, kümmerte ich mich um Borne. Dabei musste ich experimentieren, denn ich hatte mich noch nie um etwas oder jemanden gekümmert – außer als Kind um ein paar Einsiedlerkrabben und einen herrenlosen Hund, den ich nach einem Tag wieder abgeben musste. Ich hatte keine Familie, meine Eltern waren gestorben, bevor ich in die Stadt gekommen war.
Ich wusste nichts über Borne und behandelte ihn zunächst wie eine Pflanze. Auf Basis meiner ersten Beobachtungen schien das nur logisch. Borne fühlte sich zum ersten Mal wohl und entspannt genug, um sich zu öffnen, während ich gerade bei einem stillen Abendessen aus alten Notfallrationen der Firma saß, die ich unter Schutt in einem halb eingestürzten Keller gefunden hatte. Er stand mir auf dem Tisch gegenüber, enigmatisch wie immer. Da hörte ich unterm Kauen ein winselndes Geräusch und einen deutlichen Furz. Ich ließ die Packung sinken, die Öffnung an Bornes oberem Ende weitete sich und verströmte einen Duft nach Rosen und Tapioca. Seine Seiten bogen sich nach außen auf und ließen zarte, dunkelgrüne Tentakel erkennen, die, obwohl sie sich schlängelten, den Kern weiterhin verbargen. Ohne nachzudenken, sagte ich: »Borne, du bist ja gar keine Seeanemone – du bist eine Pflanze.«
Ich hatte mir schon angewöhnt, mit ihm zu sprechen, aber beim Klang meiner Stimme verschloss er sich schlagartig wieder, nahm seine, wie ich es nannte, Verteidigungshaltung ein und blieb so einen ganzen Tag lang. Also brachte ich ihn auf einem Teller ins Badezimmer, stellte ihn auf ein Regal unterhalb eines schrägen Lochs in der Decke, durch das nur selten und von sehr weit oben Sonnenlicht einfiel. Ich genoss dieses grünlich-modrige Licht am Morgen, bevor ich hinausging, um Wicks Arbeit zu erledigen.
Am Ende des zweiten Tages hatte er eine gelb-pinke Färbung angenommen und die Hartnäckigkeit seiner Abwehrhaltung deutete entweder auf Krankheit oder auf religiöse Verzückung hin – beides hatte ich draußen in der Stadt schon zu oft gesehen. Er roch verkocht. Ich holte Borne wieder vom Regal herunter und stellte ihn auf den Küchentisch. Inzwischen hatte ich allerdings bemerkt, dass die Würmer, die meinen Badezimmerabfall kompostierten und Nährstoffe ausschieden, die Wick in seinem Tank verwendete, »verschwunden« waren.
Ich hatte ein paar nützliche Dinge gelernt: Borne konnte Sonnenlicht gut aushalten. Borne war ein Nimmersatt, was Kompostwürmer betraf. Borne konnte sich aus eigener Kraft bewegen, tat das aber nicht in meiner Gegenwart. Borne suchte das Sonnenlicht geradezu. Nichts deutete noch darauf hin, dass Borne missgebildet oder ein Fehlversuch welcher Art auch immer war.
Ich stufte Borne hoch, von »Pflanze« auf »Tier«, ordnete ihn aber immer noch nicht in die Kategorie »zielgerichtetes Verhalten« ein. Das hätte ich aber tun sollen, denn im Anschluss an sein Badezimmerabenteuer machte er keine Versuche mehr, seine Bewegungen zu verschleiern. Wenn ich nach Hause kam, fand ich ihn in der Küche, obwohl er, als ich ging, im Schlafzimmer gewesen war – oder im Flur, wenn ich ihn auf dem Boden des Wohnzimmers zurückgelassen hatte. Wenn ich mich ihm näherte, blieb er still und reglos, nie konnte ich ihn auf frischer Tat ertappen. Ich hatte das Gefühl, Borne amüsierte sich darüber, aber wahrscheinlich war das nur eine Projektion meinerseits. Das brachte mich zum Lächeln. Ich machte mir eine Art Spiel daraus, zu erraten, wo er sein würde, wenn ich zurückkam. Und ich freute mich jetzt mehr als sonst darauf, nach Hause zu kommen.
Als ich das Wick erzählte, während ich ihm eine halbtote, himmelblaue Schnecke reichte, die ich in der Nähe der Firma gefunden hatte, fand er es gar nicht lustig.
»Und das macht dir keine Sorgen?«
»Warum sollte es?«
»Weil er seine Fähigkeiten vor dir verbirgt. Schon jetzt. Du weißt nicht, was er als Nächstes tun wird. Du erzählst mir, dass er planvoll vorgeht und vielleicht die Intelligenz eines Hundes hat, aber wir wissen immer noch nichts über seinen Zweck.«
»Du hast gesagt, Borne muss keinen Zweck haben.«
»Vielleicht habe ich mich geirrt. Du solltest ihn mir geben. Ich kann herausfinden, was er ist.«
Es lief mir kalt über den Rücken. »Nur, indem du Borne auseinandernimmst.«
»Vielleicht. Ja, natürlich. Ich habe hier keine hochentwickelten Geräte. Ich habe weder die Zeit noch die Fähigkeiten, nichtinvasiv vorzugehen.« Die Magierin vergrößerte ihren Einfluss, die Vorräte würden nicht ewig halten – das war der Rhythmus, der unser Leben regierte.
Für Wick war Borne nur eine weitere Variable, etwas, das er brauchte, um seinen eigenen Stress in den Griff zu bekommen. Das verstand ich, aber vielleicht war es eine vom Leben innerhalb der Balcony Cliffs erzeugte Lüge, dass wir irgendwann einmal über den nächsten Tag oder die nächste Woche hinausdenken würden. Und während ich noch über Bornes Eskapaden lachte, nistete sich dieser leichte Zweifel in mir ein.
Spontan umarmte ich Wick, hielt ihn fest im Arm, obwohl er versuchte, sich aus meiner Umarmung zu lösen. Das hier ist Geschäft, hier geht’s ums Überleben – so seine Botschaft. Ich sollte unsere Beziehung nicht mit dem Geschäft vermischen. Aber ich konnte nicht anders.
Trotzdem wollte ich ihm Borne nicht überlassen. Nicht aus Mitleid oder Überzeugung oder irgendetwas gleichermaßen Falschem. Und weil ich ihm Borne nicht überlassen wollte, hörte ich auf, mit ihm über Borne zu reden. Wenn er nach Borne fragte, fielen meine Antworten kurz und beiläufig aus. Es geht ihm gut. Er ist wirklich nicht mehr als eine Art Gemüse. Eine Topfpflanze, die laufen kann. Wick sah mich an, als durchschaute er mich, aber er ließ mir Borne.
Es war nichts als ein Test, ob wir einander noch Vertrauen schenken konnten, und jedes Mal, wenn ich die Grenzen dieses Vertrauens ein Stück weiter ausdehnte, rechnete ich damit, dass es diese Belastung nicht aushalten oder unter dem Gewicht der Bedeutung, die ich ihm zumaß, kollabieren würde.