Читать книгу Borne - Jeff VanderMeer - Страница 7

ERSTER TEIL WAS ICH FAND UND WIE ICH ES FAND

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Ich fand Borne an einem sonnigen, stahlblauen Tag, als der riesige Bär Mord sich in der Nähe unseres Zuhauses herumtrieb. Zunächst war Borne für mich einfach etwas, das wir vielleicht verwerten konnten. Ich wusste nicht, was Borne für uns bedeuten würde. Ich konnte nicht wissen, dass er alles verändern würde. Mich inklusive.

Auf den ersten Blick machte Borne nicht viel her: Er war dunkelviolett, etwa so groß wie meine Faust und klebte in Mords Pelz wie eine halb geschlossene, gestrandete Seeanemone. Ich fand ihn nur, weil er ungefähr alle dreißig Sekunden ein smaragdgrünes Leuchten aufblitzen ließ, wie ein Leuchtfeuer.

Als ich näher kam, stieg mir in Wellen der Geruch von Salzlake in die Nase, und einen Augenblick lang war die zerstörte Stadt um mich herum verschwunden, gab es keine Suche nach Nahrung und Wasser mehr, keine umherstreunenden Gangs und entlaufenen, modifizierten Kreaturen von unbekannter Herkunft, deren Absichten man nicht kannte. Keine verstümmelten, verbrannten Körper, die an kaputten Straßenlaternen hingen.

Stattdessen sah das Ding, das ich gefunden hatte, einen alarmierenden Augenblick lang aus wie aus den Gezeitenbecken meiner Jugend, bevor ich in die Stadt gekommen war. Ich konnte das Salz wieder riechen und den Wind spüren, und die vertraute Kälte des Wassers, das über meine Füße schwappte. Die lange Suche nach Muscheln, die schroffe Stimme meines Vaters und der Singsang meiner Mutter. Der honigwarme Sand, in den meine Füße sanken, während ich auf den Horizont und die weißen Segel starrte, die von fernen Besuchern auf unserer Insel kündeten. Falls ich jemals auf einer Insel gelebt hatte. Falls das jemals der Wahrheit entsprochen hatte.

Die Sonne hoch oben war von einem kariösen Gelb wie das Auge von Mord.

Ich hatte Mord den ganzen Vormittag über verfolgt, von dem Augenblick an, als er im Schatten eines Gebäudes der Firma weit im Süden erwacht war; so fand ich Borne. Der De-facto-Herrscher unserer Stadt hatte sich in die Lüfte erhoben und sich meinem Versteck genähert, um seinen Durst zu stillen, indem er den riesigen Schlund öffnete und mit der Schnauze durch das verseuchte Flussbett im Norden pflügte. Niemand außer Mord konnte aus diesem Fluss trinken und überleben; die Firma hatte ihn so geschaffen. Dann schwang er sich wieder hoch ins Blaue, ein Killer, leicht wie der Samen einer Pusteblume. Wenn er auf seinem Weg nach Osten unter dem finsteren Blick regenloser Wolken Beute fand, stieß er aus der Höhe hinab und befreite ein schreiendes Stück Fleisch von der Notwendigkeit zu atmen. Ließ von ihm nichts als eine blutige Gischt übrig, eine schäumende Wolke unvorstellbar fauligen Atems. Manchmal brachte ihn das Blut zum Niesen.

Niemand, nicht einmal Wick, wusste, warum die Firma den Tag nicht hatte kommen sehen, an dem Mord von ihrem Wächter zu einem Verhängnis geworden war – warum sie nicht versucht hatte, ihn zu zerstören, solange sie noch die Macht dazu hatte. Inzwischen war es zu spät, denn Mord war nicht nur zu einem Ungeheuer mutiert, sondern hatte durch irgendeinen Technikzauber, der der Firma abgepresst worden war, auch gelernt zu schweben, zu fliegen.

Als ich Mords Lagerplatz erreichte, wurde er in seinem unruhigen Schlaf von erdbebenartigen Rülpsern geschüttelt; seine Hüfte ragte über mir empor. Sogar wenn er auf der Seite lag, war er drei Stockwerke hoch. Sein befriedigter Blutdurst hatte ihn schläfrig gemacht, und auf der Suche nach einem Ruheplatz hatte er sich auf einem Gebäude niedergelassen, dessen Mauerreste aus Ziegelsteinen jetzt überall unter ihm hervorquollen und ihren Zweck als Schlafstatt erfüllten.

Mord hatte Zähne und Klauen, die blitzschnell zerfleischen und vernichten konnten. Seine Augen, die manchmal sogar beim Träumen offen standen, waren gewaltige, fliegenverkrustete Leuchtfeuer, Spione seines Geistes, der – so glaubten einige – in kosmischen Größenordnungen arbeitete. Aber für mich, den menschlichen Floh an seiner Flanke, bedeutete er vor allem eine gute Quelle für Wiederverwertbares. Mord zerstörte unsere kaputte Stadt, aber unfreiwillig belebte er sie auch wieder.

