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2.2.1. Erste verbindliche orthografische Regeln des Niederländischen
ОглавлениеZwar erschienen separate Veröffentlichungen zu orthografischen und grammatikalischen Merkmalen der Sprache, sie sind dennoch als Bestandteile einer gesamten Sprachlehre zu verstehen. Diese umfasste in der Tradition des 16., 17. und 18. Jh. die Orthografie, die Etymologie, die Syntax und die Prosodie, wie dies beispielsweise Jan van Belle (1690–1754) 1755 festhielt mit den Ausdrücken de Spelkonst (Orthographie;) de Woordoorsprongkonst (Etymologia;) de Woordschikkingkonst (Syntaxis;) en de Maatklankkonst (Prosodia.). Den Stoff verteilten die Verfasser von Grammatiken laut u.a. J. Knol zumeist in einer Abteilung Etymologie, die Orthografie, Deklination und Konjugation beinhaltete, sowie in einer Abteilung Syntax, die Kongruenz und Rektion umfasste; zur Prosodie erschienen separat Einführungen. Die Orthografie bildete im 19. Jh. somit einen Teil der Grammatik des Niederländischen. Orthografische Regeln stützen sich denn auch nicht selten auf sprachhistorische, etymologische Überlegungen.
Siegenbeeks von der Obrigkeit in Auftrag gegebene Verhandeling over de Nederduitsche spelling, ter bevordering van eenparigheid in dezelve (‚Abhandlung zur niederländischen Orthografie zur Förderung von deren Gleichförmigkeit‘‚ 1804) stellt die erste verbindliche Orthografie des Niederländischen dar. Der Verfasser, vom Historiker L.J. Rogier als Diktiermaschine und Schulfuchs abgetan, hält eine Regelung der Rechtschreibung für erforderlich, da es nicht nur Ungebildeten, sondern auch Liebhabern der Wissenschaften an Kenntnissen sprachlicher Grundregeln mangele:
Dan zou hiertoe die mate van taalkennis voldoende wezen, welke door het dagelijksch gebruik en eene niet geheel onöplettende lezing van Nederduitsche schrijveren allen eenigszins geöefenden eigen is? Ik behoef, ter wederlegging hiervan, mij alleen op de ervarenis te beroepen. Deze toch leert ons door vele voorbeelden, dat eene schandelijke onkunde aan de eerste grondregelen, maar vooral aan de kracht en uitgebreidheid onzer tale niet alleen bij ongeletterden, maar ook bij beminnaars der wetenschappen heerscht (…)
(MSR, 24)
(‚Denn, reicht [zum einigermassen glanzvollen Sprechen oder Schreiben] jene Kenntnis der Sprache, die jeder ziemlich Geübte besitzt dank der alltäglichen Verwendung [der Sprache] und durch das nicht ganz ohne Aufmerksamkeit Lesen von niederländischen Schriftstellern? Zum Widerlegen dieser Behauptung brauche ich mich nur auf die Erfahrung zu berufen. Diese lehrt uns doch durch viele Beispiele, dass eine schändliche Unkenntnis der ersten Grundregeln und vor allem Unwissenheit der Kraft und des Umfangs unserer Sprache nicht nur bei Ungebildeten, sondern auch bei Liebhabern der Wissenschaft vorherrscht‘)
Die Regierung führte die neue Rechtschreibregelung am 18. Dezembetr 1804 ein und wies sämtliche Behörden an, sie ebenfalls zu verwenden. Sodann sei sie in neuen Schulbüchern zu berücksichtigen, Schulinspektoren hätten auf ihre Verwendung in der Schule zu achten.
Die Verhandeling steht in einer jahrhundertelangen Tradition von Veröffentlichungen zur Grammatik der Muttersprache, wie beispielsweise die Ausgangspunkte dieser Regelung der Rechtschreibung zeigen. So berücksichtigt Siegenbeek das Prinzip der einheitlichen Wiedergabe der Laute und beachtet eine folgerichtige Buchstabierung von Ableitungen, die er mit Beispielen wie die Wahl des <g> im Substantiv klagt (‚Klage‘) wegen der Schreibung des Verbs klagen (‚klagen‘) darlegt. Ähnliche Ausgangspunkte finden sich bereits in der ältesten gedruckten Grammatik des Niederländischen, der Twe-spraack (vgl. 1.2.2.). So befürworten die Verfasser dieser Veröffentlichung eine einheitliche Schreibweise flektierter Formen mit ihrer Regel der ghelyckformicheyd. Die von ihnen angestrebte eenpaarticheyd zielt auf die einheitliche Wiedergabe der Laute, namentlich der ‚langen‘ Vokale ab.
