Читать книгу Borne - Jeff VanderMeer - Страница 15

WAS ICH ALS NÄCHSTES TAT, AUCH WENN ES VIELLEICHT FALSCH WAR

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Obwohl es in meinem Zimmer kein fließend Wasser gab, was jedem klarsichtigen Besucher sofort auffallen musste, trotz des Schimmels, der den Kampf mit den Leuchtkäfern in der Zimmerdecke aufgenommen hatte, trotz der schwer beschädigten Mauer mit dem Fenster, das auf einen Berg Müll hinausging … trotz alldem und der Geschehnisse auf den Straßen, wo eine müde und dreckige Person mit einer anderen, die ebenso müde und dreckig war, um ein Stück Schrott kämpfte, das in der alten Welt für wertlos oder ekelerregend befunden worden wäre … trotz alldem konnte ich mir immer noch eine Zeit ausmalen, in der die kleinen Dinge, die wir geliebt hatten, wieder zu uns zurückkehren würden.

»Ich bin’s nur«, sagte Borne, und eine ganze Zeit lang, während der ich zusammengekauert auf meinem Bett lag und versuchte, wieder gesund zu werden, antwortete ich nicht. Jedenfalls nicht wirklich. Ich warf ihm nur ein paar zusammenhanglose, überflüssige Worte hin. Von Zeit zu Zeit tauchte Wick neben ihm auf, nur um gleich wieder zu verschwinden. Manchmal spürte ich, dass er seinen Arm um mich gelegt hatte. Manchmal bemerkte ich, wie er mich mit einem Ausdruck von Schuld und, wie ich glaubte, Misstrauen anstarrte.

War er wegen Borne misstrauisch? Borne hatte sich seit dem Überfall noch einmal verändert. Er hatte die Form einer Seeanemone zugunsten der einer langen Vase oder eines Tintenfischs abgelegt, der auf einem abgeflachten Sockel stand. Die Öffnung an seinem oberen Ende hatte sich nach außen gerollt und zu etwas gestreckt, was ich als langen Hals interpretierte, aus dem fedrige Fasern wuchsen, was etwas aufgesetzt aussah. Die Fasern drängten sich mit einem lang gezogenen, weichen Seufzer aneinander und trennten sich wieder wie bizarr synchronisierte Tänzer. Er war jetzt so groß, dass sein oberes Ende das Bett um gut einen halben Meter überragte. Immer noch huschten Farben über seinen Körper oder trieben träge dahin wie vom Sturm zerfetzte, einander überlagernde, dunkle Wolken. Azur. Lavendel. Smaragdgrün. Immer wieder roch er nach Vanille.

Als ich so auf der Seite lag und ihn mit einer Mischung aus Neugierde und Angst anstarrte, bemerkte ich, dass Borne eine erstaunliche Ansammlung von Augen rund um seinen Körper ausgebildet hatte. Jedes Auge war klein und von den anderen völlig verschieden. Einige waren Menschenaugen – hatten blaue, schwarze, braune, grüne Pupillen –, einige Tieraugen, aber er konnte offensichtlich mit allen sehen. Sie machten mich ratlos, weil ich nicht wusste, was sie bedeuteten. Ich beschloss, sie als eine Art merkwürdigen Schmuck zu sehen, Bornes Entsprechung eines Gürtels.

Wenn Borne bemerkte, dass ich ihn anstarrte, gab er ein Geräusch von sich, das wie ein erstauntes Räuspern klang, und dann schluckte sein Körper alle Augen bis auf zwei, die an seinem Körper entlang nach oben und weiter auseinander wanderten. Manchmal wanderten sie wieder hinunter, bis auf Hüfthöhe, aber wenn sie ihre Position auf seinem Torso gefunden hatten, wurden sie größer, nahmen eine meerblaue Farbe an und ließen lange, dunkle Wimpern wachsen; sie bewegten sich unabhängig voneinander.

Er glaubte wohl, so normaler auszusehen.


Am sechsten Tag fühlte ich mich klarer und nur noch leicht benebelt. Wick war, wenn auch ungern, wieder hinausgegangen, um seinen Geschäften nachzugehen. Er hatte meine Angreifer nicht gefunden, und ich wusste, das würde er auch nie. Wir hatten nicht mehr über die Ereignisse gesprochen und sonst auch nicht viel. Wenn er hereinkam, gab ich sogar vor zu schlafen. Meine Energie reichte nur für Borne.

Vom Bett aus stellte ich Borne eine Frage. Es war tatsächlich die einzige Frage – eine gefährliche Frage, passend zur gefährlichen Gemütslage. Ich war immer noch auf Drogenwürmern, und ich wollte nützlich sein, etwas tun, anstatt einfach hier zu liegen.