Wenn Mord sich von seinem Lager aus, das er in die beschädigte Seite des Firmengebäudes geschlagen hatte, mit Schaum vor dem Maul auf den Weg machte, verfingen sich allerlei Schätze in seinem klebrigen, verdreckten Pelz, der vor Aas und Chemikalien stank. Er beschenkte uns mit Packungen namenlosen Fleisches, Reste aus Firmenbeständen, und manchmal stieß ich auf Kadaver nicht wiederzuerkennender Tiere, mit durch Innendruck geborstenen Köpfen und grellweißen, hervorquellenden Augen. Wenn wir Glück hatten, regnete es, während er herumtapste oder hoch über uns hinwegglitt, manche dieser Schätze aus seinem Pelz, dann mussten wir nicht auf ihn hinaufklettern. An besonders guten, sprich schlechten Tagen fanden wir Käfer, die man sich ins Ohr stecken konnte, wie die, die mein Partner Wick herstellte. Aber wie im Leben überhaupt konnte man nie sicher sein, und so folgten wir Mord mit gesenktem Kopf und auf Knien in der Hoffnung, dass er liefern würde.

Wick warnte mich immer, dass einige dieser Dinge möglicherweise absichtlich dort platziert worden waren. Dass es Fallen sein könnten. Oder dass sie in die Irre führen sollten. Aber ich kannte mich mit Fallen aus. Ich stellte selbst welche. Wick wusste, dass ich sein »Sei vorsichtig!« in den Wind schlug, wenn ich morgens aufbrach. Ich ging das Risiko ein, um mein eigenes Überleben zu sichern und ihm zurückzubringen, was ich fand, damit er es inspizieren konnte wie ein Wahrsager einen Haufen Gedärme. Manchmal dachte ich, Mord würde die Sachen aus einem verqueren Verantwortungsgefühl heraus zu uns, seinen Spielzeugen, seinen Folterpuppen, bringen; ein andres Mal schien es mir, als hätte die Firma ihn dazu verleitet.

So mancher Sammler, der wie ich jetzt Mords Flanke begutachtete, überschätzte die Tiefe von Mords Schlaf und fand sich hochgehoben, haltlos, und zu Tode stürzen … ohne dass Mord es bemerkte, der wie ein Felsbrocken über sein Jagdgebiet dahinglitt, die Stadt, die sich diese Beteichnung noch nicht wieder verdient hatte. Und so riskierte ich nicht viel mehr als Erkundungstouren entlang seiner Flanke. Seether. Theeber. Mord. Er hatte viele Namen, die denen, die sie laut aussprachen, wundersam erschienen.

Schlief Mord also wirklich, oder hatte er in seiner verdorbenen, giftigen Abfallhalde von Kopf einen Trick ausgeheckt? Es war nicht leicht zu beurteilen. Ermutigt von seinem Schnarchen, das sich als ein gigantisches Erdbeben quer über den ganzen Atlas seines Körpers manifestierte, kletterte ich weiter auf seine Hüfte zu, während andere Sammler mich vom Boden aus wie ein Versuchskaninchen beobachteten. Und da stieß ich zufällig auf Borne, der sich im braunen, rauen Seetang von Mords Pelz verfangen hatte.

Borne summte leise vor sich hin, die halb geschlossene Öffnung auf der Oberseite wie ein Mund, dessen Muskelstränge sich ständig zusammenzogen und weiteten. Noch war Borne ein »es«, kein »er«.

Je näher ich kam, desto deutlicher ragte Borne aus dem Pelz heraus, wurde immer mehr zu einer Kreuzung aus Seeanemone und Tintenfisch: eine glatte Vase mit sich wellenden Farben, die von dunkelviolett über tiefblau bis meergrün changierten. Vier vertikale Grate zogen sich über die warme und pulsierende Haut, deren Textur glatt war wie die eines vom Wasser geschliffenen Steins, aber etwas gummiartig. Es roch nach Strandhafer an faulen Nachmittagen im Sommer, Meersalz und unterschwellig nach Passionsblumen. Erst viel später verstand ich, dass es für einen anderen anders gerochen, ja vielleicht sogar eine andere Form angenommen hätte.

Es sah nicht nach etwas Essbarem aus, und es war kein Erinnerungskäfer, aber auch kein Abfall, deshalb nahm ich es mit. Ich glaube, ich konnte gar nicht anders.

Mords Körper bebte, hob und senkte sich im Takt seines Atems, und ich stand mit angewinkelten Knien da, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Er schnarchte und zuckte, als würde er einen psychotischen Traum ausagieren. Seine faszinierenden Augen – so weit und schwarzgelb und vernarbt wie ein Meteor oder die gesprungene Kuppel des Observatoriums im Westen – waren fest geschlossen, der riesige Schädel nach Osten ausgestreckt, ohne sich um mögliche Gefahren zu kümmern.

Und hier war Borne, wehrlos.

Die anderen Sammler, viele von ihnen Befürworter einer unsicheren Waffenruhe, begannen ermutigt, an Mord hochzuklettern, sich ins Unterholz seines verdreckten, heiligen Pelzes zu wagen.

Borne schlug an meiner Brust wie ein zweites Herz.

»Borne.«

Namen von Menschen, von Orten bedeuteten so wenig, dass wir aufgehört hatten, andere mit der Suche danach zu belästigen. Die Karte der alten Welt schien von einem grotesken Märchen heimgesucht, das, wenn man es erzählte, nicht nach Worten klang, sondern nach Geräuschen als Folge einer Gräueltat. Zwischen den Trümmern der Erde unsichtbar zu bleiben, war alles, was ich suchte. Und ein gutes Paar Stiefel für die Zeit, wenn es kalt wurde. Und eine alte Dose Suppe, halb vom Schutt begraben. Diese Dinge bedeuteten Glückseligkeit; daneben blieben Namen kraft- und bedeutungslos.

Und trotzdem nannte ich ihn Borne.

Borne

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