Читать книгу Borne - Jeff VanderMeer - Страница 16

WAS ICH BORNE BEIBRACHTE UND WAS ER MIR BEIBRACHTE

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Borne machte mich glücklich, aber Glück hat noch niemanden schlauer gemacht. Während meiner Genesung hatte ich große Schwierigkeiten, mich daran zu erinnern, was mich draußen erwartete, als müsste ich alles wieder erlernen, trotz der vielen Lektionen, die mir schon erteilt worden waren. Ich war noch ganz wackelig auf den Beinen, und schon gingen mir alle möglichen gefährlichen Ideen durch den Kopf. Als ob die kleinen Füchse und anderen Tiere aus der Wüste da draußen in meinen Gedanken Fangen spielten, bellten und Staub aufwirbelten und nur damit aufhörten, um mich von Weitem anzustarren und zu ermutigen, weiterzugehen. Ich träumte immer wieder mit offenen Augen, dass ich in einer echten Wohnung lebte, in einem jener Schutzgebiete aus meiner Vergangenheit. Alles würde wieder gut werden – ich hatte nur die Grippe oder eine Erkältung und war krankgeschrieben, bis es mir wieder besser gehen würde. Und was würde ich tun, wenn es mir besser ging? Wenn es mir besser ging, würde ich wieder zur Universität gehen und meinen Teilzeitjob weitermachen. Ich würde mein Studium abschließen, damit ich endlich Schriftstellerin werden konnte. Denn die zerstörte Stadt war nur ein böser Traum, und mein Leben als Sammlerin war ein böser Traum, und bald würde ich aufwachen, und auch die Bilder von meinem Ertrinken und davon, wie ich meine Eltern verlor und mit ihnen jede Verbindung zur Vergangenheit, würden sich als Illusion erweisen.

Je mehr Zeit und Energie Wick aufwandte, um mich zu beschützen, desto mehr überkamen mich solche Ideen. Sie hatten nur eine vage Beziehung zu meiner Flucht, den Versuchen, irgendwo unterzukommen, den Gefahren, die ich vor der Stadt gekannt hatte.

Aber der Verstand findet Wege, sich selbst zu schützen, errichtet Festungen, deren Mauern manchmal zu Fallen werden. Selbst als ich wieder anfing, mit Borne durch meine Räume zu gehen, selbst als ich mich hinaus in die Flure wagte. Es waren so traurige Hirngespinste, dass ich, ohne sie wahrzunehmen, an den Manifestationen vorbeieilte, die mir sagten, dass alles eine Lüge war. Ein in der Wand steckender Stuhl. Ein vor lauter Rost unbrauchbar gewordener Aktenschrank, jetzt nichts als eine Barrikade vor einem Tunneleingang. Keine Bibliotheken, keine Menschen.

Trotzdem verdanke ich diesen einsamen Wochen einige meiner schönsten Erinnerungen, und das liegt an Borne. Wick war viel unterwegs, um die Bewegungen der Magierin auszuspähen, Käfer an seine kleine Bande von Dealern zu verteilen … und vielleicht auch wegen unseres Streits.

Das gab Borne und mir mehr Zeit für unsere Erkundungen. Er war es inzwischen leid, in die Wohnung eingesperrt zu sein. Wenn ich wusste, dass Wick erst Stunden später zurückkehren würde, nahm ich Borne mit in die Gänge, war dabei reizbar aus Furcht, entdeckt zu werden, und hölzern als Folge der nur langsam heilenden Wunden.

Inzwischen war dieses Spiel, Wick nicht zu sagen, dass Borne sprechen konnte, eine reine Hilfskonstruktion. Er musste es erfahren. Aber weil ich es nicht zugegeben hatte und Wick das Thema nicht ansprach, wurde Borne zu einem offenen Geheimnis, das wie ein ganz eigenes Monster zwischen uns stand. Das machte mich leichtsinnig, als ob ich nur darauf wartete, dass Wick mich zur Rede stellte. Dass unsere Beziehung sich als komplette Lüge erwies, wenn er das nicht tun würde.

