Читать книгу SCHWARZE KITTEL - Katastrophen-Medizin - Jennifer Wegner - Страница 3
ОглавлениеSuchtrupp
Ein Rettungsteam bestehend aus vier Männern und zwei Hunden begann am späteren Vormittag des 14.1.2010 mit der Suche von Verschütteten in den Trümmern der Stadt Léogâne. Die Retter trugen weite dunkelblaue Overalls ohne Abzeichen, dazu schwarze, unifarbene Baseball-Mützen, schwere, schwarze Militärstiefel. Die Gesichter dieser Männer verschwanden größtenteils hinter einfachen Gesichtsmasken aus Papier, die mit zwei Gummischlaufen um die Ohren befestigt waren. Jeder trug einen großen, orangefarbenen Rucksack auf dem Rücken, die ihnen den Nimbus von Rettern verliehen und ihnen ohne Widerspruch Zugang zu den eingestürzten Gebäuden verschafften.
Zwei von ihnen wurden von offensichtlich ausgebildeten Suchhunden begleitet, einem kleinen weißen Terrier mit einigen orange-braunen Fellflecken und einem schwarz-weißen Border Collie mit einem weißen Kopf und schwarzen Ringen um die Augen und einem schwarzen Ohr, wodurch er lustig aussah und an einen Pierrot erinnerte.
Ein Hundeführer rechts, einer links schickten sie ihre Rettungshunde auf die Trümmerberge, trieben sie immer wieder an. Der größere der beiden Hundeführer rief seinem noch weniger erfahrenen Terrier-Mix seine Aufforderung:„Such Mensch! Such Mensch!“ zu und zeigte mit ausgestrecktem Arm, wo seine Hündin suchen sollte, während die Border Collie-Hündin „Wonder“ weitgehend selbständig die zerstörten Gebäude absuchte und sich mit ruhigem Bellen meldete, wenn sie einen menschlichen Körper aufgespürt hatte.
Die Männer des ausländischen Rettungsteams blieben in der Regel am Fuße der Stein-Holz-Haufen stehen, suchten nach Hohlräumen, leuchteten mit großen Taschenlampen in Zwischenräume. Selbst für die Hunde war die Arbeit auf den unebenen Trümmern mühsam. Die Tiere waren gut ausgebildet und achteten darauf, nicht auf loses Geröll oder wippende Holzplanken zu treten, aber für die Pfoten der Tiere waren spitze Steine, Scherben und Metallstücke gefährlich. Eine kleine Verletzung am Fußballen oder in den weicheren Teilen zwischen den Zehen würde den Ausfall des Suchhundes bedeuten.
Wonder war inzwischen 8 Jahre alt und hatte schon verschiedenste Einsätze nach Lawinen oder Erdrutschen hinter sich. Sie suchte systematischer und mit ihrer trainierten Nase viel schneller als die fünfjährige „Trixie“, die erst ihren zweiten Ernstfall erlebte und durch die vielen Menschen, die ebenfalls in den Trümmern rumkletterten, den Lärm und die unterschiedlichen Gerüche sich leichter ablenken ließ. Ihr Herrchen blieb in ihrer Nähe, rief sie zu sich, um ihr nochmals ein Suchgebiet zuzuweisen, das sie vergessen zu haben schien, lobte sie mit Worten und Klopfen ihrer Flanken.
Der Hundeführer selbst war schon knapp 50 Jahre alt, dies war bereits sein dritter Suchhund, so glich seine Ruhe und Erfahrung die Schwächen der jungen Hündin z.T. aus. Er hatte einen guten Blick dafür, wo sich in den übereinander liegenden Stein-Metall-Holz-Bergen Hohlräume befinden konnten, wo Menschen eine kleine Überlebenschance hatten.
Wonder hatte bereits drei Verschüttete aufgespürt: einen ca. fünfjährigen Knaben, der kaum verletzt von den Einheimischen ausgegraben werden konnte, sowie eine junge Mutter mit einem ungefähr zweijährigen Kind, das nur noch tot geborgen werden konnte. Einer der blau Gekleideten untersuchte die junge, regungslose Frau. Sie schien keine Frakturen aufzuweisen, aber der Schock des Verschüttet seins und/oder über den Tod ihres Kindes hatte sie in einen nahezu katatonen Zustand versetzt, sie bräuchte psychische Hilfe, aber dazu war jetzt keine Zeit, wenn man noch ein paar Überlebende aus den Trümmern retten wollte.
