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2.1.3.1. Private und staatliche Bemühungen um die Pflege der Muttersprache

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Obschon sich sowohl in den nördlichen als auch in den südlichen Niederlanden einander ähnelnde Schreibtraditionen gefestigt hatten, empfand mancher gebildete Bürger das Fehlen allgemeingültiger Regeln zur Verwendung der Schriftsprache als Mangel. So beklagt sich Siegenbeek 1804, dass es schwierig sei, zwei einigermassen bedeutende Schrifststeller zu finden, die in der Orthografie völlig übereinstimmten, trotz der Arbeit, die viele vorzügliche Männer zur Kultivierung des Niederländischen im vergangenen Jahrhundert geleistet hätten. Ähnlich hatte Verlooy 1788 zur Schriftsprache im Süden festgestellt, dass man so viele unterschiedliche Rechtschreibungen finden konnte, wie es Schriftsteller gab. Jan Frans Willems, ‚der Vater der flämischen Bewegung‘, bezeichnete 1819 die Verwendung der Orthografie im Süden gar als Anarchie. Dennoch hatte sich laut u.a. R. Vosters, G. Rutten und M. van der Wal gerade in den südlichen Niederlanden während der zweiten Hälfte des 18. Jh. eine normative orthografische Tradition sowie eine als ‚kohärent‘ zu bezeichnende Rechtschreibpraxis etabliert. Offenbar klaffte ein Widerspruch zwischen dem Wunsch, eine uniforme Orthografie zu besitzen, und einer nach wie vor bestehenden Varietät in der Rechtschreibpraxis, die aus heutiger Sicht zunehmend standardisierte. Tatsächlich bestand in manchem Bereich der Gesellschaft Bedarf an einer vereinheitlichten, verbindlichen Orthografie sowie einer deutlich formulierten Grammatik der Muttersprache. So war es für eine Verbesserung der laut H.J. de Vos bedenklichen Qualität des Sprachunterrichts unabdingbar, dass Schulmeister über eindeutige Rechtschreibregeln und klare grammatische Richtlinien verfügten. Es fehlte in den Niederlanden eine Institution wie die Académie française, der es gelingen könnte, die Muttersprache als eine nationale Kultursprache zu standardisieren.

In der alten dezentral organisierten Republik hatte die nationale Obrigkeit sich nicht um die Pflege der Sprache gekümmert. Wohl beschäftigten sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jh. einige Vereine zur Förderung der Forschung der niederländischen Geschichte, Literatur und Sprache mit der Kultivierung der Muttersprache, sie entbehrten jedoch der Autorität, um Sprachregeln vorzuschreiben. Im Gegensatz zu den Universitäten boten diese Sprachgesellschaften ihren Angehörigen die Gelegenheit, sich mit der eigenen Sprache und Sprachkultur auseinanderzusetzen sowie Veröffentlichungen u.a. zur niederländischen Sprache herauszugeben. So gründeten Mitglieder des Leidener Studentenvereins Linguaque animoque fideles 1758 die Zeitschrift Tael- en dichtkundige bydragen (‚Sprach- und Literaturwissenschaftliche Beiträge‘). Zudem publizierten sie acht Lieferungen der Zeitschrift Nieuwe bydragen tot opbouw der vaderlandsche letterkunde (‚Neue Beiträge zum Aufbau der vaterländischen Philologie‘). Meinard Tydeman, Mitglied des Utrechter Vereins Dulces ante omnia musae, gab 1775 den Sammelband Proeve van oudheid-, taal- en dichtkunde (‚Abhandlung zur Altertumskunde und Philologie‘) heraus, 1782 besorgte er einen zweiten Band. Sodann ist der 1766 nach dem Beispiel der Académie française und der Royal Society gegründeten Maetschappije der Nederlandsche Lettterkunde te Leyden (‚Gesellschaft der niederländischen Philologie zu Leiden‘, auch als ‚Maatschappij‘ bezeichnet) grosse Bedeutung u.a. für die Forschung als auch die Kultivierung des Niederländischen beizumessen. Dieser älteste noch bestehende Verein der Niederlande veröffentlichte von 1772 bis 1788 beispielsweise Forschungsergebnisse in den sieben Bänden der Reihe Werken (‚Werke‘). Zudem gibt die Maatschappij seit 1881 die auch für die niederländische Sprachwissenschaft bedeutsame Tijdschrift voor Nederlandse Taal- en Letterkunde (‚Zeitschrift für niederländische Sprach- und Literaturwissenschaft‘) heraus, seit 1983 publiziert die Gesellschaft zudem das Nieuw Letterkundig Magazijn (‚Neues literarisches Magazin‘). Mitglieder der Maatschappij trugen nach dem Machtwechsel von 1795 (vgl. 2.1.1.) wesentlich zu den Bestrebungen der Behörden bei, das Niederländische zu reglementieren.

Wie in Frankreich, wo die Revolutionäre namentlich die ‚Gleichheit‘ zu einem der Glaubenssätze der Gesellschaft ausgerufen hatten, bevorzugte die neue Obrigkeit in der nun vereinten, unteilbaren niederländischen Nation eine vereinheitlichte allgemeine niederländische Sprache für alle ihre Bürger. Sie sollte einen vermeintlichen Mischmasch sprachlicher Varianten in den Regionen ersetzen. Übrigens lehnte mancher gebildete Bürger, so Bilderdijk, eine eenparigheid (‚Gleichförmigkeit‘) der Orthografie als Manifestation der Revolution ab.