Ohne auf die Strapazen zu achten, die es für meinen Körper bedeutete, rannte ich mit Borne durch schwach beleuchtete, staubige Flure, wobei Borne Angst hatte, über seine kleinen Pseudofüße zu stolpern und an die Wand zu prallen und dort kleben zu bleiben, und lachend jammerte: »Du rennst zuuuuuuu schnell!« Oder: »Warum macht das Spaaaaaß?« Was auch mich zum Lachen brachte. Wenn man nicht rennen muss, aber die Möglichkeit hat, aus Spaß an der Freude zu rennen, wird es zu einem eigentümlichen Luxus.

Für gewöhnlich waren wir am Ende eines Gangs völlig ausgepumpt und mussten eine Pause einlegen, und dann stellte Borne seine Fragen – nicht nur die übliche nach einem Snack, weil er hungrig war (ich ließ ihn inzwischen Eidechsen und Ratten jagen, um seinen Appetit zu befriedigen). Er hörte nie auf, seine Fragen zu stellen, als hätte er einen Bärenhunger auf Antworten.

»Dieser Staub ist so trocken. Warum ist Staub so trocken? Braucht er nicht zum Ausgleich etwas Feuchtigkeit?«

»Dann ist er Matsch.«

»Was ist Matsch?«

»Nasse Erde.«

»Ich habe noch nie Matsch gesehen.«

»Nein, hast du nicht. Noch nicht.«

Ich zeigte Borne in einem alten Lexikon das Foto eines Wiesels, und er legte einen ausgefahrenen Tentakel darauf und sagte: »Ooooooh! Lange Maus!«, was mich bald auf den Gedanken brachte, Borne das Lesen beizubringen, allerdings brachte er es sich selbst bei. Wenn wir Verstecken spielten, fand ich ihn manchmal zusammengekauert an einem Stapel ausrangierter Bücher, und zwei Tentakel, die aus seinen Seiten herausragten, hielten ein Buch, während ein einzelner, der sich von seinem oberen Ende herabkringelte, als Lichtquelle diente.

Er hatte keine echten Vorlieben und las über alle möglichen Themen, wobei er seine vielen Augen begeistert hin und her bewegte und in einem gleichmäßigen Tempo las. Ich glaube nicht, dass er Licht zum Lesen brauchte, und auch keine Augen, aber ich wusste, dass er mich gerne nachmachte. Vielleicht glaubte er sogar, dass es höflich war, so zu tun, als bräuchte man Licht und Augen.

Aber im Grunde genommen hatte ich keine Ahnung, was er dachte oder wie er dachte, denn den größten Teil der Zeit hatte ich nichts als seine Fragen.

Schließlich nahm ich ihn mit zu Wicks Swimmingpool, zu Wicks Labor. Ich liebte diesen Swimmingpool, was vielleicht auch hieß, dass ich Wick liebte, gewissermaßen. Über dem Pool hatte es früher ein großes Oberlicht gegeben, das bis ans obere Ende der Balcony Cliffs reichte und von dem jetzt noch ein ebenso großes Loch übrig war, das Wick mit einem Illusionszauber von oben getarnt hatte.

Wenn das Licht im richtigen Winkel einfiel, schlug es grün-goldene Wellen, als hätten sich Moos und Flechten mit den Sonnenstrahlen vermischt und auf irgendeine grundlegende Art verwandelt. Das Licht brach sich glitzernd an den lebenden Fasern, die Wick dort als Teil seiner Arbeit angebracht hatte, und man sah Staubpartikel vorüberschweben und gelegentlich eine Wasserwanze oder einen Wasserläufer, und manchmal stieg aus dem Wasser Nebel auf, der sich in sich zurückrollte wie bestimmte Farnarten.