Suchhündin Wonder suchte eifrig Gebäude um Gebäude, Trümmerberg um Trümmerberg, Straße für Straße ab. Ein so riesiges Gebiet konnte man eigentlich nicht mit zwei Hunden absuchen, schon gar nicht gründlich wie im Kurs vermittelt, aber die Border Collie-Hündin suchte Schächte und Zwischenräume, schnüffelte nach menschlichem Geruch und gab Laut, wenn sie was roch. Sie fing weder an zu graben, noch versuchte sie sich in Hohlräume zu zwängen. Wonder hatte ihre Aufgabe perfekt begriffen und überließ den Helfern die Buddelarbeit, während sie schon weitersuchte.
Die deutschen Männer ohne Hunde begutachteten die Geretteten kurz, dann suchten sie zügig weiter um die Schuttberge herum nach Anzeichen für Verschüttete. Die Zeit drängte, da die Opfer inzwischen seit ca. 40 Stunden irgendwo abgeschottet von Essen und Trinken oder gar verletzt eingeklemmt harrten. 2-3 Tage ohne Flüssigkeit waren in der Regel die Grenze, wie lange Menschen ohne Nahrungsaufnahme überlebten. In 1-2 Tagen war nicht mehr damit zu rechnen, Opfer lebend zu bergen.
Die Bewohner, die überlebt hatten, konnte man in zwei Gruppen unterteilen: die, die noch unter Schock standen und apathisch zwischen ihren kaputten Hütten und Häusern auf dem Boden hockten, und die, die wild entschlossen waren, nach vermissten Angehörigen, Freunden und Nachbarn zu suchen und beim Rumklettern in den ungesicherten Ruinen ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten. Die Mauerreste eingestürzter Gebäude konnten durch Erschütterungen nachgeben, Steine ins Rutschen kommen und nur zum Teil eingebrochene Dächer zusammenfallen.
Die Helfer riskierten nicht nur ihr Leben, sondern auch das anderer Helfer und eventuell Verschütteter, die durch weitere Gerölllawinen erdrückt würden. Mit Metallstangen klopfte man rhythmisch gegen vibrierende Teile und lauschte auf Antwort. In den ersten 24 Stunden nach dem Erdbeben hatte man noch viele, oft nur zum Teil mit Trümmern bedeckte Bewohner gerettet, aber die Quote der Lebendrettungen sank immer weiter.
Plötzlich hörte man aufgeregtes Gekläff. Fremde und einheimische Helfer eilten zu einem hohen Steinhaufen in und vor einem ehemals dreistöckigen Gebäude. Der Terrier stand schwanzwedelnd im hinteren Bereich in ca. zwei Drittel Höhe des Trümmerberges und bellte noch immer freudig. Sein Herrchen suchte nach einem sicheren Weg zur Fundstelle, als bereits einige junge Männer quer über die Steine kraxelten und begannen, die weiter oben liegenden Hindernisse hinter sich zu werfen.
„Trixie, komm!“, rief der Rettungshundeführer von der rechten Seite. „Arrêtez! Danger! Non!“, versuchte er, die Haitianer zu bremsen, die keinen Blick für die Statik der Ruine hatten. Man hörte gedämpftes Schreien und wollte rasch helfen, dabei vernachlässigten die Laienhelfer die Eigensicherung, die professionellen Rettern mühsam antrainiert wird.
„Non! Laissez-les! Attention les murs!“, warnte die ausländische Stimme. Vergeblich! Trixies Besitzer schnappte seine Hündin und trug sie eilends auf den Armen nach rechts zur Seite, tätschelte sie lobend und sah verzweifelt zu, wie die Einheimischen einen seitlichen Zugang in den Haufen hinein zu legen versuchten.
