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WEITES HERZ, WEITES BEWUSSTSEIN

Der erste Schritt auf dem schamanischen Weg ist der intensive Kontakt zur Natur. Anders als viele spirituelle Wege trachtet der Schamanismus nicht danach, die Natur zu überwinden, sondern ganz im Gegenteil: Der schamanische Weg führt immer tiefer in die Natur hinein. Auch wenn die schamanische Reise, mit der wir uns im nächsten Kapitel beschäftigen werden (ab >), andere Bereiche der Wirklichkeit erkundet als die, die uns tagtäglich begegnen, ist damit nie eine Abwertung der diesseitigen Welt verbunden. Sie ist unser gemeinsames Zuhause – wir teilen sie uns mit Eichhörnchen, Füchsen, Ebereschen, Gänseblümchen, Buckelwalen, Flüssen und Bergen, die alle genau wie wir wichtige Facetten dieses wunderschönen Planeten sind.

SICH AUF DIE WELT EINLASSEN

Je bewusster wir die Umwelt wahrnehmen, desto klarer wird uns, wie sehr auch die Natur uns sieht. Vielleicht haben Sie auf Ihrer Medizinwanderung festgestellt, dass Tiere, die Sie erblickt haben, ihrerseits auch Sie angesehen haben. Gerade bei Eichhörnchen siegt oft die Neugier über die Angst, sodass sie uns gern von einem Ast aus beobachten und sich vielleicht ebenso über uns wundern wie wir uns über sie.

Wenn Sie mit den Übungen in diesem Buch weitere Erfahrungen machen, werden Sie merken, dass nicht nur Tiere Sie wahrnehmen, sondern auch Bäume, Felsen und selbst das Gras unter Ihren Füßen. Sie beginnen eine Beziehung mit der Welt, wie sie die meisten Menschen wahrscheinlich zuletzt als Kind erlebt haben, und erfahren eine Geborgenheit, die Ihr Herz ruhig und weit macht. Diese Weite wird es Ihnen dann ermöglichen, noch mehr Aspekte der Welt zu entdecken.

Diese Beziehung zu pflegen lässt uns jedoch nicht nur die Umwelt besser kennenlernen – auch uns selbst können wir aus einem neuen Blickwinkel betrachten. Eine intensive Beobachtung der Natur, ein wirkliches Sich-auf-die-Welt-Einlassen – beides zeigt uns einerseits das Große und Bedeutsame des Lebens, andererseits die Schlichtheit und Einfachheit des Daseins. Jedes Lebewesen und auch wir selbst erscheinen uns als großartig und zugleich als einfach da. Oder anders gesagt: als einfach großartig!

Die nächste Übung ist ein guter Weg, um Ihre Wahrnehmung zu verfeinern und die ganz eigene, völlig wertneutrale Qualität in allem zu entdecken. Sie weitet Ihren Geist und hält Sie davon ab, alles Wahrgenommene direkt in Schubladen von »angenehm« oder »unangenehm« beziehungsweise »gut« oder »schlecht« einzusortieren.

Nehmen wir an, Sie schauen aus dem Fenster und sehen dort Nebel und von Wind und Dauerregen gepeitschte Bäume. Sollten Sie gleich mit Ihrem Hund spazieren gehen müssen, wäre Ihr erster Gedanke vermutlich so etwas wie »Was für ein mieses Wetter!«, das heißt, Sie würden die Erfahrung sofort mit dem Etikett »unangenehm« versehen. Bedenken wir aber, dass es vielleicht seit Wochen nicht geregnet hat, die Erde und alle Pflanzen nahezu nach Wasser lechzen, so wäre die Bewertung aus der Sicht dieser Lebewesen sicherlich: »Herrlich, endlich eine Erfrischung!« Letztlich ist es aber nur Regen, eine steife Brise und Nebel, der über allem hängt. Es ist einfach das, was es ist.

Natürlich besteht auch die Möglichkeit, die Erfahrung neutraler zu sehen: »Es gibt kein schlechtes Wetter, sondern nur unpassende Kleidung!« Aber egal ob solch ein Sprichwort zutreffend oder gar hilfreich ist oder nicht – es geht um diese ständigen inneren Kommentare und Bewertungen in jedem von uns und darum, diese ganz still werden zu lassen. Die Dinge so sein zu lassen, wie sie sind. Entspannt den alten Urteilen zuzulächeln und sie gehen zu lassen. Auf diese Weise entstehen Raum und Weite in Ihrem Geist, die neue Blickwinkel und eine feine Wahrnehmung einladen.


