Читать книгу Borne - Jeff VanderMeer - Страница 11

WAS ICH IN WICKS WOHNUNG FAND

Оглавление

Vertrauen aber bedurfte auch eines gewissen Verrats. Lange bevor ich auf Borne stieß, hatte ich Wicks Quartier durchsucht, während er draußen seine Drogen verkaufte. Ich nehme an, er hatte dasselbe bei mir getan, aber wer weiß? Über diesen Aspekt des Vertrauens redet man nicht mit demjenigen, den es betrifft.

Mein Verrat erforderte Geschick – Schlösser öffnen, Fallen umgehen, Kameras ausschalten –, aber am Ende war es den Aufwand kaum wert. Ich fand nicht viel in den drei Räumen, das etwas über den Menschen Wick verraten hätte. Die Summe seiner Existenz in diesen vollgestopften Zimmern ergab fast nichts. Keine Familienfotos oder Porträts, nur wenige, persönliche Dinge.

Vielleicht hatte er beschlossen, mit so wenig auszukommen, um nicht an irgendwelche Geheimnisse erinnert zu werden? Ich stellte mir vor, dass es irgendwo tief in den Balcony Cliffs ein ganzes Lager voller Artefakte gab, die Wick dort weggeschlossen hatte, damit sie ihm nicht gefährlich werden konnten. Aber wenn es so etwas gab, dann habe ich diesen Ort nie gefunden.

Ich fand nur einen einzigen, schlichten Hinweis, den ich nach vorsichtigem Stochern im Schloss einer Schreibtischschublade behutsam ans Licht beförderte: die schematische Darstellung eines Fischs, die zusammengerollt in der äußeren Röhre eines kaputten Teleskops steckte, und eine Metallschachtel voller winziger, ausgetrockneter zinnoberroter Nautilusgehäuse.

Ich steckte eins für später ein und nahm mir die Fisch-Zeichnung vor. Ich hielt sie, immer noch aufgerollt, gegen das matte Licht der Leuchtkäfer, die Wick in die Decke eingelassen hatte. Ich wusste, dass sie ein Relikt von Wicks letztem Projekt bei der Firma war, über das er nur in betrunkenem Zustand sprach. Aus seinem provisorischen Swimmingpool-Tank war so etwas bestimmt nicht gekrochen. Noch nicht.

Welchem Zweck auch immer die Risszeichnung gedient haben mochte, am Ende zeigte sie nicht mehr als einen hässlichen Fisch, einen riesigen Zackenbarsch oder Karpfen. Eine Schnittansicht von der Seite, mit Linien, die vom Gehirn und anderen Teilen ausgingen, mit Zahlen und willkürlichen Buchstaben am Ende der Pfeile. Es half auch nicht, dass der Fisch das sehnsuchtsvolle Gesicht einer Frau mit heller Haut und blauen Augen trug, ein schauriger Anblick. Das machte mich vorsichtig, als hätte irgendein verrückter Wissenschaftler beschlossen, die Galionsfigur eines alten Segelschiffs Realität werden zu lassen.

Aber Vorsicht war nicht der richtige Begriff in Bezug auf das Gekritzel auf der Rückseite. Jüngere Anmerkungen am Rand trugen Wicks Handschrift, das konnte ich erkennen, und hatten etwas Sehnsüchtiges: kurze Anregungen, wie er das Fischprojekt wohl wiederbeleben könnte, das mit der Zeit offensichtlich im Sande verlaufen war. Aber es gab noch eine zweite Handschrift, die die Mitte des Blatts einnahm, mit – so schien es – älteren Anmerkungen, deren Leidenschaftlichkeit sich bis zum Wahnsinn steigerte. Die Handschrift wurde ausladender und scharfkantiger, immer weniger lesbar, und schließlich waren es nur noch dunkle Kritzeleien, tief in das Papier geritzt. Die Beschädigung verschleierte den Sinn, sagte mir aber doch mehr als genug. Und die wenigen Wörter, die ich in dem Chaos erkennen konnte, waren praktisch wertlos. Ganz am Ende und fast unlesbar hingekritzelt: »Keine Firma mehr.«

Ich legte das Teleskop aufs Bett und stöberte weiter, hatte Angst, dass Wick mich auf frischer Tat ertappen würde. Aber ich merkte schnell, dass es nicht mehr viel zu durchstöbern gab. So führte mich der sechste Sinn eines Sammlers wieder zum Teleskop zurück. Seine Oberfläche war von einer perlmuttartigen Patina überzogen. Ich hob es hoch, um es im Licht der Leuchtkäfer zu bewundern.

Dann stutzte ich. Es sah so aus, als wäre etwas in die Oberfläche geätzt worden. Und tatsächlich entpuppte sich die »metallene« Oberfläche von Nahem als ein so einheitliches Muster von winzigen, harten Fischschuppen, dass man die Stoßkanten praktisch nicht erkennen konnte. Die Oberfläche glänzte weiterhin silbrig, aber als ich sie in den Händen drehte, entdeckte ich, dass die Wärme meiner Finger die Schuppen dort, wo ich sie angefasst hatte, veränderte: Dort waren jetzt miniaturisierte Fotografien erkennbar. Hinterhältiger, raffinierter Wick – allerdings war mir der Zweck dieser Tarnung nicht klar. Die Fotos stammten aus der Zeit vor der Zerstörung der Stadt, waren Reproduktionen aus alten Büchern, schienen einer Geheimhaltung aber kaum wert zu sein.

