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WIE DIE WELT ZU UNS SPRICHT

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Seit anderthalb Jahrtausenden hat sich mit der Expansion des Christentums zunehmend die Ansicht durchgesetzt, dass nur Menschen über eine Seele verfügten, andere Lebewesen indes unbeseelt seien. Und seit etwa 300 Jahren ist das Reden von einer Seele immer leiser geworden. Die alte Weltsicht ist einer weitgehend technischen Betrachtungsweise der Welt gewichen, derzufolge alles wie ein riesiges Uhrwerk funktioniert und das Denken dem Gefühl als überlegen gilt. Auch nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch sind Tiere bis heute rechtlich wie Sachen zu behandeln.

Doch wenn wir ganz ehrlich zu uns selbst sind, kann uns diese Sichtweise der Welt nicht wirklich zufriedenstellen. Jede noch so ausgefeilte Theorie wird uns nicht von dem Gefühl abbringen, das in uns aufscheint, wenn wir einem Tier in die Augen sehen. Kennen Sie irgendjemanden, der ernsthaft behauptet, sein Hund, seine Katze, sein Pferd seien seelenlos?! Und können Sie nicht auch selbst den Seelenfunken in jedem Wesen erkennen? Wann immer Sie sich wirklich auf ein anderes Lebewesen einlassen, ihm erlauben, Ihnen nahezukommen, werden Sie etwas Verbindendes spüren: eine Kraft, die in dem anderen Wesen genauso wie in Ihnen wirkt.

Wie sonst sollte überhaupt etwas leben, wenn es nicht eine Seele hätte, wenn es nicht beseelt wäre?!

Ich glaube, wir alle haben ein untrügliches Gefühl dafür, zu erkennen, dass jedes Wesen leben und glücklich sein will, seine Jungen aufziehen und sich geschützt und sicher fühlen möchte.

Und wenn uns das klar ist, wird es uns auch nicht schwerfallen, uralten Bäumen etwas Seelenvolles zuzusprechen, der Eiche, der Buche oder der Birke, die sich dem Licht entgegenrecken. Wir können dieses Leben auch im Farn entdecken, der sich im Wald ausbreitet, im Bärlauch, der den Boden duftend bedeckt, im Efeu, das den Baum emporklettert. Ebenso wird uns das Leben begegnen, wenn wir den Bach plätschern hören oder das Meer mit seinen meterhohen Wogen erblicken. Vielleicht fällt uns diese Sichtweise bei Steinen schwer, doch sie sind aus Mineralien gebildet, die unser Leben erst ermöglichen. Möglicherweise fällt es uns beim Anblick eines majestätischen Berges schon leichter, der auf der Erde thront, seit Urzeiten nahezu unbeweglich, und der doch von einer tiefen Ausstrahlung zeugt.

Steinwesen bevölkern unsere Welt seit Äonen und können daher auf einen reichen Erfahrungsschatz zurückgreifen – kaum ein Wesen hat mehr gesehen als sie. Aus diesem Grund werden sie als Großväter und Großmütter bezeichnet. Ebenso wie uns einst unsere menschlichen Großeltern Geschichten über längst vergangene Tage erzählt haben, werden uns auch die Steinwesen Geschichten zuflüstern, wenn wir uns in kontemplativer Weise mit ihnen verbinden. Es lohnt sich, den Alten zu lauschen.

Jedes Lebewesen singt sein eigenes Lied – und der schamanische Weg schult unsere Sinne darin, achtsamer zu werden, intensiver zu lauschen, genauer hinzuschauen, sorgfältiger zu riechen und zu schmecken, mit mehr Hingabe zu fühlen, vertrauensvoller zu erahnen und das jeweilige Lied in all seinen Nuancen wahrzunehmen.

Es gibt nichts auf der Welt, was nicht zu uns spricht. Alles und jedes offenbart ständig seinen Charakter, sein Geheimnis.

HAZRAT INAYAT KHAN | SUFI-LEHRER (1882–1927)

Wer wachsen will, braucht starke Wurzeln

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