Dank Vermittlung des Erziehungsministers Johannes van der Palm erhielt der Pfarrer Petrus Weiland (1754–1842), Verfasser des elfbändigen Wörterbuches Nederduitsch taalkundig woordenboek (‚Niederländisches sprachwissenschaftliches Wörterbuch‘, 1799–1811) 1801 den Auftrag, eine niederländische Grammatik zu verfassen. Weiter entwarf Matthijs Siegenbeek auf Gesuch der Behörden eine Reglementierung der Orthografie. Weilands und Siegenbeeks Vorschläge wurden 1804 von der Bataafsche Maatschappij van Taal- en Dichtkunde, von der Maatschappij der Nederlandsche Letterkunde sowie von der Obrigkeit gutgeheissen. Noch im gleichen Jahr lag Siegenbeeks Verhandeling over de Nederduitsche spelling, ter bevordering van eenparigheid in dezelve (‚Abhandlung über die niederländische Orthografie zur Förderung deren einheitlicher Wiedergabe der Laute‘) vor (vgl. 2.2.2.). Weilands Nederduitsche Spraakkunst (‚Niederländische Grammatik‘) erschien ein Jahr später (vgl. 2.2.3.).

In den südlichen Niederlanden wurden immer wieder Grammatik- und Sprachbücher aufgelegt, so von Gillis De Witte (1648–1721) oder Andries Stéven (1676–1747), die von einem Bemühen um systematische, normative Regeln für die Schreibsprache zeugen. In der zweiten Hälfte des 18. Jh. erschienen im Süden vermehrt Sprachbücher mit Regeln zur Orthografie und Aussprache sowie mit Angaben zum Lexikon des Niederländischen. Indem die Verfasser solcher Grammatiken und Schulbücher ihre Werke gegenseitig kritisierten und Neuauflagen überarbeiteten, entstanden allmählich vereinheitlichte grammatikalische Vorschriften für das Niederländische. So legten laut G. Rutten und R. Vosters namentlich Antwerpener Schulmeister in den Fünfziger- und Sechzigerjahren die Grundlage einer südlichen normativen Schreibtradition. Zu ihnen zählten Jan Domien Verpoorten (1706–1773) mit seinem Woôrden-schat, oft letter-konst (‚Wortschatz oder Grammatik‘, 1752) und ein gewisser ‚P.B.‘, der 1757 sein Fondamenten ofte grond-regels der Nederduytsche spel-konst (‚Fundament oder Grundregeln der niederländischen Kunst der Orthografie‘) veröffentlichte. Sodann publizierte der aus Den Haag stammende Antwerpener Grundschullehrer Jan Des Roches (zirka 1735–1787) 1761 eine Nieuwe Nederduytsche spraek-konst (‚Neue niederländische Grammatik‘). Diese vollständige Grammatik, die mehrfach neu aufgelegt wurde, kann als eine Kodifizierung der Sprachregeln im Süden aufgefasst werden. Trotzdem bestand auch in den Österreichischen Niederlanden offenbar Bedarf an einer Einführung beziehungsweise weiteren Standardisierung grammatikalischer und orthografischer Regeln. So hält Verlooy mehr als zwei Jahrzehnte später fest: onze schryfwys‘ is nog niet gevestigt (‚unsere Art und Weise zu schreiben ist noch nicht festgelegt‘). Dabei wünschte man sich Sprachormen für das gesamte Gebiet, wie dies auch Verlooy ausdrücklich verlangte:

Laet ons gezamentlyke Nederlanders, schoon wy van staet geschyden zyn, ons ten minsten in de Nederlandsche konsten aenzien als gevaderlanders en gebroeders. […] Begin-maer, doe-maer iet, hoe wynig het ook zy, doe-maer zien dat Gy verlangt, ook onze tael geëert te zien: en zy zal ’t wezen.

(Verhandeling op d’onacht der moederlyke tael in de Nederlanden, Anonym, 1788; Verlooy 1979)

(‚Lasst uns gemeinsame Niederländer, obschon wir staatlich getrennt sind, uns wenigstens in den niederländischen Künsten als Vaterländer und Brüder betrachten. […]. Fang nur an, tue halt etwas, wie wenig es auch sein mag, zeige doch, dass Du Dich danach sehnst, dass unsere Sprache geehrt wird: und sie wird das sein‘)

Diese Bereitschaft im Süden, sich bei der Kultivierung der Standardsprache dem Norden anzuschliessen, findet sich später im 19. Jh. bei den Anhängern des Integrationismus wieder (vgl. 3.4.2.2.). und mündete in eine Zusammenarbeit der nördlichen und südlichen Niederlande bei der Festlegung orthografischer Regeln des AN seit dem ersten Nederlandsche Taal- en Letterkundige Congres (‚Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Kongress‘) von 1849.

Gegen Ende des 18. und zu Anfang des 19. Jh. erschienen in den südlichen Niederlanden weitere Dutzende Veröffentlichungen zur Grammatik sowie Übungsbücher zum Lesen beziehungsweise Schreiben. Auch solche Werke, die die meisten Grundschulen besassen, zeigen ein Bemühen um die Muttersprache im Süden.

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