Es dauerte eine Weile, bis man sich an den dumpfigen, mit etwas Würzigem durchsetzten Geruch der Melange von Chemikalien gewöhnt hatte. Das Würzige konnte sowohl süß als auch sauer riechen, aber immer war es scharf. Wick brauchte Morgenlicht, um das zähe, ekelerregende, schimmernde Gebräu zu füttern, damit er seine Käfer und anderen Schöpfungen fertigstellen konnte. Aber auch unsere Ausscheidungen ernährten sie, obwohl der strenge Geruch eher an Algen und Torf erinnerte, und manchmal an bittere Chemikalien. Ich hatte mich schon vor so langer Zeit daran gewöhnt, dass ich ihn sogar angenehm fand.

Aalähnliche Kreaturen schlängelten sich durch den Sud, und Flossen von bizarren Fischen durchbrachen die Oberfläche, nur um gleich wieder abzutauchen.

»Was ist ein Swimmingpool?«, fragte Borne.

»Etwas, worin Menschen … schwimmen.«

»Aber es ist voller ekelhafter Dinge! Da drin leben ekelhafte Dinge. Einfach ekelhaft. Wirklich ekelhaft.« Das Wort »ekelhaft« hatte Borne kürzlich aufgeschnappt.

»Lass diese ekelhaften Dinge einfach in Ruhe, Borne, auch wenn du Hunger hast.« Ich schlug sanft einen Tentakel zur Seite, der sich in Richtung Wasser bewegte. Ich hatte keine Ahnung, welche Wirkung diese Chemikalien auf ihn haben würden. Außerdem wollte ich nicht, dass Borne Wicks Vorräte fraß, denn damit hätte er sich bestimmt noch beliebter gemacht.

Borne fasste zusammen: »Ein Swimmingpool ist etwas, worin Menschen gerne zwischen ekelhaften Dingen herumschwimmen.«

»So in etwa«, sagte ich kichernd. »In der echten Welt da draußen wirst du auf nicht viele davon stoßen.«

Ich hätte das am liebsten gleich wieder zurückgenommen, denn damit hatte ich zugegeben, dass dies hier nicht die echte Welt war. Dass wir in einer Blase lebten, aus Raum und Zeit, die nicht überdauern konnte, nicht überdauern würde.

Ich nahm ihn auch mit auf den Balkon, aber es stellte mich vor Probleme, weil Borne zu seinem Schutz eine Tarnung brauchte. Ich fand einen Blumenhut mit nur einem Einschussloch und entsprechendem braunen Blutfleck. Und ich fand eine Designersonnenbrille mit großen Gläsern. Ich hatte die Wahl, ihm entweder ein blaues Laken überzuziehen oder ein schwarzes Abendkleid, das ich aus einer halb verschütteten Wohnung gerettet hatte. Das Abendkleid war von Motten zerfressen und ausgeblichen, aber ich entschied mich dafür, weil ich es selbst nirgendwo tragen konnte und es mir inzwischen auch ein paar Nummer zu groß war.

Borne änderte also seine Gestalt, machte sich länger und schmaler als sonst, zog seinen »Bauch« etwas ein und die lächerliche Kluft an. Aber an Borne sah sie gut aus, und mir wurde erst später klar, dass er annäherungsweise meinen Körper nachgebildet hatte, dass ich eine unechte, plumpe Version meiner selbst mit grüner Haut vor mir hatte.

Aber das reichte ihm noch nicht.

»Was ist mit Schuhen?«, fragte er, und ich bedauerte jetzt, dass ich vor ein paar Tagen eine lange Tirade über den Wert von guten Schuhen vom Stapel gelassen hatte.

»Du brauchst keine Schuhe. Niemand wird deine Füße sehen.« Wahrscheinlich würde ihn sowieso niemand sehen.

»Alle tragen Schuhe«, zitierte er mich. »Einfach alle. Du trägst sie sogar im Bett.«

Das stimmte. Ich war nie darüber hinweggekommen, dass ich so oft im Freien geschlafen hatte. Wenn man schläft, wo leicht Gefahr droht, zieht man seine Schuhe nie aus, denn vielleicht hat man nur ein paar Sekunden, um seine Sachen zusammenzuraffen und loszurennen.