In der Verhandlung setzt Siegenbeek sich zur Begründung seiner Vorschläge mit mehreren neueren und älteren sprachwissenschaftlichen Quellen auseinander. Die allgemeinen Prinzipien der Rechtschreibung gründet er namentlich auf die Arbeit von Johann Christoph Adelung (1732–1806) und Adriaan Kluit (1735–1807). Der Leidener Ordinarius Kluit hatte bereits 1763 eine Abhandlung zur Rechtschreibung von Vokalen veröffentlicht, 1777 gefolgt von einem Aufsatz zur Schreibung von Konsonanten. Damit hatte dieser Professor für Geschichte die Grundlagen einer Reglementierung der niederländischen Orthografie des 19. Jh. geschaffen. Weiter berücksichtigt Siegenbeek neuere Publikationen von u.a. Lambertus van Bolhuis (1741–1826) oder Nicolaas Hinlopen (1724–1792), aber auch Werke früherer Grammatiker wie Frans van Lelyveld (1740–1785), Bal thasar Huydecoper, Lambert ten Kate, Jacobus Nyloë (1670–1714), Willem Séwel, Adriaen Verwer und Arnold Moonen. Zudem bringt der Verfasser die Anwendung von Grammatikbeziehungsweise Orthografieregeln früherer Schriftsteller und Historiker wie u.a. Jan Wagenaar, Geeraert Brandt (1626–1685), Pieter Cornelisz. Hooft, Melis Stoke (1235 – zirka 1305) und Jacob van Maerlant (zirka 1230– zirka 1300) zur Sprache. In seinen Darlegungen zitiert er sogar einen der ältesten überlieferten niederländischen Texte, den Leidener Williram, vgl. 1.2.1.
Siegenbeeks Berücksichtigung historischer Gegebenheiten in seiner Abhandlung hatte Tradition. Schon im 16. und 17. Jh. versuchten die Grammatiker, als sie sich um die Kultivierung der Hochsprache bemühten, älteren Sprachstufen ihrer Muttersprache gerecht zu werden. So weisen frühe Veröffentlichungen zur Orthografie Regeln auf, die nicht nur eine systematische, die Morpheme berücksichtigende Arbeitsweise verraten, sondern darüber hinaus etymologische Annahmen beachten. Auch eine Rücksichtnahme auf die bestehende Schreibpraxis hatte während der Aufbauphase der Hochsprache eine Beachtung historischer Entwicklungen verlangt: allzu grosse Abweichungen von älteren Schreibweisen seien in einer Neuregelung der Rechtschreibung allenfalls zu vermeiden. In der Folge liessen bereits in der frühen Neuzeit die meisten der Orthografie-Reformer Vorsicht walten, indem sie vermieden, historisch gewachsene Schreibgewohnheiten mit ihren Erneuerungsvorschlägen allzu sehr zu strapazieren. Bezeichnenderweise entschuldigen sich die Verfasser der Twe-spraack, dass die von ihnen vorgeschlagene Rechtschreibung ‚mit der gewöhnlichen nicht volkommen übereinstimmend‘ (met de ghewoonlyke niet heel ghelyckstemmigh) sei. Jahrhunderte später setzt sich Siegenbeek ebenfalls mit der gewachsenen Schreibpraxis auseinander.