»Was bist du?«

Mein Herz schlug schneller, aber ich hatte keine Angst. Nicht wirklich.

»Ich weiß nicht«, sagte Borne mit rauer und zugleich sanfter Stimme. Einen Augenblick lang war ich verwirrt und glaubte, er würde mit den Stimmen meiner beiden Eltern gleichzeitig sprechen. Dann, aufrichtig und eifrig: »Weißt du, was du bist?«

Ich ignorierte ihn. »Lass uns etwas spielen, um herauszufinden, was du bist.«

Borne schwieg einen Moment lang, seine Farben wurden blass. Dann flackerte er wieder auf.

»Okay«, sagte er. »Okay!«

»Dann musst du aber ehrlich sein.«

»Ehrlich.« Er schien das Wort von allen Seiten zu begutachten.

»Die Wahrheit sagen.«

Wellen von kräftigem Violett liefen über seinen Körper.

»Ehrlich. Ich kann ehrlich sein. Ich bin ehrlich. Ehrlich.«

Hatte ich ihn verärgert oder irgendein anderes Gefühl ausgelöst, oder probierte er nur das Wort aus?

»Du weißt eine Menge über mich«, wagte ich mich weiter vor. »Aber ich weiß nichts über dich. Bei dem Spiel geht es um Fragen. Willst du ein paar Fragen beantworten?«

»Ich will Fragen beantworten«, sagte Borne und klang unsicher. Verstand er das Wort »Fragen«?

»Bist du eine Maschine?«, fragte ich.

»Was ist eine Maschine?«

»Etwas Hergestelltes. Etwas, das von Menschen hergestellt worden ist.«

Das verwirrte Borne, und es dauerte eine ganze Weile, bis er sagte: »Du bist etwas Hergestelltes. Zwei Menschen haben dich hergestellt.«

»Ich meine, etwas aus Metall oder Fleisch Hergestelltes. Nicht durch einen natürlichen biologischen Prozess.«

»Zwei Menschen haben dich hergestellt. Du bist aus Fleisch hergestellt«, sagte Borne. Er schien aufgewühlt zu sein.

»Warum hast du mich nicht vor den Jungen bewahrt?«

»Bewahrt?«

»Gerettet. Mir geholfen. Sie abgehalten, mir wehzutun.« Es folgte eine Pause, und alles an Borne erstarb, bis er nur noch eine graue Form war. Selbst die Augen verschwanden.

Dann kamen mit einer Explosion von Rot- und Rosatönen und einem aufgewühlten, stürmischen Grün die Farben zurück. Die Augen sprangen als ein rotierender Halo wieder auf, eingelassen in die Haut knapp unterhalb seiner oberen Öffnung. »Aber ich habe geholfen! Ich habe geholfen! Ich habe Rachel geholfen. Ich habe geholfen«, sagte er in einem gequälten Tonfall.

Ich versuchte, das Zittern in meiner Stimme unter Kontrolle zu bringen. Der Geist von Mord kam über mich.

»Diese Jungen haben mir stundenlang wehgetan.« Ich spieh die Worte geradezu aus. »Das haben sie getan, und du hast nichts gemacht. Sie haben mich schwer verletzt. Und du hättest etwas tun können.«

Wieder Schweigen, dann ein Flüstern: »Ich konnte nicht. Ich habe nicht. Geholfen. Bis.«

»Bis was?«

»Bis ich sie gekannt habe.«

Ich merkte, dass »gekannt« nicht das Wort war, das er meinte. Dass das Wort, nach dem er suchte, vielleicht nicht existierte, dass er möglicherweise versuchte, mir ein oder zwei Dinge auf einmal zu sagen.

»Wie gekannt hast?«

»Ich bin nicht komplett«, sagte Borne. »Ich war nicht komplett. Ich bin nicht komplett.« Er versuchte es mit »zusammengebaut«, was aber nicht half, und beendete den Satz frustriert über die Wörter, was seine gefiederten Pseudofüßchen wie Stacheln abstehen ließ.

»Bist du jetzt komplett? Bewusst?« Ich wollte das Wort »aktiviert« vermeiden, weil es mir Angst einjagte.

»Mehr komplett«, sagte Borne.

»Du hast sie getötet«, sagte ich ruhig. Aber nicht, bevor sie mich quälen konnten, dachte ich wütend.