Borne wollte tatsächlich Schuhe. Er wollte das ganze Programm. Also gab ich ihm welche. Ich gab ihm mein einziges zusätzliches Paar, die Stiefel, mit denen ich in die Stadt gekommen war.

Großspurig bildete er Beine mit Füßen aus und langte mit seinen eben gewachsenen Händen nach unten, um die neuen Schuhe anzuziehen. Er veränderte seine Hautfarbe, bis sie meiner ansatzweise ähnelte. Aus der Öffnung an seinem oberen Ende kamen die durch den Hut gedämpften Worte: »Wir können gehen.«

Aber wenn Borne das ganze Programm wollte, dann wollte ich einen ganzen Menschen.

»Nicht bevor du einen Mund hast«, sagte ich, »und ein richtiges Gesicht.«

»Oh oh«, sagte er, weil er das vergessen hatte. Damals sagte er jedes Mal »Oh oh«, wenn er dachte, einen Fehler gemacht zu haben. Vielleicht versuchte er auch einfach, ein wenig »kompliziert« zu sein, was er zu dieser Zeit öfter tat, im Allgemeinen auf eine charmante Art.

Die Veränderung bedurfte nur einer Sekunde. Alle Augen verschwanden, dann tauchten zwei passende, nicht – nie mehr – graue auf, dazu eine nasenähnliche Wölbung, die ganz nach dem Kopf der Eidechse aussah, die er vor ein paar Stunden gefressen hatte, und eine Art Mund mit einem verrückten Grinsen. Unter diesem Hut. In einem schwarzen Abendkleid. Und in Stiefeln.

Er sah so seriös aus, dass ich ihn drücken wollte, und ich begriff nicht im Geringsten, welches Geschenk ich Borne damit gemacht hatte. Welchen anderen Zwecken eine Tarnung noch dienen konnte.

Wir gingen hinaus auf den Balkon. Borne behauptete, er könne durch die Sonnenbrille nicht sehen, und nahm sie ab. Sein neuer Mund formte ein ehrlich überraschtes »Oh«.

»Es ist wunderschön«, rief er aus. »Es ist wunderschön wunderschön wunderschön …« Noch ein neues Wort.

Und der Wahnsinn, das, worüber ich nie wieder hinwegkam, war: Es war tatsächlich wunderschön. Es war einfach unfassbar schön, und das hatte ich nie bemerkt. Im seltsamen dunklen, ozeanblauen Licht des späten Nachmittags plätscherte der Fluss unter uns lavendel-, gold- und orangefarben vor den zahlreichen Felsinseln mit ihren Baumgruppen dahin … und sah unglaublich aus. In diesem Licht nahmen die Balcony Cliffs einen tief leuchtenden Farbton an, der beinahe schwarz war, aber nicht ganz, fast blau, aber nicht ganz, und ihre vorspringenden Schatten waren massiv und kühl.

Borne wusste nicht, dass das alles tödlich war, vergiftet, wahrlich ekelhaft. Vielleicht war es das für ihn nicht. Vielleicht hätte er in dem Fluss schwimmen können und wäre unversehrt geblieben. Vielleicht begriff ich in diesem Augenblick auch, dass ich angefangen hatte, ihn zu lieben. Weil er die Welt nicht so sah, wie ich sie sah. Er sah die Fallen nicht. Weil er mich dazu brachte, selbst einfache Wörter wie »ekelhaft« oder »wunderschön« neu zu denken.

In diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich beschlossen hatte, meine Sicherheit gegen etwas anderes einzutauschen. In genau diesem Augenblick. Und was auch immer als Nächstes passierte, ich war übergelaufen, und die Frage war nicht, wem ich trauen sollte, sondern, wer mir trauen sollte.

Borne

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