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2.1.3.4. Missglückte Schulreformen und Analphabetismus in den südlichen Niederlanden
ОглавлениеDie Ausbildung von Jungen und Mädchen, soweit sie überhaupt in die Schule gingen, fand in den Österreichischen Niederlanden an kleine scholen (‚kleinen Schulen‘) oder lagere scholen (‚Grundschulen‘) statt. Die Schulkinder erhielten hier hauptsächlich Religionsunterricht als Vorbereitung auf die erste Kommunion, zusätzlich lernten sie Lesen, gelegentlich auch etwas Schreiben, seltener noch Rechnen. Oft erteilten Geistliche den Unterricht, namentlich in Brabant und in Flandern, aber auch Küster, Landwirte und Handwerker wirkten nebenberuflich als Primarlehrer. Kirchliche Autoritäten wie Dekane und Pfarrer überwachten den Unterricht, der in der Regel nur im Winter erfolgte. Die Eltern entrichteten Schulgeld, die Spesen der Mittellosen konnte, je nach örtlichen Umständen, die Armenfürsorge übernehmen, manchmal trug auch eine Kommune zu den Kosten einer Schule bei. Versuche der Obrigkeit, das Bildungswesen gefügig zu machen beziehungsweise die Schulpflicht einzuführen, schlugen fehl, Kaiserin Maria Thereses ordonnantie (‚Verfügung‘) von 1774 griff diesbezüglich in den südlichen Niederlanden nicht.
Die colleges (‚Lateinschulen‘) und privaten Pensionate bereiteten in einer christlich-humanistischen Tradition Jungen auf eine akademische Ausbildung oder auf das Priestertum vor. Mädchen konnten beschränkt Mittelschulunterricht an von Geistlichen geführten Institutionen erhalten. Unklar ist, wie die Berufsausbildung stattfand. Zwar versuchte die Obrigkeit, auch die Mittelschule in den Siebzigerjahren des 18. Jh. unter Einfluss aufklärerischer Erziehungsideale zu reformieren, allerdings mit beschränktem Erfolg. So behielten die in der Folge entstandenen koninklijke colleges (‚königlichen Mittelschulen‘) auch nach der Aufhebung der Jesuiten-Orden 1773 ihren konfessionellen Charakter. Übrigens wurden nach der Brabanter Revolution die Massnahmen zur Bildungsreform aufgehoben.
Nach der Annexion der südlichen Niederlande durch Frankreich versuchten die republikanischen Herrscher in den Départements Réunis (‚die mit Frankreich vereinten südlichen Niederlande‘), das Schulwesen des Ancien Régime laut dem Gesetz vom 3 brumaire IV, d.h. 25. Oktober des vierten Jahres nach der Revolution, 1795, durch ein staatliches Schulsystem zu ersetzen, das auf den Idealen der Französischen Revolution basierte. Dazu zerstörten sie in den Jahren 1796 bis 1798 die bestehenden Bildungsstrukturen und gründeten in jedem Kanton écoles primaires (‚Grundschulen‘). Fortan wurde der Grundschulunterricht in französischer Sprache erteilt. Die Weiterbildung erfolgte an den écoles centrales, während die Hochschulausbildung an einigen écoles spéciales stattfand. Es wurde die republikanische Moral gelehrt, die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte gehörte zum Lernstoff. Schwerpunkt der säkularisierten Erziehung, die drei Phasen kannte, bildeten die Naturwissenschaften, es wurde vor allem enzyklopädisches Wissen vermittelt. Die jüngeren Schüler der niederländischsprachigen Provinzen beherrschten Französisch in der Regel zu wenig gut, um ein solches Lehrangebot mit frei zu wählenden Fächerkombinationen genügend auszuschöpfen.
Die lokalen Behörden befolgten die auferlegten strengen Bestimmungen, die zur Entlassung von geistlichen Lehrern und Lehrerinnen geführt hatten, nur teilweise. Immerhin erhielten nun in Städten, wo Adlige und vornehme Bürger Französisch beherrschten, weitere Bevölkerungsschichten Zugang zum Unterricht auf Französisch. In ländlichen Gegenden, wo der Grossteil der Bevölkerung das Französische nicht beherrschte, missglückten allerdings Versuche, an der Grundschule diesen Unterricht durchzuführen. Ohnehin wurden die staatlichen Grundschulen schlecht besucht, hatten doch viele Eltern ein Misstrauen einer Obrigkeit gegenüber, die Geistliche, darunter Erzieher verfolgte.
Trotz des Konkordats von 1801 (vgl. 2.1.1.) gelang es der Kirche nur zum Teil, im Bildungswesen wieder Fuss zu fassen. Lyzeen und Privatinstitute, die neben Laien auch Priester einstellten, ersetzten im Süden während der napoleonischen Kaiserzeit nun die nicht mehr erwünschten republikanischen Zentralschulen. Der Unterricht, der nach wie vor auf Französisch erteilt wurde, umfasste vermehrt klassische Sprachen, zudem drillten Instruktoren die Schüler der ‚Lyzeen‘ während ihrer sechsjährigen Ausbildung militärisch. Spitäler in Brüssel, Gent und Antwerpen führten nach kaiserlichem Dekret Hochschulkurse auf dem Gebiet der Medizin ein, in Lüttich entstand eine Schule für Mediziner und in Brüssel wurde eine Schule für Rechtswissenschaft gegründet, die 1810 mit den Fakultäten für Philologie und Wissenschaft die Universität zu Brüssel bildete.
Die Erziehung an der Grundschule verbesserte sich indessen nicht, da die Kommunen während der napoleonischen Zeit, aber auch danach das frühere, von der römisch-katholischen Kirche gelenkte Bildungssystem nur dürftig ersetzen konnten. Vermehrt versuchten Unausgebildete als Lehrer ihr Glück an der Grundschule, wo der Unterricht von grösseren Gruppen Jugendlicher unterschiedlicher Lehrstufen dem Klassenunterricht noch nicht Platz gemacht hatte. Zudem waren die Lehrmittel wenig brauchbar. Hinzu kam, dass die Schüler den Unterricht unregelmässig oder gar nicht besuchten. In der Folge nahm der Analphabetismus in den südlichen Niederlanden trotz der neuen Gesetze, die auf aufklärerischen Überzeugungen gründeten, in der französischen Zeit zu. Von den Männern dürften in Flandern 50 %, von den Frauen 70 % Analphabeten gewesen sein.
Nach der Vereinigung der nördlichen und südlichen Provinzen stellten Beamte, die das Schulwesen untersuchten, 1816 fest, dass sich die Grundschule im Süden in einer erbärmlichen Lage befand. Eine Bildungsreform, wie sie im Norden bereits Anfang des 19. Jh. durchgeführt wurde, war angesagt, vgl. 2.3.4.