Читать книгу SCHWARZE KITTEL - Katastrophen-Medizin - Jennifer Wegner - Страница 6

Оглавление

Straßenambulanz in Port-au-Prince

Die Ärztin war derart mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie sich ein Menschenauflauf um sie angesammelt hatte. Natürlich fiel sie hier als Weiße gleich auf, noch dazu mit ihrem Gepäck. Als der Wagen sich entfernte, schloss sich der dunkle Kreis dicht um sie. Alle Augen schienen auf sie gerichtet zu sein: argwöhnische, neugierige, hungrige, traurige, ablehnende, fragende, wartende Augenpaare. Erneut hob Jasmin ihre Hände neben den Kopf, nutzte das Symbol der offenen Handflächen, um ihr friedfertiges Kommen zu signalisieren. Hatten die Erwachsenen noch ca. einen Meter Abstand zu ihr gelassen, war das Innere des Kreises nun mit vielen kleinen Kindern ausgefüllt.

Wieder arbeitete Jasmins Gehirn fieberhaft. Zwar waren diese Menschen sicher nicht böse, aber vielleicht verzweifelt genug, um ihr die Rucksäcke abzunehmen, in der Hoffnung irgendwas Brauchbares zu finden. Sie versuchte, einen Schritt in die angegebene Richtung zu machen, aber die Menschen wichen nicht zur Seite, sondern bildeten eine bunte, stumme Wand. „Verschaff dir Respekt! Biete ihnen deine Hilfe an! Verbünde dich mit ihnen gegen das Unglück!“, ermunterte Jasmin sich selbst. Durch den Rucksack vor ihrem Bauch hatte sie ein stark eingeschränktes Gesichtsfeld nach vorne und unten und konnte sich nur unbeholfen bewegen.

Kurzentschlossen schnallte die Ärztin ihn wieder ab, zeigte mit der rechten Hand auf sich: „Je suis docteur“. Sie nahm eines der kleinen Kinder vor sich hoch auf den Arm, schaute dem verdutzten Mädchen in die Augen, indem sie deren Augenlider etwas hochzog, streckte die rechte Hand mit dem Daumen nach oben zeigend vor und sagte besonders laut „ok“. Sie setzte das erste Kind, das inzwischen zu weinen begonnen hatte, vorsichtig wieder runter, entdeckte rechts von sich einen ca. sechsjährigen Knaben mit stark verkrusteten Blutstreifen auf dem linken Arm. Sie hielt mit ihrer linken Hand auf dem Schlüsselbein des Jungen liegend die Schulter fest und bewegte vorsichtig den Arm des Kindes in jede Richtung. Freie Beweglichkeit in den Gelenken, also wie erwartet nur eine Weichteilwunde am Oberarm. Wieder machte sie die Faust mit nach oben gestrecktem Daumen als „ok“, lächelte ihren Patienten an und sah sich scheinbar emsig nach weiteren Verletzten um.

Sie registrierte, dass sie ein kleines bisschen mehr Spielraum zur Verfügung hatte. Die Stimmung entspannte sich, man nickte ihr zu, ließ Überlebende mit Verletzten durch die Reihen um sie rum nach innen. Was von ihr nur als deeskalierende Maßnahme gedacht war, begann sich zu einer Straßenambulanz zu entwickeln. Was konnte Jasmin hier ohne Hilfsmittel und im Straßendreck schon erreichen?

Dr. Wagner war jahrelang als Notärztin zu Unfällen gekommen und wusste, dass oft die Unverletzten ihren ärztlichen Beistand dringender benötigten als die Unfallopfer, um die man sich meist nach der Erstversorgung in Ruhe weiter medizinisch kümmern konnte, aber die Angehörigen gerieten in Panik, heulten hysterisch, kollabierten oder bekamen Herzanfälle, sie galt es zu beruhigen. Auch hier auf diesem gedrängten Platz sah die deutsche Ärztin ihre Hauptaufgabe darin, den Familien und Freunden Hoffnung zu machen, dass es den Erdbebenopfern bald besser gehen würde.