Neugierig geworden fackelte ich nicht lange und berührte das Teleskop überall, erwärmte sämtliche Schuppen durch meine Hände, als würde ich ein Musikinstrument spielen, und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf das Ergebnis.

Neben Fotografien von inzwischen zerstörten Orten gab es ein ganzes Verzeichnis von Stadtansichten. Es gab Listen von Orten, die mit »Zurückfordern« überschrieben waren, oder Kommentare wie: »Wie tötet man ein Gebäude? Man tut nichts.« Einiges davon stellte sich als Entsprechung von Microfiches heraus, auf denen die prächtige Geschichte der Stadt in einer Zeit erzählt wurde, bevor die Firma aufgetaucht war. Andere Fragmente waren so winzig, dass ich ihre Wichtigkeit nur erraten konnte und mich fragte, wie Wick sie wohl las, wenn er nicht irgendwo ein Lesegerät versteckt hatte. Nichts davon erinnerte mich an den Wick, den ich kannte – ein Einzelgänger, der nie von der Stadt vor den Zeiten der Firma redete und jede Hoffnung auf irgendeine Zukunft der Stadt aus seinen Gedanken verbannt zu haben schien. Doch als ich sah, dass es nicht nur alte Daten und Fotografien gab, verstand ich schließlich die Notwendigkeit der Geheimhaltung. Einige der Schuppen zeigten monströse Visionen von Projekten, die wohl nie abgeschlossen worden waren und die mir Angst einjagten, denn neben ihnen wirkte Mord banal. Das Wichtigste aber war, dass andere Schuppen eine ganze Reihe technischer Spezifikationen für Biotech enthielten, von dem ich wusste, dass Wick es kreiert hatte. Das waren Informationen, die wir unseren Feinden nicht überlassen sollten.

Manchmal fragte ich mich, ob ich Wick immer noch faszinierend finden würde, wenn ich all seine Geheimnisse entschlüsselt hätte, ob ich überhaupt wusste, wer er ohne sie war.

Zurück in meiner Wohnung ließ ich den gestohlenen Nautilus in ein Glas Wasser fallen und sah zu, wie er wieder zum Leben erwachte, eine glänzend purpurrote Farbe annahm, anfing, sich zu strecken, mich dabei fast herausfordernd anstarrte und sich dann spurlos auflöste, als hätte es ihn nie gegeben. Ein fauler Zauber. Ein Illusionstrick.

Das Elixier mit Wicks Geheimnissen zu trinken, kam nicht infrage. Ich schüttete das Wasser aus, wusch das Glas ab und warf es auf einen Stapel dreckiger Wäsche draußen im Flur.


Mein anderer Verrat war simpel: Ich mochte Borne viel zu gerne. Ich wusste instinktiv, dass ich ihn abgeben sollte. Aber ich wusste auch, dass sich etwas Katastrophales ereignen müsste, damit ich das tat. Je mehr Persönlichkeit Borne entwickelte, desto stärker fühlte ich mich zu ihm hingezogen.

Borne machte es mir aber auch nicht schwer, denn er fraß einfach alles – jeden Krümel, kleine Kieselsteine, auch Holzabfälle. Jeder Wurm, welcher Art auch immer, der in seine Reichweite kam, verschwand auf Nimmerwiedersehen. Borne fraß eine Menge Sachen, die ich als Müll aussortiert hätte, und in gewisser Weise machte er den Komposthaufen überflüssig. Ich glaube, wenn er hungrig genug gewesen wäre, hätte er sogar eine Abfalltonne gefressen.

Und obwohl das Leben mit Borne so mühelos war, hörte er doch nicht auf, mir Rätsel aufzugeben. Das größte und grundlegendste Rätsel? Obwohl so viel in Borne verschwand, kam doch nie etwas aus ihm heraus. Das kam mir ziemlich absurd vor, auf witzige Weise unheimlich. Es brachte mich sogar zum Kichern. Keine Speiballen. Kein Kot. Keine kleinen Pfützen. Nichts.

Außerdem wuchs Borne. Ja, er wuchs. Zunächst wollte ich es nicht wahrhaben, denn die Vorstellung eines Wachstums brachte die Vorstellung einer noch viel radikaleren Transformation mit sich – dass aus einem Kind ein Erwachsener wurde. Bei wie vielen Spezies führte das zu einer radikalen Veränderung, war der Erwachsene so ganz anders als der Jugendliche? Jedenfalls konnte ich am Ende des ersten Monats nicht länger verdrängen, dass Borne, wenn auch nur allmählich, seine Größe verdreifacht hatte.

Auch konnte ich nicht bestreiten, dass ich Borne vor Wick versteckte. Ich ließ Wick nicht mehr in meine Wohnung, und wenn doch, so stellte ich sicher, dass Borne in einem der hinteren Zimmer und nicht zu sehen war. Ich ignorierte Wicks Versuche, mit mir darüber zu sprechen, ob man Borne als gefährlich oder als ein Wesen einstufen müsste, vor dem man sich in Acht nehmen sollte.

Da Borne kein Verhalten zeigte, das man gefährlich nennen konnte, kam es mir nie in den Sinn, ihn als Gefahr zu betrachten. Ich empfand es auch zunehmend als etwas albern, von ihm als »er« zu sprechen, da er weder die Aggressivität noch die Ichbezogenheit an den Tag legte, die ich von den meisten Männern kannte. Stattdessen war Borne in diesen frühen Tagen ein unbeschriebenes Blatt, auf das ich nur Begriffe schreiben wollte, mit denen ich etwas anfangen konnte.

Borne

Подняться наверх