Wie früher schon Lambert ten Kate benutzt Siegenbeek nur 22 Buchstaben, da er <c>, <q>, <x> und <y> als nicht einheimisch betrachtet. Wo der Sprachgebrauch die Struktur des Wortes verhüllt, passt der Verfasser die Rechtschreibung an. Im Einklang mit Adelungs Auffassungen zur Rechtschreibung des Deutschen formuliert Siegenbeek als ‚Hauptregel‘ der Orthografie Schrijf zoo als gij spreekt, bei Adelung hiess dies 1788 genau so: ‚Schreib wie du sprichst‘. Da aber in dieser Zeit ein einheitliches gesprochenes Niederländisch nicht bestand (vgl. 2.1.2.), lässt sich dieses ‚Naturgesetz‘, natuurwet, schwierig deuten: wer ist beispielsweise mit gij gemeint, wie ist das Gesprochene schriftlich wiederzugeben? Während laut C. Noack bei Adelungs gesprochener Form der Sprache von einer ‚Schnittmenge aller positiven Eigenschaften der deutschen Dialekte‘ auszugehen ist, hat Siegenbeek wahrscheinlich das gesprochene Niederländische des gebildeten Bürgertums der holländischen Städte gemeint. Offenbar gaben die Werke von vorbildlichen Schreibern in den Augen Siegenbeeks diese gesprochene Sprache preis. Dies erklärt die Paradoxie, dass er seine Darlegungen trotz seiner Ausgangsstellung nicht auf die Sprache, die er hörte, sondern auf die, die er las, so von Autoren wie u.a. des Amsterdamer Historikers Jan Wagenaar gründet. Wohl beachtet Siegenbeek die gesprochene Sprache bei der Rechtschreibung vereinzelter Laute. So behält er beispielsweise d in kelder (‚Keller‘) bei, obschon das Substantiv aus dem lat. cella ohne stimmhaften Dental entstanden war.
Im Vordergrund von Siegenbeeks Ausführungen steht die Vereinheitlichung der Rechtschreibung der Vokale, die er als één der moeijelijkste en belangrijkste onderwerpen (‚eines der schwierigsten und wichtigsten Themen‘) seiner Abhandlung betrachtet. Ähnlich hatte Weiland bereits 1799 gefolgert, dass über kein Thema der niederländischen Orthografie derart gestritten wurde und wird wie über die verlenging, verdubbeling, of zamenvoeging (‚Verlängerung, Verdoppelung oder Zusammenfügung‘) der Vokale. Siegenbeeks entsprechende Vorschläge, die sich Kluits Darlegungen zur Rechtschreibung von Vokalen in offenen und geschlossenen Silben anschliessen, lassen sich bis in die heutige Orthografie des Niederländischen verfolgen. Die Hauptregel zur Rechtschreibung der Vokale, die allerdings noch etymologisch bedingte Ausnahmen kennt, lautet:
Bedien u in de lettergrepen, niet op eenen medeklinker sluitende, ter aanwijzing van den langen klank, altijd van eenen enkelen klinker, met uitzondering slechts van die woorden, welke volgens hunne oorspronkelijke eigenschap, de harde lange e of o, met de ei of au vermaagschapt, hebben, en dus eene verdubbeling der vokaal vereischen.
(Siegenbeek, 1804, 134)
(‚Verwende in Silben, die nicht mit einem Mitlaut abschliessen, zur Kennzeichnung eines langen Lautes immer einen einzigen Vokal, mit Ausnahme von lediglich jenen Wörtern, die laut ihren ursprünglichen Eigenschaften lange [aus germ. ai beziehungsweise au monophthongierte, J.S.] e- oder o-Laute enthalten, welche mit ei oder au verwandt sind und folglich eine Verdoppelung des Vokals verlangen‘)
Laut dieser Regel ist beispielsweise der Plural von daad (‚Tat‘) als daden zu buchstabieren. In geschlossenen Silben war somit <aa>, in offenen <a> zu schreiben, vgl. taal (‚Sprache‘) und ma-te (‚Mass‘) in Dan zou hiertoe die mate van taalkennis voldoende wezen (‚Denn würde dazu das Mass von Sprachkenntnis ausreichen‘ MSR 24). Ältere Verlängerungszeichen wie <e> lehnt Siegenbeek ab: statt maet (‚Mass‘) oder schaep (‚Schaf‘) soll man maat und schaap schreiben.
