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WOHIN ICH BORNE BRACHTE

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Man kann es nicht anders sagen: Wick, mein Partner und Liebhaber, war ein Drogendealer, und die Droge, die er verkaufte, war so schrecklich und so schön und so traurig und so süß wie das Leben selbst. Die Erinnerungskäfer, die Wick modifizierte oder aus Teilen herstellte, die er der Firma gestohlen hatte, brachten einem nicht nur etwas bei, wenn man sie sich ins Ohr schob, sondern konnten auch Erinnerungen löschen und hinzufügen. Menschen, die die Gegenwart nicht ertrugen, steckten sie sich ins Ohr, um die glücklicheren Erinnerungen anderer wachzurufen, aus lange vergangenen Zeiten und an Orte, die nicht mehr existierten.

Als ich Wick kennenlernte, war die Droge das Erste, das er mir anbot, was ich aber sofort ablehnte, weil ich die Falle darin witterte, auch wenn es wie ein Ausweg aussah. Wenn man sich den Käfer ins Ohr steckte, wuchsen inmitten einer Explosion von Minze und Limone phantastische Visionen von Orten, die es – wie ich hoffte – nicht gab. Der Gedanke, dass ein solcher Zufluchtsort tatsächlich existierte, war zu grausam. Er konnte dumm oder unvorsichtig machen.

Nur der gequälte Ausdruck auf Wicks Gesicht, seine Reaktion auf meinen Widerwillen, ließ mich bleiben und weiter mit ihm reden. Ich wünschte, ich hätte den Grund seines Unbehagens schon damals erfahren und nicht erst so viel später.

Ich legte die Seeanemone auf den klapprigen Tisch zwischen unseren Stühlen. Wir saßen auf einem der vermoderten Balkone, die aus einer glatten Steinfassade ragten und mich dazu inspiriert hatten, unseren Zufluchtsort »Balcony Cliffs« zu nennen. Der eigentliche Name des Gebäudes auf dem verrosteten Schild in der halb verfallenen, unterirdischen Lobby war nicht zu entziffern.

Hinter uns lag das Labyrinth, in dem wir lebten, und tief unter uns – verborgen durch einen Tarnschleier, den Wick angelegt hatte, um uns neugierigen Blicken zu entziehen – wand sich der verseuchte Fluss, der um den größten Teil der Stadt floss. Ein Gebräu aus Schwermetallen und Öl und Abfällen, das toxische Dämpfe verbreitete und uns daran erinnerte, dass wir vermutlich an Krebs oder Schlimmerem sterben würden. Hinter dem Fluss erstreckte sich eine Brache aus Buschland. Dort gab es nichts Gutes oder Gesundes, trotzdem tauchte an diesem Horizont manchmal noch jemand auf, wenn auch sehr selten.

Ich war an diesem Horizont aufgetaucht.

»Was ist das für ein Ding?«, fragte ich Wick, der sich ausführlich ansah, was ich mitgebracht hatte. Es pulsierte und leuchtete auf, harmlos und praktisch wie eine Lampe. Aber die Firma hatte die Stadt in der Vergangenheit nicht zuletzt damit terrorisiert, ihr Biotech auf den Straßen zu testen. Die ganze Stadt war zu einem gewaltigen Labor geworden und inzwischen halb zerstört, genau wie die Firma.

Wick lächelte das dünne Lächeln eines dünnen Mannes, es war mehr ein Zucken als ein Lächeln. Er hatte einen Arm auf den Tisch gelegt und das linke Bein über das rechte geschlagen, trug eine weit geschnittene Leinenhose, die er eine Woche zuvor gefunden hatte, und ein weißes Hemd, das vom langen Tragen gelb geworden war. Er sah beinahe entspannt aus. Aber ich wusste, es war nur eine Pose, die er einnahm, um der Stadt und auch mir einen Gefallen zu tun. Risse in der Hose. Löcher im Hemd. Jene so gern ausgeblendeten Details, die eine andere, genauere Geschichte erzählen.

»Was ist es nicht? Das muss die erste Frage sein«, sagte er.

»Also dann: Was ist es nicht?«

Er wollte sich nicht festlegen und zuckte mit den Schultern. Wenn wir über Funde sprachen, stand manchmal eine Wand zwischen uns, eine Reserviertheit, die mir nicht gefiel.

»Soll ich später noch mal wiederkommen? Wenn dir mehr nach reden ist?«, fragte ich.