»Getötet?«

»Aufgehört zu existieren. Nicht länger am Leben. Tot. Nicht hier.«

Borne wurde von Verwirrung geschüttelt. »Ich kenne sie jetzt. Ich kenne sie.«

»Töten ist schlecht«, sagte ich. »Man sollte nicht töten. Nie töten.« Es sei denn, jemand greift dich an. Es sei denn, du musst. Aber ich dachte nicht daran, Borne den Unterschied klarzumachen, denn mir fehlte die Kraft dazu.

Seine Augen schienen mir nicht länger schön. Sie sahen noch gefangener und erschrockener aus. Bildete ich es mir nur ein, oder war eines von vertrautem Grau? Da wandte ich mich von Borne ab und versank eine Weile in Besinnungslosigkeit. Was einfacher war, als mich damit auseinanderzusetzen, was er gesagt hatte.

Aber warum sollte ich mich abwenden, wenn ich mich doch sicher fühlte?


In der siebten Nacht schlief ich in Wicks Unterkunft, und Mord schlief hoch oben über uns, ausgestreckt auf dem Meer von Lehm und Müll, das die Balcony Cliffs bedeckte. Wir erlebten seine Atemzüge wie eine geisterhafte Wasserbombe, die durch die verschiedenen Schichten hinabstürzte, durch die Balken, die Rigipsplatten, die Stützsäulen und angeschlagenen Torbögen. Sie drangen durch die Atome von einem Dutzend Decken und ließen unsere Körper vibrieren. Nachdem sie sich in unsere Ohren eingenistet hatten, spürten wir sie in unserem Fleisch, und sie klangen unter unserer Haut nach.

Auch sein Gestank drang zu uns, schwach, durch die Schächte und die tausend unregelmäßigen Schichten über uns, durch die Tunnel der Würmer und Käfer. Er kam verzögert, wie der Donner nach einem Blitz, aber dann schnürte er uns die Kehlen zu. Es war der Gestank all der Lebewesen, die Mord in der vergangenen Woche getötet hatte. Konnte Mord riechen, dass wir hier unten waren? Konnte er uns Mäuschen riechen? Uns kleine, menschliche Mäuschen?

Wick lag wie erstarrt da, unfähig, sich zu bewegen, voller Angst, dass es kein Zufall war, dass Mord wusste, dass Wick hier war, und im Morgengrauen kommen und uns aufspüren würde. Eine Zeit lang flüsterten wir nur und bewegten uns wie in Zeitlupe und verhielten uns in jeder Hinsicht so, als wären wir U-Boote und Mord über uns wäre ein Torpedoboot, das nach uns suchte. Sogar beim Flüstern legte Wick seinen Mund direkt an mein Ohr. Er konnte nicht aufhören, von Gerüchten zu erzählen, dass Mord-Proxys gesichtet worden waren, dass sie in der Stadt und im Hinterland nach etwas gesucht hatten. Was sie gesucht hatten? Wick wollte es nicht sagen, aber ich hatte das Gefühl, er wusste es.

Als Mord anfing, im Schlaf zu stöhnen, flüsterten wir nicht einmal mehr. Sein Stöhnen klang wie zermalmte, zertrümmerte Worte, die durch die Erddecke gefiltert wurden, und wir konnten sie nicht verstehen. Ich wusste nur, dass sie sich nach Angst anfühlten.

Ein paar Stunden später merkten wir, wie der Druck nachließ und die Balcony Cliffs erleichtert in ihre alte Form zurückzufedern schienen. Als wir am Morgen seinen Liegeplatz inspizierten, hatte Mords Körper dort einen tiefen Abdruck hinterlassen. Wäre er am Ende nach unten durchgekracht, wenn er die ganze Nacht geblieben wäre? Hätte er Ebene um Ebene durchschlagen, bis er, immer noch schlafend, durch unsere Decke gebrochen wäre? Der Gestank blieb noch ein oder zwei Tage, und wann immer ich ihn wahrnahm, schien sich ein schweres Gewicht auf meinen Kopf zu legen.

Ich war zu Wick gegangen, damit er nicht zu mir kam und an Borne erinnert wurde, aber sobald Mord fort war, fing er an, über Borne zu sprechen. Ich wünschte fast, Mord wäre noch da, damit Wick schwieg.

»Ich könnte ihn immer noch übernehmen«, sagte Wick.

»Wen?«, fragte ich, obwohl ich es wusste.

»Borne. Es wird Zeit. Am besten übernehme ich ihn und finde heraus, was mit ihm los ist. Während du gesund wirst.«

»Das musst du nicht.«

Er zögerte, wollte noch etwas sagen, entschied sich dagegen und schien zu akzeptieren, was ich gesagt hatte. Er nahm mich fest in den Arm, und als wäre ich ein Schild gegen Mord, schnarchte er bald leise an meiner Schulter. Ich ließ ihn, obwohl es schmerzte; um des Friedens willen. Weil es einfach war. Weil es uns beiden half.