Wohl unterscheidet der Verfasser in der Rechtschreibung die harde (sog. ‚harten‘) Monophthonge e und o, die aus ger. ai beziehungsweise au entstanden waren, von zachte (sog. ‚sanften‘) in offenen Silben gedehnten e und o, eine Unterscheidung, die übrigens im Deutschen nicht vorkommt. Bei den ‚Amstellanderen‘, den Einwohnern in und um Amsterdam, waren diese Typen e beziehungsweise o lautlich zusammengefallen. Dass die Unterschiede in anderen Gegenden, auch im heutigen Belgien allerdings hörbar waren, veranlasste Siegenbeek, die zwei Typen Vokale unterschiedlich zu schreiben. So war aus ger. ai entstandenes e mit <ee> zu buchstabieren, vgl. heelen (‚heilen‘), gedehntes e aber mit <e>, vgl. helen (‚verstecken‘, ‚hehlen‘). Ebenso war <oo> in hoopen (‚anhäufen‘) zu schreiben, während hopen (‚hoffen‘) ein <o> erhielt. Auch Te Winkel und De Vries sollten später in ihrer Orthografie diese Unterschiede berücksichtigen, vgl. 3.2.1.1.
Zur Förderung der eenparigheid van spelling (‚einheitlichen Rechtschreibung‘) veröffentlichte Siegenbeek 1805 ein Woordenboek voor de Nederduitsche spelling (‚Wörterbuch der niederländischen Orthografie‘). Wie A. Neijt darlegt, enthält diese Wörterliste diverse neue Schreibweisen wie mooijer (‚schöner‘) als Steigerung von mooi (‚schön‘), mogelijk (‚möglich‘) mit <e> für den Svarabhaktivokal /ǝ/ und dem wohl etymologisch begründeten <ij>, obschon das Wort von anderen, so von Betje Wolff und Aagje Deken auch als mooglyk oder von Rhijnvis Feith als mooglijk buchstabiert wurde, vgl. auch die Orthografie vom oben zitierten moeijelijkste (‚schwierigste‘).
Abb. 4: Matthijs Siegenbeek.
Abb. 5: Willem Bilderdijk.
Obschon Siegenbeeks Regeln staatlich eingeführt und von vielen beachtet wurden, stiessen sie nicht bei jedem auf Gegenliebe. So waren die Meinungen der Schriftsteller zur neuen Rechtschreibregelung geteilt, literarische Werke weisen folglich in dieser Zeit nach wie vor orthografische Varianten auf. Der konservative Willem Bilderdijk hielt beispielsweise wenig von behördlich auferlegten Regeln, die ‚Gleichheit‘ als revolutionäres Prinzip lehnte er auch in der Sprache ab. So nahm er sich beispielsweise die Freiheit, strooien (‚strohern‘) an Stelle von strooijen, vgl. mooijer (‚schöner‘) im vorigen Abschnitt, zu schreiben, regelmässig benutzte er <y> statt <ij>, so in Personalpronomina wie wy (‚wir‘). In gehässigen Aufsätzen warf Bilderdijk seinem früheren Freund Siegenbeek vor, er bediene sich als ‚Hauptmann blinder Buchstabierer‘ widersprüchlicher Regeln, statt das ‚wahre orhografische Prinzip‘ eines Adelung zu beachten. Sodann verstehe Siegenbeek die Rechtschreibung der ouden (‚alten‘, d.h. früheren Schriftsteller) falsch, zum Beispiel wenn er die Schreibung nochtans (‚dennoch‘) an Stelle von nogthans oder nogthands empfiehlt. Mancher Schrifsteller aus der Zeit der Romantik, so der beliebte Nicolaas Beets (1814–1903, vgl. 3.3.1.2., 3.3.1.3.) ging mit Bilderdijk einig. Andere wendeten Siegenbeeks Orthografie an, auch ein kritischer Geist wie Everhardus Johannes Potgieter (1808–1875). Übrigens verteidigte sich Siegenbeek 1827 gegen seine Kritiker in seinen Taalkundige bedenkingen, voornamelijk betreffende het verschil tusschen de aangenomene spelling en die van Mr. W. Bilderdijk (‚Sprachwissenschaftliche Überlegungen, vor allem bezüglich des Unterschieds zwischen der eingeführten Orthografie und jener vom Iur. W. Bilderdijk‘). Seit der Einführung von Siegenbeeks Rechtschreibregeln sollten sich immer wieder bis zum heutigen Tag nicht nur Sachverständige, sondern auch Laien mit den unterschiedlichsten Begründungen beteiligen, vgl. 3.2.1., 4.1.4. und 4.3.6.