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WOHER ICH KAM UND WER ICH WAR
ОглавлениеEinst war es anders. Einst hatten Menschen ein Heim und Eltern und gingen zur Schule. Städte lagen in Ländern, und diese Länder hatten Regierungen. Man reiste des Abenteuers wegen, oder um sich zu erholen, nicht um zu überleben. Aber als ich erwachsen geworden war, war das alles nur noch ein schlechter Witz. Unglaublich, wie ein kleiner Fehltritt in eine Abwärtsspirale und die Abwärtsspirale in die Hölle führen konnte, wo wir wie Geister in einer verfluchten Welt weiterlebten.
Einst, als ich acht oder neun Jahre alt war, wollte ich noch Schriftstellerin werden, oder zumindest etwas anderes als Flüchtling. Keine Fallenstellerin. Keine Sammlerin. Kein Killer. Meine Notizbücher waren vollgekritzelt mit Gedichten darüber, wie sehr ich das Meer liebte. Mit Nacherzählungen von Fabeln. Sogar mit Szenen aus Romanen, die ich nie zu Ende schrieb und auch nie zu Ende schreiben werde. Borne hätte mein imaginärer Freund sein können.
Später sagte ich mir, dass ich Borne deshalb von meiner Vergangenheit erzählte; dass ich ihm deshalb erzählte, was ich Wick nie sagen konnte, genau so wie Wick mir nichts von einer Risszeichnung, einem Teleskop, dem Nautilus-Biotech sagen konnte. Aber vielleicht hätte in jenem Augenblick jeder als Zuhörer herhalten können.
Ich wurde auf einer Insel geboren, die nicht einem Krieg oder einer Seuche zum Opfer fiel, sondern dem steigenden Meeresspiegel. Mein Vater war in gewisser Weise Politiker – ein Mitglied der Ratsversammlung, die die größte Insel des Archipels regierte. In seiner Freizeit ging er gerne fischen und baute Dinge. Er sammelte alte nautische Karten und machte sich ein Vergnügen daraus, Fehler darin zu finden. Er hatte selbst ein Boot gebaut, das The Turtle Shell hieß. Während er meine Mutter umwarb, unternahm er mit ihr immer wieder »Picknicks auf See«, und das Land war nicht mehr als ein Strich am Horizont.
»Ich muss ihm wohl vertraut haben«, sagte meine Mutter, wann immer er die Geschichte erzählte. »Ich muss ihm wirklich vertraut haben, dass ich mit ihm so weit hinausgefahren bin.«
Meine Mutter stammte auch von der Insel, aber ihre Vorfahren waren von weit her gekommen, vom Festland, und als die beiden heirateten, gab es einen Skandal, denn so etwas war bis dahin noch nicht vorgekommen. Was mir den Namen »Rachel« einbrachte, der weder von der einen noch der anderen Familie herrührte. Ein Kompromiss.
Meine Mutter war Kinderärztin. Sie lächelte und lachte immer schnell, vielleicht zu schnell, denn sie lachte auch, wenn sie nervös oder verzweifelt war. Ich stellte fest, dass mein Vater sie aufmerksam beobachtete, vielleicht um sich zu vergewissern, was wann der Fall war. Sie mochte das scharf gewürzte Essen der Heimat ihrer Familie und fing an, kleine Modellschiffe zu bauen. Sie machte sich damit spielerisch über die Faszination lustig, die mein Vater für Boote empfand. Maßstabsgerechte Modelle aus Zahnstochern. Wie mein Vater las sie sehr gerne, und ich wuchs inmitten von Büchern auf.
Wir hatten, was wir brauchten, und mehr. Wir wussten, wer wir waren. Doch das konnte das steigende Meer nicht aufhalten, und die kleineren Inseln unseres Archipels verschwanden eine nach der anderen. Mit unserem Fernglas konnten wir ihre Lichter nachts vom Strand aus sehen. Und dann kamen die Nächte, in denen wir die Lichter nicht mehr sahen. Wir hatten es schon vorher gewusst, aber danach packten wir das Fernglas weg.