Aber schlafen konnte ich nicht. Ich musste an die verrückten Gespräche denken, die Borne und ich führten, weil Borne nicht allzu viel über die Welt zu wissen schien, nur über Bruchstücke verfügte, die nicht recht zusammenpassten.

Borne: »Warum ist Wasser nass?«

Ich: »Das weiß ich nicht. Weil es nicht trocken ist?«

Borne: »Wenn etwas trocken ist, ist es dann nicht was?«

Ich: »Was oder nass?«

Borne: »Was.«

Ich: »Was, das liegt im Auge des Betrachters.«

Borne: »Warum?«

Ich versuchte, ihm was zu erklären.

Borne: »Wie was im Auge? Ist was wie Staub?«

Ich: »Ja, Staub ist trocken.«

Borne: »Ich habe Durst. Und ich brauche einen Snack. Ich bin hungrig. Ich bin hungrig. Ich bin hungrig.«

Unser Gespräch wurde von meiner Suche nach einem Snack für Borne unterbrochen, die auch diesmal nicht schwierig war. Er mochte am liebsten, was man »Junk Food« hätte nennen können, obwohl sich dieser Begriff ja schon lange erledigt hatte.

Vielleicht mochte ich Borne auch deshalb so gerne, weil Wick inzwischen immer nur ernst war. Noch eine ganze Weile hatte Borne keine Ahnung, was ernst bedeutete.

Am Morgen, als Mord und sein Gewicht nur noch ein schlechter Traum waren, versuchte es Wick sogar noch einmal.

»Ich kann ganz vorsichtig vorgehen, sanft«, sagte er. »Du bekommst ihn genau so zurück, wie er jetzt ist.«

»Nein.«

Sein Körper an meinem Rücken versteifte sich.

»Ich sollte nicht fragen müssen. Dir sollte klar sein, dass es das Beste ist.«

»Ist es nicht.«

»Du weißt, dass etwas nicht in Ordnung ist, Rachel.« Er brüllte es fast.

Wie die meisten Männer konnte Wick nicht anders, als der Panik vor einer Sache mit einem Wutausbruch über eine andere Ausdruck zu verschaffen. Also sagte ich nichts.

Aber er ließ nicht locker. »Gib mir Borne«, sagte er.

Ich drehte mich nicht einmal zu ihm um.

»Du musst ihn mir überlassen, damit wir herausfinden, was er ist. Er lebt hier mit uns, und du beschützt ihn, dass es schon unnatürlich ist. Dieses Ding, über das du überhaupt nichts weißt.«

»Nein.«

»Vielleicht beeinflusst er dich mit Biochemie«, sagte Wick. »Und du erkennst dich selbst nicht mehr wieder.«

Darüber lachte ich, obwohl es wahr sein konnte.

»Du hast kein Recht dazu, Rachel«, sagte er, und bei dem Wort »Recht« klang er sehr verletzt.

»Erzähl mir von deiner Zeit bei der Firma.« Ich hatte das Reden so satt, einfach nur satt, Punkt. »Erzähl mir alles über dein unheimliches Teleskop.«

Aber zum Teleskop wollte er nichts sagen. Er wollte in diesem Moment überhaupt zu nichts mehr etwas sagen, und ich auch nicht. Wir wussten beide, dass ein einziges weiteres Wort genügte, und ich würde dieses Bett verlassen, oder er würde mich bitten zu gehen.

Wick. Wick und Rachel. Ein Doppelporträt. Wick und ich, an den entgegengesetzten Ecken eines Rahmens, schon nicht mehr ganz im Bild. Wir beide inzwischen merkwürdig misstrauisch, obwohl er so für mich gesorgt hatte, vielleicht, weil er mehr Vorwürfe von mir erwartete, und um die Schuld abzumildern, über die er nicht reden wollte. Und vielleicht warf ich ihm auch insgeheim vor, dass er mich schwächte, dass ich mich von seinen Überwachungsmechanismen abhängig machte, den Käfern und Spinnen, statt dass ich mich auf meine eigenen Fallen verließ.

War das fair? Nein, war es nicht. Aber ich hatte selbst Schuldgefühle: Das Geheimnis, das ich ihm verschwieg, war viel größer als seines.

Borne kann sprechen. Borne hat meine Angreifer getötet und ihre Körper versteckt. Borne ist intelligent. Borne macht mich glücklich.

Borne

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