Meine Geduld hatte im Laufe der Zeit nachgelassen, was nicht sehr freundlich war, denn er brauchte sie jetzt mehr als früher. Ihm ging das Rohmaterial für seine Kreationen aus, und außerdem setzte ihn unter Druck, dass seine Konkurrenten – besonders die Magierin, die den ganzen westlichen Teil der Stadt unter ihre Kontrolle gebracht hatte – auf sein Territorium und seine Gedanken übergriffen, Ansprüche erhoben. Sein attraktives Gesicht unter dem feinen, blonden Haar mit dem spitzen Kinn und den hohen Wangenknochen war dabei, sich aufzuzehren, wie eine Kerze von einer Flamme.

»Kann es fliegen?«, fragte er schließlich.

»Nein«, sagte ich lächelnd. »Es hat keine Flügel.« Obwohl wir beide wussten, dass das nichts bedeuten musste.

»Beißt es?«

»Mich hat es nicht gebissen«, sagte ich. »Warum? Sollte ich es beißen?«

»Sollten wir es essen?«

Natürlich meinte er das nicht so. Wick war immer vorsichtig, selbst wenn er vorpreschte. Immerhin öffnete er sich mir jetzt; ich wusste nie, wann das passierte. Vielleicht war das der springende Punkt.

»Nein, sollten wir nicht«, sagte ich.

»Wir könnten damit Ball spielen.«

»Du meinst, ihm helfen zu fliegen?«

»Wenn wir es schon nicht essen.«

»Es ist doch kein Ball mehr.«

Was nichts als die Wahrheit war. Eine Weile hatte sich das Wesen, das ich Borne getauft hatte, in sich zurückgezogen, jetzt aber – mit einer merkwürdig gewinnenden, zaghaften Anmut – wieder die Form einer Vase angenommen. Das Ding lag einfach auf dem Tisch und pulsierte und leuchtete rhythmisch auf, auf eine Art, die ich beruhigend fand. Das Blinken ließ es größer aussehen, oder es hatte tatsächlich angefangen, zu wachsen.

Wicks grün-braune Augen in seinem eingefallenen Gesicht waren jetzt weiter geöffnet, zeigten mehr Anteilnahme, während er über dem Rätsel grübelte, das ich ihm mitgebracht hatte. Diese Augen sahen alles, außer vielleicht, was ich in ihm sah.

»Ich weiß, was es nicht ist«, sagte Wick, wieder ernst geworden. »Es ist nicht von Mord. Ich bezweifle, dass Mord wusste, dass er es mit sich herumtrug. Aber es ist auch nicht unbedingt von der Firma.«

Mord konnte hinterlistig sein, und sein Verhältnis zur Firma veränderte sich ständig. Manchmal fragten wir uns, ob in den Ruinen der Firma eine Art Bürgerkrieg zwischen den Unterstützern von Mord und denen tobte, die bedauerten, ihn erschaffen zu haben.

»Aber wo hat Mord es her, wenn nicht von der Firma?«

Ein Zucken um Wicks Mund ließ seine feinen Gesichtszüge noch intensiver und faszinierender erscheinen. »Ich habe Gerüchte gehört. Über Dinge, die in der Stadt herumstreunen und weder Mord noch der Firma noch der Magierin gehören. Ich habe sie in den Randzonen gesehen, nachts in der Wüste, und ich frage mich…« Am Vormittag hatten mich Füchse und andere kleine Säuger beschattet. War es das, was Wick meinte? Ihre Ausbreitung war ein Rätsel – hatte die Firma sie hergestellt, oder war die Wüste dabei, auf die Stadt überzugreifen?

Ich erzählte ihm nichts von den Tieren, wollte sein eigenes Urteil hören und bohrte nach. »Dinge?«

Aber er ignorierte meine Frage und wechselte den Kurs. »Es ist nicht so schwer, mehr herauszufinden.« Er strich mit der Hand über Borne. Die purpurnen Würmer, die in seinem Handgelenk implantiert waren, schlängelten sich kurz heraus, um Borne zu analysieren, und zogen sich dann wieder unter seine Haut zurück.

»Erstaunlich. Es kommt von der Firma. Zumindest hat es jemand innerhalb der Firma hergestellt.« Während der Blütezeit der Firma vor zehn Jahren hatte er für sie gearbeitet, bevor sie ihn »verstoßen, weggeworfen« hatte, wie er es in einem seltenen, unbedachten Augenblick ausgedrückt hatte.

