Читать книгу Handbuch Niederländisch - Jelle Stegeman - Страница 28
2.1.3.2.3. Veröffentlichungen in Buchform
ОглавлениеWie ist das Buch als Medium für die Verbreitung des AN in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. einzustufen? Mit dieser Frage ist die komplexe Problematik der Rekonstruktion des Leseverhaltens und des Bücherbesitzes der Vorfahren dieses Zeitabschnitts angesprochen, die in diesem Rahmen nicht weiter zu vertiefen ist. Wohl lassen sich einige Forschungsergebnisse anführen, die einen Eindruck von der Vermittlung des AN durch Veröffentlichungen in Buchform geben.
So zeigen Inventarlisten von Hausraten, dass Haushalte in der frühmodernen Zeit in der Regel nur wenige Bücher umfassten. In der Mitte des 18. Jh. besassen zum Beispiel 60 % der Haushalte in Paris zwar Schreibsachen, jedoch keine Bücher, in den Niederlanden dürfte dies laut H. Dibbits ähnlich gewesen sein. Bezeichnenderweise bildete gegen Ende des 18. Jh. der Verkauf von Papier und Schreibwaren die wichtigste Einnahmequelle eines Bücherbetriebs in Zwolle. Allerdings wurden in den niederländischen Hinterlassenschaften häufig eine Bibel, ein Testament, nicht selten auch ein Psalter und Traktate mit Bibelerklärungen angetroffen. Für die Vermittlung des AN sind daher auch in diesem Zeitalter religiöse Texte, insbesondere die ins Niederländische übersetzten Bibeln von Bedeutung. Die Protestanten, die eine Mehrheit der Bevölkerung bildeten, lasen nicht nur eine andere Übersetzung als die Katholiken, sondern sie nahmen das boek der boeken (‚Buch der Bücher‘) auch mehr zur Kenntnis als ihre Widersacher. Aus einer Volkszählung von 1809 geht laut E. Beukers (Bosatlas 318 ff) hervor, dass in grösseren Teilen der Niederlande 75 % der Bevölkerung kalvinistisch war, in südlichen Gebieten wie Brabant und Limburg dagegen hingen etwa drei Viertel der Bewohner dem römisch-katholischen Glauben an. Übrigens war der Anteil der Römisch-Katholischen zwischen 1813 und 1830 vorübergehend bedeutend höher, als das heutige Belgien zum Vereinten Königreich gehörte. Seit Anfang der Kontrareformation benutzten die Katholiken Nicolaas van Winghes von der Kirche zugelassene Übersetzung, die Bartholomeüs van Grave 1548 herausgegeben hatte. Sie war allerdings unter den katholischen Gläubigen weniger verbreitet als die Statenvertaling unter den Protestanten. Dieser von Theologen und Philologen in Auftrag der Generalstaaten hergestellte Text, der 1637 erschien, sollte bis ins 19. Jh. die Reglementierung der Schriftsprache mitbestimmen. Dank verbesserter Drucktechniken wurden im 19. Jh. mehr religiöse Texte als je zuvor herausgegeben. Sie waren gefragt. So lasen und zitierten Mitglieder der vielerorts entstandenen und bei der Bevölkerung so beliebten bijbelgenootschappen (‚Bibelvereine‘) immer häufiger in AN formulierte Bibeltexte und Traktate. Auch auf diese Weise fand das AN bei den unterschiedlichen Bevölkerungsschichten Anwendung.
Zu den Psalterbüchern, welche die Gläubigen besassen, zählt die von Johannes Eusebius Voet bearbeitete Ausgabe von 1763. Weiter sangen die Kalvinisten aus der von den Generalstaaten in Auftrag gegebenen Ausgabe der Psalmen von 1773. Diese immer wieder neu aufgelegte und viel gebrauchte Übertragung hatte übrigens 1775/76 zu einem psalmenoproer (‚Psalm-Aufruhr‘) in orthodoxen Gemeinden geführt, die nach wie vor die archaischen Wörter von Petrus Datheens (zirka 1531–1588) Übersetzung bevorzugten. So haben nicht nur neuere, sondern auch ältere Psalterübersetzungen weiterhin zur Verbreitung eines überregionalen Niederländischen beigetragen.
Schliesslich erwähnen Inventarlisten des öfteren Volksbüchlein, deren Titel in der Regel nicht aufgelistet sind. Diese bunte Lektüre, zumeist abenteuerliche Geschichten und unwahrscheinliche Erzählungen, kannte wohl eine weitere Verbreitung unter der Bevölkerung als die Belletristik. Wer sich aber mit vaterländischer Literatur befasste, machte mit Erneuerungen des niederländischen schöngeistigen Schrifttums Bekannschaft.
So hatten Betje Wolff und Aagje Deken 1782, angeregt von der Prosa Samuel Richardsons (1689–1761) den ersten niederländischen Roman in Briefform, De Historie van Mejuffrouw Sara Burgerhart (1796 als ‚Sara Reinert, eine Geschichte in Briefen, dem schönen Geschlechte in Deutschland gewidmet‘ in Berlin herausgegeben) veröffentlicht. Es folgten in den letzten Jahrzehnten des 18. Jh. mehrere solcher umfangreicher neuartiger Prosawerke, sowohl von den beiden Herzensfreundinnen als auch von der Schriftstellerin Elisabeth Maria Post (1755–1812).