Als wir fortgingen und ein Schiff bestiegen und Flüchtlinge wurden, war ich erst sechs. Ich erinnere mich, weil meine Eltern mir die Geschichten später immer wieder erzählten. Sie erzählten sie mir sogar noch, als wir Flüchtlinge blieben und von Flüchtlingscamp zu Flüchtlingscamp, von Land zu Land zogen und glaubten, wir könnten dem Zusammenbruch der Welt entkommen. Aber die Welt brach fast überall zusammen.
An die Camps erinnere ich mich vage. Der allgegenwärtige Matsch, der durch die Überbelegung zu einem einzigen Schlammfeld wurde, die Mücken so fett, dass man den Mund geschlossen halten musste, und die extreme Hitze, die später von extremer Kälte abgelöst wurde. Die Zäune und Wachhunde, um die man sich offenbar besser kümmerte als um unsere Zelte. Die neuen Ausweispapiere, die wir beantragen mussten, weil die alten nie genügten. Das ausrangierte Biotech, das sie für uns in Tröge schaufelten. Wie Telefone und andere Apparate mit der Zeit verschwanden. Das Gefühl, immer ausgehöhlt und hungrig zu sein. Krankheiten, und immer Schnupfen oder Fieber. Die Menschen außerhalb, die Wachen, waren nicht anders als wir, und ich verstand nicht, warum sie draußen und wir drinnen sein sollten.
Aber ich erinnere mich auch daran, wie meine Eltern lachten und mir Dinge aus der Heimat zeigten, als ich alt genug war, um sie würdigen zu können. Fotografien, eine Zeremonienschale, die mein Vater unbedingt mitschleppen wollte, der handgemachte Schmuck meiner Mutter, ein Fotoalbum. Jedes Mal, wenn wir umzogen und von vorn anfingen, baute mein Vater etwas: ein Zelt, Umzäunungen oder einen Gemüsegarten. Meine Mutter packte mit an und kümmerte sich um die Kranken, obwohl die Länder, in denen wir lebten, ihre medizinische Ausbildung nicht anerkannten. War das uneigennützig? Sie kämpften um ihr Leben, um ihre Identität. Also war es nicht uneigennützig, aber es half den Menschen.
Mein Vater muss mir und meiner Mutter zuliebe heiter gewesen sein. Sie konnte eines Tages vielleicht in ihre Heimat zurückkehren. Er nicht, und es kam nur sehr selten vor, dass wir jemanden trafen, der auf der Insel gelebt hatte. Die Geschichten, die er erzählte, langweilten mich irgendwann in ihrer ewigen Wiederholung, aber heute ist mir klar, dass er einfach nur versuchte, diesen Ort durch den Kompass seiner Erinnerungen neu erstehen zu lassen.
Während all der Zeit vergaßen meine Eltern meine Bildung nicht. Nicht das, was man in der Schule lernte, sondern das, was wirklich wichtig war. Welche Werte zählten. Was man bewahren sollte. Was man loslassen konnte. Wofür man kämpfen und was man abwerfen sollte. Wo die Fallstricke lagen.
Einmal fanden wir einen gewissen Frieden. Mein Vater hatte uns zu einer anderen Insel gebracht: Es war nicht dasselbe, überhaupt nicht, aber ob aus einer vergeblichen oder einer tapferen Anwandlung heraus, oder beidem, wollte er das, was er kannte, wieder auferstehen lassen. Fast zwei Jahre führten wir dort ein gutes Leben. Eine Stadt, um darin zu leben, ein Strand zum Spazierengehen, ein botanischer Garten; ich konnte mit Kindern spielen, die aussahen wie ich. Wir lebten in einer kleinen Zweizimmerwohnung, und mein Dad baute im Garten ein Auslegerkanu mit einem Motor vom Schrottplatz. Meine Mutter arbeitete wieder als Ärztin und wurde in Naturalien bezahlt.
Wann immer Nachrichten vom Festland kamen – und jedes Mal deutete sich an, dass alles immer schlimmer wurde –, versuchten meine Eltern, diese von mir fernzuhalten, so lange sie konnten. Und eines Tages der Schock: Wir wurden von Soldaten auf eine überfüllte, dieselspuckende Fähre getrieben und aufs Festland gebracht, in ein weiteres Lager. Das grün-blaue Wasser, das Boot meines Vaters und unsere Wohnung waren Vergangenheit.