Nach dem fünften oder sechsten Patienten holte sie ihr Stethoskop aus dem Rucksack, mehr als Accessoire ihrer Autorität denn als medizinisch notwendiges Hilfsmittel. Was sollte es auch nützen, wenn sie jetzt trotz der Geräuschkulisse einen Herzfehler hörte oder Zeichen einer Lungenstörung wahrnahm? Sie spürte, wie sie nach jedem Untersuchten selbstbewusster wurde. Sie fragte nach Wasser zum Reinigen von Wunden – natürlich vergeblich – schnitt mit ihrer Verbandsschere, die sie aus der Seitentasche ihres großen Rucksacks zog, Stücke von Kleidung der Opfer ab und machte daraus provisorische Verbände um ihre Wunden, damit nicht noch mehr Keime durch den überall präsenten Staub eindrangen.

Sie schwitzte, obwohl sie Jacke und Fleecepullover schon bald ausgezogen und auf ihre Rucksäcke gelegt hatte. Ihr trockener Gaumen verlangte nach der Cola, die noch immer in der Jackentasche steckte, aber es war kein Gedanke daran, jetzt vor den anderen davon trinken zu können. Immer neue Verletzte wurden herbeigeschleppt. Bei einigen rechnete Jasmin damit, dass sie die nächsten 48 Stunden nicht überleben würden, trotzdem lächelte sie ihnen aufmunternd zu, streichelte ihnen über die Arme oder den Kopf. Mütter mit Kleinkindern umdrängten sie, manche hingen schon apathisch als Ausdruck der Austrocknung auf den Armen der Frauen. So positiv es wegen der fehlenden Unterkünfte war, dass im Januar auf Haiti keine Regenzeit ist, so hoffnungslos war es momentan wohl auf trinkbares Wasser zu hoffen.

Die Ärztin wusste nicht, wie lange sie Notfall-„Sprechstunde“ gehalten hatte, bevor sie sich aus der vorherrschend gebückten Position aufrichtete und streckte. Jasmin musste zum Krankenhaus finden, sie brauchte Unterstützung und Schutz, denn bei Anbruch der Dunkelheit wollte sie nicht mehr mit ihrem Gepäck allein unterwegs sein. „Où est l`hôpital?“ erkundigte sie sich, aber die Hilfesuchenden drängten prompt vehementer auf sie ein.

Jasmin untersuchte weiter zahlreiche Wunden, manche von ihnen hätten genäht werden müssen, alle gehörten gesäubert und verbunden. Sie konnte hier nichts ausrichten. Die Menschen brauchten dringend vor allem Wasser: zum Trinken, zum Waschen, zum Desinfizieren, zum Entfernen des überall präsenten Staubs, … Jasmin gestand sich ein, dass sie hier ihre Zeit aus medizinischer Sicht nutzlos vertat. Sie könnte mit ihrer Ausbildung Patienten, die eine intensivmedizinische Therapie brauchten, das Leben retten. Sie könnte bei großen Operationen über das Leben der Operierten wachen, stattdessen stand sie hier und betrieb eine Basismedizin, die auch jeder Sanitäter oder Ambulanzpfleger hätte durchführen können. Zwar tat es den Erdbebenopfern offensichtlich gut, dass mitten unter ihnen jemand nach ihnen sah, aber Jasmin wollte medizinisch etwas leisten und nicht vorwiegend Doktor spielen, um Ängste zu beruhigen.

Sie glaubte, einige Brüche ertastet zu haben, riet den Betroffenen ins Krankenhaus zu gehen, da sie hier nicht einmal provisorische Materialien zum Schienen hatte. Um Probleme am Zoll zu vermeiden, hatte sie keine Opiate mitgenommen, mit denen sie die stärksten Schmerzen einiger Verletzter für ein paar Stunden hätte lindern können, doch so stand sie mit leeren Händen dem Leid gegenüber. Wieder versuchte sie dem Ansturm zu entkommen, aber als sie den Rucksack anhob, um ihn auf den Rücken zu ziehen, griffen zig Hände nach ihr. Sie hielt die rechte Hand hoch und zeigte mit ihren Fingern „encore 5“, suchte mit den Augen Patienten aus, die aus ärztlicher Sicht untersucht werden sollten. Es war die übliche Triage, die rasche Einteilung in drei Kategorien: dieser Patient braucht keine ärztliche Hilfe, überlebt auch so; dieser benötigt medizinische Betreuung, um zu überleben; dieser hat kaum Chancen zu überleben, bekommt erst medizinische Hilfe, wenn die anderen mit besseren Überlebenschancen versorgt sind. Drei oder vier ihrer heutigen Patienten würden wohl kaum überleben. Die meisten der sie umgebenden Verletzten würden auch ohne Hilfe überleben. Nun wollte Dr. Wagner noch welche rausfischen, die sich irgendwo für weitere ärztliche Hilfe vorstellen sollten.