Weiter erschienen nun sentimentele Romane, so zum Beispiel Julia (1783) von Rhijnvis Feith (vgl. 2.3.2.2.) oder Een fragment van eene sentimenteele historie (‚Ein Fragment einer sentimentalen Geschichte‘ 1784) von Jacobus Bellamy (vgl. 2.3.2.1.). Es handelte sich dabei um ‚radikal empfindsame‘ (Leuker in Grüttemeier 2006, 141) Prosatexte, die in den Niederlanden kurz Mode wurden, als zwischen 1776 und 1793 mehrere Übersetzungen von Goethes Werther in den Handel kamen. Die ‚sentimentalen‘ niederländischen Werke zeichnen sich laut M.-T. Leuker durch eine besondere Intensität des Erlebens und Darstellens subjektiver Gefühle aus. Bald aber kritisierten zeitgenössische Literaturliebhaber diese ausgefallene Prosa, so prangerte bereits Johannes Kinker sie in seiner 1788 gegründeten Zeitschrift De Post van den Helicon (‚Die Post des Helikons‘) an.
Dichterische Werke waren zudem in Hülle und Fülle erhältlich, so beispielsweise von Willem Bilderdijk. Zu seinem umfangreichen Œuvre zählen nicht nur Balladen wie u.a. Graaf Floris de Vierde (‚Graf Floris IV.‘) 1803, sondern auch das unvollendete Epos De ondergang der eerste wareld (‚Der Untergang der ersten Welt‘) sowie mehrere Bände Lyrik, mit Texten wie Ode aan Napoleon (‚Ode an Napoleon‘) 1806, Afscheid (‚Abschied‘) 1810 oder Boetzang (‚Busssang‘) 1826. Johannes Kinker veröffentlichte drei Bände mit eher philosophischen Gedichten (‚Gedichte‘ 1819–1821) und einige längere, von Johann Christoph Friedrich von Schiller (1759–1805) beeinflusste Dichtungen wie Het Alleven of de Wereldziel (‚Das unendliche Leben der unsterblichen Nautur oder die Weltseele‘). Anthony Christiaan Winand Staring liess u.a. treffende, lyrisch ausgefeilte Gedichten (‚Gedichte‘) 1820 und Winterloof (‚Winterlaub‘) 1832 in Druck geben, verfasste aber auch epische Werke wie den Jaromir-Zyklus. Die Prosa von Adriaan Loosjes gilt als Vorbote des im 19. Jh. beliebten historischen Romans. Jan Frederik Helmers’ (1767–1813) Veröffentlichung des umfangreichen Werks De Hollandsche Natie (‚Die holländische Nation‘) 1812 während der französischen Zeit zeugt von Mut und Vaterlandsliebe, seine Rhetorik dürfte den heutigen Leser weniger überzeugen. Das gilt auch für die Lyrik seines Schwagers Cornelis Loots (1765–1834). Mehr noch als Helmers und Loots feierten die Literaturliebhaber Hendrik Tollens (1780–1856, vgl. 2.5.2.1.). Als traditioneller Dichter verherrlichte er das häusliche Glück, das ländliche Leben und die vaterländische Geschichte. Dagegen sind der Leidener Bibliothekar und Ordinarius Jacob Geel (1789–1862) und der zum Kalvinismus bekehrte Jurist Isaac da Costa (1798–1860) als Verfasser kritischer Prosa einzustufen, die sich mit pointierten, scharfen Formulierungen gegen de geest der eeuw (‚den Geist des Jahrhunderts‘) wehrten. Übrigens kennen Leser der Gegenwart niederländische Schriftsteller dieses Zeitalters kaum, sieht man von Studenten, Spezialisten und vereinzelten Liebhabern ab. Für Einführungen in die Literatur dieser Epoche vgl. Grüttemeier et al. 2006 und Van den Berg et al. 2016.
Obschon die angeführten Dichter und Schriftsteller in ihrer Zeit nationalen Ruhm erlangten, ist die Verbreitung ihrer Werke wohl als bescheiden einzuschätzen. So zeigen Untersuchungen von Archiven einiger Buchhandlungen, dass nicht mehr als sechs Prozent der Haushalte regelmässig Bücher anschafften, wovon nur ein Teil belletristisch war. Es kam somit nur eine geringere Anzahl der literarischen Neuerscheinungen in den Besitz von Haushalten. Folglich kann in dieser Zeit nicht von einer durch Schriftsteller ausgelösten ‚Leserevolution‘ unter der Bevölkerung die Rede sein. Damit hielt sich die Bedeutung von literarischen wie übrigens auch von nicht-literarischen Büchern für die Verbreitung der Schriftsprache, abgesehen von religiösen Texten, in Grenzen.
Wohl kam die regelmässige Beschaffung von Veröffentlichungen in Buchform in allen Bevölkerungsschichten vor. Unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse besorgten sich die Kunden der Buchhandlungen (vgl. Abb. I) laut H. Brouwer meistens mehr oder weniger gleiche Bücher. Beruf oder gesellschaftliche Stellung scheinen das Verhalten der Käufer beziehungsweise der Leser weniger bestimmt zu haben als ihr persönliches Interesse. So konnte ein Bauer oder ein Bäcker eine beachtliche Büchersammlung besitzen, während mancher entwickelte, wohlgestellte Bürger kaum Lesenswertes besass. Die gebildeten, gut situierten Bürger dieser Epoche sind denn auch nicht als Bahnbrecher des intellektuellen Lebens respektive als Förderer des AN einzustufen.