Von da an wurde alles schlimmer, nicht besser. Es wurde schlimmer und immer noch schlimmer, bis es nicht einmal mehr Lager gab. Es gab nur noch uns, die wir durch ein Land zogen, das in manchen Gegenden von Vernunft, in anderen von Wahnsinn regiert wurde. Freundlichkeit und Grausamkeit hatten manchmal die gleiche Quelle. Mein Vater hatte ein Messer im Stiefel, und meine Mutter und er trugen abwechselnd einen kleinen Revolver. Es war genauso wahrscheinlich, auf Gräben voller halb verkohlter Leichen zu stoßen wie auf mit Schrotflinten bewaffnete Farmer und ihre Söhne. Einmal lud uns ein grinsender Mann in sein Haus ein und versuchte, meine Mutter zu vergewaltigen. Mein Vater kam mit einer langen Narbe am linken Arm davon, und wir hielten uns von da an von Hauptstraßen fern.
Manchmal hungerten wir lieber, als uns den Reihen der Flüchtlinge anzuschließen, die auf eine Illusion zumarschierten, ein langsamer, trauriger Marsch. Die Nebenstraßen, auf denen wir uns bewegten, waren graue Schlangen vor der Schwärze der Wälder oder des Ödlands. Die fernen Lichter einer Hütte erweckten in uns erst Furcht und dann Vorsicht, und dann machten wir einen Bogen um sie.
Wir glaubten schon seit Monaten nicht mehr, dass es irgendwo einen Zufluchtsort für uns gab, da tauchte in der Ferne auf einem Hügel eine Stadt auf, die in der Dämmerung übernatürlich wirkte wie ein auf die Erde gefallener Kristalllüster oder ein gestrandeter, auf die Seite gekippter Ozeanriese. Ich konnte die Augen nicht abwenden und bekniete meine Eltern, dorthin zu gehen. Sie ignorierten mich. Sie sollten recht behalten. Tagelang schien die Stadt an unserem Horizont auf, und in der Nacht des neunten Tages – wir hatten uns an ihrem östlichen Rand durch Wald und Steppe gekämpft – ging sie in Flammen auf, gingen all die glitzernden Lichter in einer riesigen Feuersbrunst unter, die im Umkreis mehrerer Kilometer die Dunkelheit vertrieb. Von der Stadt her kamen die Bomber mit rot blinkenden Positionsleuchten geflogen, und wir unten auf der Erde staunten über diesen Anblick, denn wir hatten schon seit Jahren kein Flugzeug mehr gesehen. Etwas so Altes und so Neues. Wir fragten uns, ob die Flugzeuge bedeuteten, dass es wieder bergauf ging, dass es vielleicht wieder so etwas wie ein normales Leben geben würde. Aber das war bloß eine Illusion. Sie bedeuteten gar nichts.
Wir beeilten uns, weiter nach Osten zu kommen, und fürchteten den Exodus der Überlebenden, als wäre er eine Welle, die über uns zusammenschlagen würde, dabei waren sie nicht anders als wir. Dann kamen Tage mit dichtem, pulvrigem, schwarzem Rauch, der den rußigen Regen sättigte, und aus der Erde krochen Würmer und Kaninchen und anderes sterbendes Getier.
Nicht lange, und wir würden uns gerne an diese Tage erinnern. Aber die ganze Zeit über gaben meine Eltern die Hoffnung nie auf, suchten weiter nach einem sicheren Ort. Sie würden nie aufgeben. Sie gaben nie auf. Ich wusste das und weiß es auch jetzt, da sie tot sind.
Ich habe Borne noch mehr erzählt, aber ich kann mich nicht dazu bringen, es aufzuschreiben, weil es zu schrecklich ist, um es in Worte zu fassen. Außerdem steuert es auf den einen Punkt zu, an den ich mich nicht erinnern kann: Wie ich in diese Stadt kam, und was mit meinen Eltern passiert war. Meine letzten Erinnerungen sind Flutwellen und provisorische Flöße und die um sich greifende Stille toter oder sterbender Menschen im Wasser – und eine Spur von Land am Horizont. In meinen letzten Erinnerungen gehe ich zum zweiten und dritten Mal unter, meine Lungen voller Schlamm.
Aber als ich wieder zu mir kam, war ich in der Stadt und lief. Ich lief am Fluss entlang, als wäre ich schon immer dort gewesen.
Allein.