Es war erstaunlich ruhig, als die Ärztin die Wartenden musterte. Sie entdeckte ein junges Mädchen in der dritten oder vierten Reihe, dessen Gesicht rot-blau aufgeschwollen war, das rechte Auge verschlossen, die Nase schien nach links verschoben. Als Jasmin auf die junge Haitianerin zuging, öffneten sich die inneren Ringe ein wenig, um die Ärztin durchzulassen. Mit bereits total verdreckten Einmalhandschuhen tastete die Medizinerin die Schädelkalotte, dann das Gesicht vorsichtig ab. Der rechte Jochbogen war mehrfach gebrochen, aber ihre Kieferknochen schienen intakt. Wenn man den Jochbogen operativ richtete, konnte man dem Mädchen sicher dauerhaft helfen. Jasmin zog ihren Rezeptblock, der ihre Mitteilung legitimieren sollte, zum sechsten Mal aus der hinteren Hosentasche, vermerkte „Multiple fractures of the right os zygomaticum“ und drückte den Zettel einer Frau, die das Mädchen gerade umarmte, in die Hand. Dr. Wagner erklärte den beiden, dass sie unbedingt zu einem Krankenhaus gehen sollten, um die Fraktur richten zu lassen. „Merci, merci bien!“ dankte die Ältere. Jasmin hoffte, dass das Mädchen tatsächlich einen Operateur fand.

Erst jetzt registrierte Jasmin mit Schrecken, dass sie sich von ihrem Gepäck ein ganzes Stück entfernt hatte, wusste nicht einmal mehr genau, wo sie vorher gestanden hatte, aber die Menschen machten ihr respektvoll Platz und zeigten ihr mit der sich bildenden Gasse wie sie zurück zu ihren Rucksäcken kam. Noch vier Fälle hatte sie der Menge versprochen. Langsam drehte Jasmin sich suchend um ihre eigene Achse, winkte einer Gruppe Männer zu, die einen jungen Mann auf einem Brett sitzend hielten, der krampfhaft nach Luft zu ringen schien. Dessen linker Brustkorb war deformiert und bewegte sich kaum. Irgendetwas Schweres hatte ihm zahlreiche Rippen mehrfach gebrochen, dabei war die Lunge wahrscheinlich aufgespießt worden, er müsste dringend operiert und mit Druckluftbeatmung versorgt werden. Die Ärztin legte ihr Stethoskop auf dem Thorax auf, links kein Atemgeräusch, die Lunge war kollabiert. Jetzt hätte sie gerne zumindest rasch ein Röntgenbild gemacht, um ihren Verdacht auf einen Pneumothroax zu bestätigen. Wenn Luft durch eine Verletzung von Lunge und Lungenfell zwischen Lungen- und Rippenfell gelangt, ist das nötige Vakuum zwischen den beiden Pleurablättern zerstört, die Lunge folgt nicht mehr den Bewegungen des Brustkorbs, um Luft beim Einatmen anzusaugen. Gefährlich wird es, wenn die Luft durch einen Ventilmechanismus zwischen Lunge und Brustwand nicht mehr entweichen kann, wodurch der Innendruck immer weiter steigt und Herz und große Gefäße verschoben werden.

Die Anästhesistin musste sich rasch entscheiden. Ein Handgriff könnte dem Mann primär das Leben retten falls ein Ventil-Pneumothorax vorlag, aber für einen Arzt, der gewohnt ist, möglichst steril zu arbeiten, war ein Eingriff auf offener Straße, bei all dem Schmutz, ein Horror. Die möglicherweise eindringenden Keime würden den Mann sekundär an Infektionen sterben lassen, wenn er nicht antibiotisch behandelt werden konnte. Jasmin bedeutete den Trägern, den jungen Mann auf den Boden zu legen, wies an, dass je einer der Umstehenden Beine und Arme fixierte, schob das Brett seitlich unter den linken Oberkörper, ein Mann hockte sich und nahm den Kopf des Thoraxpatienten in den Schoß, hielt ihn mit den Händen seitlich fest. Jasmin holte die größte Kanüle, die sie im Gepäck hatte, aus ihrer Rucksackseitentasche, legte sie noch eingepackt dem Patienten auf den Bauch und umfasste den Brustkorb des Mannes mit beiden Händen. Die gespreizten Finger spürten links die Fragmente der gebrochenen Rippen. Mit sanftem Druck versuchte Frau Dr. Wagner, die Knochenteile in eine annähernd anatomische Position zu schieben und zu adaptieren.