»Aber nicht von der Firma selbst?«

»Ein so reduziertes, schlankes Design bringt normalerweise nur ein Einzelner zustande.«

Es machte mich nervös, wenn Wick um etwas herumredete. Die Welt war ohnehin schon viel zu unzuverlässig, und wenn ich bei Wick etwas suchte, außer Sicherheit, dann war es Wissen.

»Glaubst du, es ist ein fehlgeschlagenes Projekt?«, fragte ich. »Ein Nachkömmling? Den sie im Müll entsorgt haben?«

Wick schüttelte den Kopf, aber sein strenges Stirnrunzeln beruhigte mich nicht. Wick war autark und selbstgenügsam. So wie ich. Jedenfalls glaubten wir das beide. Aber jetzt hatte ich das Gefühl, dass er mir eine wesentliche Information vorenthielt.

»Was denn dann?«

»Es könnte praktisch alles sein. Es könnte ein Signal sein. Ein Ruf nach Hilfe. Es könnte eine Bombe sein.« Wusste Wick es wirklich nicht?

»Vielleicht sollten wir es dann doch essen?«

Er lachte, wobei seine Gesichtszüge auseinanderfielen. Das Gelächter machte mir nichts aus. Jedenfalls damals nicht.

»Würde ich nicht. Am Ende ist es eine Bombe und kein Signal.« Er beugte sich vor, und ich dachte, er müsste das Vergnügen, das ich daran hatte, ihm ins Gesicht zu sehen, bemerken. »Aber wir sollten wissen, wofür es gut ist. Wenn du es mir überlässt, könnte ich es zumindest in seine Teile zerlegen und durch meine Käfer überprüfen lassen. Auf diese Art etwas herausfinden. Es auswerten.«

Inzwischen waren wir, auf unsere Art, gleichberechtigt. Partner. Manchmal nannte ich ihn »Boss«, weil ich für ihn auf Beutezug ging, aber ich hätte ihm die Seeanemone nicht zeigen müssen. Nichts in unserer Vereinbarung zwang mich dazu. Natürlich konnte er mir das Ding wegnehmen, während ich schlief … Aber das war nun einmal der Test unserer Beziehung: Waren wir symbiotisch oder Parasiten?

Ich schaute das Wesen an, das dort auf dem Tisch lag, und fühlte mich als seine Besitzerin. Das Gefühl sprang mich ganz unerwartet an – und nicht nur, weil ich mich beim Herumklettern auf Mord in Gefahr begeben hatte, um dann auf Borne zu stoßen.

»Ich glaube, ich werde es erst mal behalten«, sagte ich.

Wick sah mich lange an, zuckte mit den Schultern und sagte, etwas zu beiläufig: »Wie du willst.« Das Wesen mochte ungewöhnlich sein, aber wir hatten schon Vergleichbares gesehen; vielleicht glaubte er, dass es keinen großen Schaden anrichten konnte.

Dann holte er einen goldenen Käfer aus der Tasche, schob ihn sich ins Ohr, und seine Augen nahmen mich nicht mehr wahr. Er machte das immer, wenn ihn etwas auf die falsche Art an die Firma erinnerte und damit Selbstverachtung, Wut und Melancholie in ihm lostrat. Ich hatte ihm gesagt, dass er vielleicht Frieden finden würde, wenn er berichtete, was auch immer dort passiert war, aber er hörte einfach nicht auf mich. Er sagte, dass er mich schützte. Ich glaubte ihm nicht. Nicht wirklich.

Vielleicht versuchte er, die Einzelheiten eines persönlichen Scheiterns zu vergessen, das er sich nicht vergeben konnte, etwas, das er sich selbst zuschreiben musste, oder etwas, das er zum Ende hin getan hatte. Aber nachdem er gegangen war, erinnerte ihn der Job, den er gewählt hatte – oder zu dem er gezwungen worden war –, jeden Tag und jede Stunde an die Firma. Es war schwer abzuschätzen, weil ich kaum etwas über Biotech wusste, aber ich spürte, dass die Antworten, die ich von ihm haben wollte, womöglich technischer Natur waren, dass er womöglich fürchtete, ich würde die Details nicht verstehen.

Vielleicht hätte die Zukunft anders ausgesehen, wenn ich seine volle Aufmerksamkeit gehabt, wenn ich mich mit Wick über Borne gestritten hätte. Wenn er darauf bestanden hätte, mir Borne abzunehmen. Aber er tat es nicht. Er konnte nicht.

Borne

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