Statt vorsichtig Stein für Stein zu entfernen und überlegt irgendwo abzulegen, wurden die Trümmer wahllos hinter den Schuttberg geworfen, da vorne an der Straße immer mehr Menschen sich versammelten und der Bergungsaktion zusahen. Fassungslos musste Trixies Herrchen mit ansehen, wie die Erschütterungen oder ein unglücklich geflogener Steinbrocken die hintere restliche Wand zum Einsturz brachten und wie beim Dominoeffekt innerhalb von Sekunden die rechte Stützmauer nach außen kippte, wodurch mit einem lauten Schlag die erhalten gebliebenen Decken- und Dachreste herunter krachten und die Helfer unter sich begruben.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Staubwolke die Sicht auf den nun fast doppelt so hohen Trümmerberg wieder freigab. Entsetzen bei den Umstehenden. Keiner glaubte, dass irgendjemand diesen Einsturz überlebt hatte, trotzdem begannen Einzelne, die Trümmer zu erklimmen, suchten nach den Körpern der Verunglückten.
Trixie versuchte vergeblich, aus den Armen des Besitzers frei zu kommen. Sie sah es offensichtlich als ihre Aufgabe an, mitzusuchen. Am liebsten hätte der Hundeführer sie nur an sich gedrückt, froh, dass sie beide dem Einsturz entgangen waren, aber die Hündin entwand sich dem Griff und machte sich eifrig an ihre Arbeit. Wahrscheinlich hätte sie auf einen scharfen Befehl gehorcht und wäre zurückgekommen, aber der Hundeführer riss sich zusammen. Das Gebäude war zerstört, von da drohte keine Gefahr mehr und vielleicht half Trixie beim Auffinden der unglücklichen Retter.
Vorsichtig stieg er selbst von vorne, wo das Geröll größtenteils schon tagelang gelegen hatte und hoffentlich stabiler war, ein Stück die Schutthalde hinauf, war noch nicht weit gekommen als das Gebell seines Hundes einen Fund meldete. Als die einheimischen Helfer begannen, den Verschütteten freizulegen, schickte der Rettungshundeführer seine Terrier-Hündin wieder auf die Suche. Von den rund zwölf unter dem zweiten Einsturz Begrabenen spürte Trixie fünf auf, die von anderen Helfern zur Straße hinab transportiert wurden, wo inzwischen ein zweiter Helfer im Blaumann die leblosen Körper untersuchte. Ein Mann war schwerverletzt, aber das Herz schlug noch, obwohl er wahrscheinlich nicht nur zahlreiche Knochenbrüche, sondern auch innere Blutungen hatte. Der Geborgene hatte kaum eine Überlebenschance, trotzdem bauten der Untersuchende und Trixies Hundeführer eine leichte Trage aus dem Gestänge an ihren Rucksäcken zusammen und trugen den Verletzten weg.
Die Bewohner von Léogâne suchten noch bis zum Einbruch der Dunkelheit nach den Leichen, aber ohne schweres Gerät blieben sowohl die rufende Person, die mittags gerettet werden sollte, wie auch mindestens fünf der Hilfe leisten Wollenden unten der tonnenschweren Last begraben.
Wonder hatte elfmal angeschlagen, eine Superleistung, denn es stellt für die Hunde Schwerstarbeit dar, physisch und psychisch unter diesen Umständen so viele Stunden zu arbeiten. Jede Stunde bekam die Hündin aus einer Trinkflasche frisches Wasser und eine Handvoll spezielles Trockenfutter mit raschen Energielieferanten. Vier Tote wurden bei der Suche aufgestöbert, aber die sieben Überlebenden, zum Teil in einem erfreulich guten Zustand, waren die eigentlichen Erfolge für den Besitzer des Border Collies.
Der andere Kollege im Overall war Arzt und untersuchte die Gefundenen, gab Anweisungen und trug einige der Verwundeten mit rekrutierten Einheimischen zum Stadtrand, wo ein umgebauter ehemaliger Militärhubschrauber auf das Suchteam wartete. Vier Schwerverletzte wurden so gut es ging versorgt, dann im Helikopter abtransportiert mit zwei der Retter zur medizinischen Betreuung. Die beiden Hundeführer suchten sich in der Nähe des Landeplatzes ein Nachtlager im Freien, wo sie in Schlafsäcken neben ihre treuen Begleiter ausgestreckt schliefen und darauf warteten, am nächsten Morgen zu einem weiteren Einsatz in einem anderen Ort vom Hubschrauber abgeholt zu werden.