Auch in Deutschland hätte sie bei einer Rippenserienfraktur wenig mehr tun können. Ein Gips am Brustkorb war unmöglich und von dem früher üblichen Bandagieren war man wieder abgekommen, weil der Verband die Atmung auch auf der gesunden Seite einschränkte und weitere Komplikationen wie Lungenverklebungen oder Lungenentzündungen zur Folge hatte. Allerdings wäre ein Patient mit einem instabilen Rippenthorax unter anderen Bedingungen mit Druckbeatmung zur inneren Schienung und ausreichenden Belüftung therapiert worden. Sie tastete sorgfältig Rippe für Rippe im Seitenvergleich ab, schob die Bruchstücke in den Weichteilen in eine waagerechte Position. Anfangs versuchte der Thoraxpatient sich unter Schmerzgebrüll aus dem Griff der anderen Männer zu lösen, doch er hatte kaum noch Kraft und schnappte schon angestrengt nach Luft.

Die deutsche Ärztin realisierte, dass das bisher erreichte Repositionsergebnis reichen musste, wenn sie ihn nicht unter ihren Händen sterben lassen wollte. Sie zog hastig die verschmierten Handschuhe aus, entnahm vorsichtig die sterile Kanüle, tastete linkes Schlüsselbein und die oberen Rippen, bevor sie die lange Nadel bis zum Plastikansatz in die linke Thoraxspitze stach. Die Kanüle steckte regungslos im Brustkorb. Trotz der angespannten Ruhe um sie herum, war es zu laut, als dass die Ärztin das typische Zischen bei erfolgreicher Punktion durch das Entweichen der gefangenen Luft hätte hören können. Der junge Schwarze begann tiefer zu atmen, öffnete die Augen wieder. Die Nadel begann sich leicht wippend zu bewegen. Die linke Lunge wurde wieder belüftet. Jasmin hatte es geschafft. Sie gab den Helfern ein Zeichen, den Mann freizugeben und beobachtete, wie er nach und nach ruhiger atmete. Der verletzte Brustkorb würde dem Mann noch wochenlang bei jedem Atemzug Schmerzen bereiten, aber er war stark und hatte eine reelle Chance zu überleben.

Auf Französisch erklärte sie zwei der älteren Männer, die ihn gebracht hatten, dass er sich möglichst wenig für vier Wochen bewegen sollte, am besten sitzend schlafen sollte, um die Rippen so weniger zu belasten. Geschient durch die Zwischenrippenmuskeln würden die costalen Fragmente hoffentlich wieder miteinander verwachsen. Sie sollten schauen, ob sie etwas gegen die Schmerzen für ihn auftreiben konnten. Zu Hause hätte man geduldig ausprobiert, welches Schmerzmittel in welcher Dosierung schmerzlindernd wirkte, ohne eine Atemdepression zu verursachen, aber hier hoffte sie nur, dass der Jüngling es mit Glück schaffte.

Sie kniete noch immer neben ihrem letzten Fall, als sie eine deutsche Stimme wahrnahm: „Frau Doktor! Frau Doktor!“ Überrascht wand sie den Kopf und hielt Ausschau nach dem Rufer. Völlig unerwartet stand plötzlich ihr Flugnachbar neben ihr und half ihr auf die Füße. „Herzlichen Glückwunsch! Tolle Arbeit!“

Jasmin hatte sich zuvor so auf ihren Patienten konzentriert, dass sie alles andere ausgeblendet hatte. Jetzt erst entdeckte sie ein Fernsehteam, das sie im Fokus hatte, bemerkte, dass sich ein kleiner freier Platz um sie und den Thoraxverletzten gebildet hatte.