ÜBUNG
Still die Welt wahrnehmen

Suchen Sie sich einen Platz in der Natur, an dem Sie für eine Weile ungestört sind. Das kann eine abseits gelegene Wiese sein, eine Waldlichtung oder auch einfach eine Parkbank.

 Setzen Sie sich bequem, aber möglichst aufrecht hin und schließen Sie sanft die Augen. Entspannen Sie bewusst Ihren Körper, lassen Sie etwaige Anspannungen in Schultern, Armen und Beinen, Rücken und Becken nach und nach los. Entspannen Sie auch Ihr Gesicht, schenken Sie sich selbst und der Welt ein Lächeln!

 Beginnen Sie dann, auf Ihren Atem zu achten. Beobachten Sie, wie die Luft in Ihre Nase strömt, durch Ihre Kehle und Ihren Hals, in Ihre Brust und Ihren Bauch. Fühlen Sie, wie sich Brust und Bauch heben und beim Ausatmen wieder senken. Verbringen Sie einige Augenblicke mit der Beobachtung Ihres Atems und entspannen Sie sich immer mehr. Gedanken, die auftauchen, können einfach weiterziehen – es ist nicht nötig, dass Sie sich mit ihnen weiter beschäftigen.

 Geräusche von außen – der Wind in den Bäumen, das Knacken von Zweigen, der Gesang der Vögel, vielleicht das Bellen eines Hundes weit entfernt oder das Summen von Insekten – können Sie einfach wahrnehmen, ohne sie gedanklich genau zu identifizieren. Lauschen Sie ganz einfach! Nicht mehr und nicht weniger. Lassen Sie Ihren Geist still sein und einfach in der bloßen Wahrnehmung der Phänomene ruhen!

 Stellen Sie sich dann vor, wie einatmend der Raum in Ihnen weiter wird und ausatmend Altes und nicht mehr Benötigtes aus Ihnen weicht. Mit jedem Einatmen öffnen Sie sich der Welt, der Wahrnehmung dessen, was Sie umgibt und durchdringt. Mit jedem Ausatmen lassen Sie alte Vorstellungen, Glaubenssätze und Überzeugungen los.

Machen Sie diese Übung wenn möglich täglich für zehn Minuten. Sie werden schon nach kurzer Zeit feststellen, wie in Ihnen eine große Offenheit entsteht, wie Ihre Sinne sich weiter in die Welt ausstrecken und dass Sie immer mehr, immer feiner wahrnehmen.

Vielleicht kommt Ihnen die Übung noch nicht sehr schamanisch vor, doch sie ist eine gute Grundübung, die unseren Geist für alle weiteren Übungen vorbereitet, sodass uns auch andere Übungen leichter fallen. Je stiller unser Geist ist, je offener wir sein können, desto klarer werden unsere schamanischen Reisen sein, desto deutlicher werden die Botschaften sein, die wir erhalten.

DER GROSSE KREIS DES LEBENS

Alles hängt miteinander zusammen. Wohin wir auch blicken, sehen wir lebendige Wesen, die mit anderen im Austausch stehen. Im Schamanismus betrachten wir die ganze Welt als eine einzige große Symbiose, als einen großen heiligen Kreis. In diesem riesigen Kreis beziehungsweise Kreislauf hängt alles voneinander ab und bedingt einander. Ohne Bäume gäbe es keine für uns atembare Luft, ohne Regen gäbe es keine Bäume, ohne Wolken gäbe es keinen Regen, ohne Meere gäbe es keine Wolken. Und das ist nur ein sehr vereinfachtes Beispiel eines unglaublich komplexen Wechselspiels, das tagtäglich in der Natur stattfindet und unser Leben überhaupt erst ermöglicht. Auf wirklich allen Ebenen des Daseins können wir diese Verknüpfungen beobachten: Wenn etwa die Bienen durch den immensen Einsatz von Pestiziden sterben, werden viele Pflanzen nicht mehr bestäubt, was erheblichen Einfluss auf nachfolgende Ernten hat. Wenn die natürliche Bestäubung wegfällt, die Ernten dadurch immer schlechter werden und das Wenige, was bleibt, durch Pestizide vergiftet ist: Wem kann das nützen? Das Leben ist ein heiliger Kreis, in dem wir aufgehoben sind, in dem jedoch auch jede Handlung letztlich auf uns zurückfällt.

Wer wachsen will, braucht starke Wurzeln

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