Sie hatte den Umstehenden noch drei Fälle versprochen, aber sie war physisch und psychisch fix und fertig, hatte nur den einen Wunsch, hier wegzukommen. Der Deutsche gab dem dreiköpfigen Fernsehteam ein Zeichen. Wie Bodyguards bahnten sie ihr einen Weg durch die Masse und schleppten ihre Rucksäcke mit. Ein kurzes Stück weiter bog der Trupp nach links in eine Seitenstraße ein, hier war es weniger belebt. Die drei Fremden verabschiedeten sich mit raschem Gruß, der Deutsche dankte ihnen auf Spanisch und schon verschwanden die Reporter auf der Suche nach neuen Bildern.

Jasmin wäre am liebsten einfach nur auf einen der Steinhaufen gesunken, um endlich wieder zu sitzen, aber der Retter hatte sicher recht, sie anzutreiben: „Wir sollten sehen, dass wir noch ein ganzes Stück von Ihrer Straßenambulanz wegkommen, bevor neue Patienten behandelt werden wollen.“ Jasmin bückte sich, um den grünen Rucksack auf den Rücken zu ziehen, aber sie hatte keine Kraft mehr, die 30 kg auch nur anzuheben. „Nehmen Sie den kleinen“, wies der Landsmann sie an und schnallte sich die Tragriemen des großen länger, bevor er ihn mit Schwung auf seinen Rücken drehte. Dankbar zog Jasmin den schwarzen Rucksack mit einem Drittel des Gewichts auf ihren Rücken, doch sogar diese Last ließ sie fast zusammenbrechen. Tatsächlich hatte sich die Seitenstraße, die kaum noch eine freie Gasse zwischen den aufgetürmten Schutthügeln aufwies, in der Zwischenzeit mit Menschen gefüllt.

Jasmin folgte dem Journalisten, der einen Weg über kleinere Stein- und Sandansammlungen suchte, was den Vorteil hatte, dass andere Leute ihnen nicht so schnell folgen konnten wie auf dem ebenen Untergrund, aber es war sehr anstrengend und Jasmin befürchtete immer wieder, sich den Knöchel zu verstauchen, wenn Steine unter ihrem Tritt wegrollten oder ihr Fuß in Zwischenräumen von Holz, Steinen, Metall eingeklemmt zu werden drohte.

Der GEO-Abgesandte bog mehrmals rechts und links ab, dann hielt er an und sah sich nach der Deutschen um, die ihm nur mit Mühe folgen konnte. Als sie ihn erreicht hatte, wies ihr Begleiter auf einen mehrstöckigen riesigen Steinkasten, dessen linke Hälfte zusammengestürzt war. „Das ehemalige UNO-Hauptquartier“ erläuterte er wie ein Touristenführer, „allein hier mindestens 100 Tote unterschiedlichster Nationalität“.

An einer erhaltenen Hausecke lehnte Jasmin sich erschöpft an. Ihr fiel die Cola-Dose ein, die in der auf dem großen Rucksack oben festgeschnallten Jackentasche sein musste. Jetzt 300 ml kühle Koffeindroge war genau das Richtige! Als sie die Aludose in ihrer Hand hielt, hätte sie stutzig werden müssen wegen der aufgetriebenen Form, aber Jasmin öffnete die Dose gierig und wurde von einer rausspritzenden schwarzen Fontäne erwischt, die Jasmins Polo-Shirt verdreckte. Damit waren leider ca. 100 ml des Getränks verloren, aber Jasmin setzte sofort an, um den Rest zu leeren, doch schon nach dem zweiten Schluck setzte sie ab. Die warme Zuckerbrühe ließ sie beinah würgen. Welch eine Enttäuschung! Ihre Durstgefühle hatte sie immer mit Gedanken an diese Reserve bekämpft, jetzt war ihre Reserve nahezu unbrauchbar und ihr Durst kam ihr noch quälender vor als zuvor. Hilflos sah sie Harald Soundso an.

„Am besten ich bringe Sie jetzt zur Traumaklinik“, lenkte er sie ab und drehte sich zum Gehen. Unentschlossen hielt Jasmin die Getränkedose in der Hand. Trinken oder nicht trinken – das war hier die Frage! 100 ml Flüssigkeit waren besser als nichts, beschloss die inzwischen vom Aussehen eher an eine Obdachlose denn an eine Ärztin erinnernde Medizinerin und leerte angewidert die kleine Dose mit dem süßen Gesöff. Anfangs schleppte die Deutsche die leere Coladose noch eine Weile in der rechten Hand mit. Es widerstrebte ihr, Müll einfach so abzustellen, aber sie brauchte beide Hände, um immer wieder Halt zu suchen und ließ die Aludose schließlich in den Trümmern einer Hütte stehen.

Sie musste sich derart auf die vor ihr liegenden Schritte konzentrieren, dass sie kaum etwas von den neugierigen Blicken der Haitianer mitbekam.

Die Sonne brannte mit gefühlten 30° herab. Der Staub, den sie bei jedem Schritt aufwirbelte, kroch in Nase, Mund und Augen und reizte. Der Gestank wurde mit zunehmender Hitze immer unerträglicher. Es mussten Hunderte von Leichen bereits im Verwesungsstadium sein. Zu Hause vor dem Fernseher hörte es sich immer so neutral an: „Es besteht Seuchengefahr!“, aber diese Zustände, wo sich die Behelfsunterkünfte neben den gestapelten Leichen befanden, der Todesgeruch allgegenwärtig war, das stellte sich keiner der bequem im Sessel vor den Nachrichten Sitzenden so vor. Wenn hier nicht rasch möglichst die Leichen beerdigt oder besser noch verbrannt wurden, würde es nach der ersten Welle der Erdbebentoten bald eine zweite durch Seuchenopfer geben. Sauberes Wasser zum Trinken und Kochen war rar, die hygienischen Verhältnisse katastrophal auf der Straße und die Nachtlager oft auf dem nackten Boden keine Erholung.

Jasmin konnte nicht mehr weiter und ließ sich einfach auf eine aus dem Schutt ein kleines Stück herausragende Holztür fallen. Sie zog den Ballast ab. Erschöpft ließ sie ihren Kopf nach vorne auf die angezogenen Knie sinken. Bei anderen Hilfseinsätzen waren sie als internationale Helfer in Gruppen unterwegs gewesen, wurden zu den Einsatzorten gefahren, waren meist von mindestens zwei bewaffneten Blauhelm-Soldaten beschützt worden, aber durch ihren kopflosen Aufbruch war sie auf sich gestellt und nach noch nicht mal 24 Stunden auf Haiti am Rande der Dekompensation. Die Menschen um sie herum waren mit eigenen Problemen beschäftigt, warfen Blicke zu ihr rüber, aber man ließ sie in Ruhe.

Sie wäre am liebsten eingedöst, ihr war momentan alles egal, aber der Deutsche war zurückgekommen, packte sie am Arm und forderte sie auf: „Kommen Sie, noch ein kurzes Stück, dort können wir dann eine Pause machen!“ Er war ihr unangenehm aktiv. Ihm schien die Hitze gar nichts auszumachen. Nicht größer als Jasmin und kaum athletischer gebaut eilte er mit dem dreifachen Rucksackgewicht durch die zerstörte Stadt, als ob es ein Wettrennen war. Ihr Körper brauchte Erholung, sonst kollabierte sie bald. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie weitermussten. Noch siegte ihr Kopf. Sie richtete sich auf und war dankbar, dass der andere ihr den schwarzen Rucksack hochhob und in die Schulterriemen half.

Aus Rücksicht auf sie schlug er ein langsameres Tempo an, führte sie noch eine subjektive Ewigkeit weiter, bis er vor den Ruinen der großen katholischen Kathedrale kurz anhielt, dann durch das zerstörte Portal einige Meter in die oben offene Kirche trat.

Er hielt an und stellte den grünen Rucksack an einer z.T. erhaltenen Seitenmauer ab, dann half er Jasmin mit dem schwarzen. „Hier ist es kühler und sicher“ behauptete er mit ruhiger Stimme. Sie waren nicht allein. Ungefähr 30 Leute waren damit beschäftigt, die Kirchenbänke und die Mittelgasse von den eingestürzten Dachmassen zu befreien. Die Stufen zum zerbrochenen Altarbild waren frei geräumt und Gläubige knieten betend davor. Tatsächlich spendeten die dicken Steinmauern noch immer etwas kühlen Schutz. Eine Weile betrachteten beide vor den Rucksäcken sitzend die unwirkliche Szene: das Blau des Himmels, das sich statt des Dachs über der Kathedrale spannte, bot einen kräftigen Kontrast zu den sandfarben-rötlichen Mauerresten, die in unterschiedlicher Höhe hinaufragten. Wenn man sich in diesem riesigen Bauwerk aus großen Steinen befand, bekam man ein Gefühl dafür, welch immense Energie in dem letzten Erdbeben steckte. Jasmin war sich der Gefahr von kleineren Nachbeben, die laut der Geologen in Internetartikeln noch zu erwarten waren, bewusst. Die Bevölkerung war darum ausdrücklich aufgefordert worden, noch nicht wieder in ihre festen Behausungen zurückzukehren.

Langsam sammelten sich Jasmins Kräfte, zumindest mal die geistigen, wieder: „Woher kennen Sie sich hier so gut aus?“

„Ich habe im Rahmen einer Forschungsarbeit vier Monate auf Haiti gelebt, um die tektonischen Bewegungen der nördlichen Septentrional- und der südlichen Enriquillo-Platain-Garden-Verwerfung zu messen mit jährlich ca. 7 mm Drift. Der größte Teil Haitis besteht aus Auffaltungsgebirgen. Jahrelang bin ich 1-2x pro Jahr zurückgekommen, um an diversen Messpunkten Daten zu sammeln. Ich habe daher noch einige Freunde auf der Insel – hoffe ich zumindest. Ich werde in den nächsten Tagen rumreisen und schauen, wer das Beben überlebt hat. Als Reporter schreibe ich über das Unglück für die Menschen, aber als ehemaliger Wissenschaftler interessiert mich, was an den Messstellen jetzt für Veränderungen sind, ob man damit eine Prognose erstellen kann, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für weitere kleine Beben ist und ob man den älteren Vorschlägen mancher Geologen folgten sollte, Haitis Hauptstadt nicht hier an so einem gefährdeten Punkt wieder aufzubauen, sondern eher im Norden. Da die Karibische und die Nordamerikanische Platte seit Jahrhunderten in Bewegung sind, gab es schon einige schwere Erdbeben auf Haiti, zuletzt vor rund 200 Jahren. Bereits 2008 wurde in einer Forschungsarbeit ein baldiges Erdbeben der Stärke 7,2 vorausgesagt, nachdem es ca. 40 Jahre an der Verwerfung auffallend ruhig war. Es ist typisch für eine voll geblockte Verwerfung, dass plötzlich eine enorme Energie freigesetzt wird wie seit dem 12. Januar. Rund 15 Nachbeben in den letzten drei Tagen, die Magnituden über 5,0 aufwiesen!“

Jasmin wunderte sich, wie der sonst so ruhige Mittvierziger durch den Eifer der Erklärungen 20 Jahre jünger wirkte. „Wie kommen Sie denn von hier weg? Eisenbahnlinien, Straßen, alles scheint zerstört!“

„Einer meiner Bekannten hat einen kleinen Hubschrauber, mit dem er zahlungskräftige Touristen bei Rundflügen transportiert hat. Er hat sich bereit erklärt, mich auf Kosten von GEO die 30 km nach Léogâne zu fliegen. Von dort werde ich mich irgendwie weiter durchschlagen. – Geht es wieder?“

„Wie weit ist es denn noch?“

„Noch ungefähr 2 km, aber ich habe keine Ahnung wie gut wir in die Richtung vorankommen.“

„War das Zufall, dass Sie an dem Platz aufgetaucht sind?“

„Nein! Eine Journalistin, die ich traf, erzählte, dass eine Weiße dort auf der Straße praktiziere. Ich dachte, dass ich Ihnen vielleicht behilflich sein kann. Unterwegs traf ich u.a. das spanische Kamerateam und bat sie mitzukommen, da die Lage wegen der Überfälle und Plünderungen sehr unübersichtlich ist, zumal mit großem Gepäck wie Sie es dabeihaben!“

„Das war ausgesprochen nett von Ihnen! Ich bin Ihnen sehr dankbar!“

„Nennen Sie mich Harry!“, bot der Jüngere an.

„Jasmin!“, ging die Ältere auf das Duz-Angebot ein.

SCHWARZE KITTEL - Katastrophen-Medizin

Подняться наверх