Читать книгу SCHWARZE KITTEL - Katastrophen-Medizin - Jennifer Wegner - Страница 4
ОглавлениеFlughafen Toussaint Louverture
Das Geräusch der Fasten Seatbelt-Zeichen wegen des beginnenden Landeanflugs ließ die Passagiere hochschrecken. Es war inzwischen dunkel draußen. An Bord herrschte eine auffällige Stille. Es war insgesamt ein ruhiger Flug gewesen, keine Turbulenzen und in der Kabine kein Lärm. Es waren keine Familien mit Kindern an Bord. Viele der Reisenden hatten lange Phasen des Flugs verschlafen, doch jetzt war die Anspannung deutlich zu spüren. Die meisten machten sich wohl Gedanken, was auf sie im Unglücksgebiet zukam.
Problemlose Landung, nur wenig Applaus, alle blieben noch ruhig auf den Sitzen, bis die Maschine endgültig zum Stillstand kam. Kein Gehetze und Gedränge beim Ausstieg, sondern zügiges, geordnetes Verlassen des Flugzeugs über die herangefahrene Gangway. Auch bei der spärlichen Beleuchtung erkannte man, dass die meisten Flughafengebäude des Aéroport international Toussaint Louverture vom Erdbeben nicht verschont geblieben waren, vor allem der hohe Tower war schwer beschädigt.
Bei der Landung war es laut Monitoranzeige 20 Uhr 42 Ortszeit. Jasmin hatte ihre kleine Uhr, die innen am Bauchbeutel befestigt war, umgestellt. Trotz des faulen Tages war sie müde und sehnte sich eigentlich nur nach einem Bett.
Die Reisenden standen bis auf wenige, die offensichtlich nur mit Handgepäck gereist waren und schon mit Auto oder Jeep abgeholt wurden, auf dem Rollfeld rum, warteten, dass nun das Gepäck direkt aus dem Frachtraum runter geworfen wurde auf einen flachen Hänger, der dann von einem kleinen Jeep gezogen zu den Passagieren gebracht wurde. Während die Koffer und Rucksäcke vom Hänger an die Besitzer verteilt wurden, beluden weiter hinten Angestellte den nächsten Gepäckwagen. Der Vorteil dieser direkten Gepäckausgabe war zweifellos, dass Gepäck nicht ohne weiteres irgendwo verschwinden konnte. Da Jasmin so früh eingecheckt hatte, war ihr Rucksack bei den letzten Gepäckstücken. Hoffentlich hatten die Infusionsbeutel die mechanische Belastung im Frachtraum und beim Entladen heil überstanden!
Das Rollfeld leerte sich erstaunlich schnell. Jasmin hielt vergeblich Ausschau nach einem Shuttle-Bus in die Hauptstadt, schließlich mussten ja alle irgendwie weiterkommen. Die Deutsche erkundigte sich bei zwei Stewardessen, die die Gepäckabwicklung beaufsichtigten, nach einer Transfermöglichkeit oder einem Flughafenhotel, vergeblich. Das Flugpersonal war in einem Hotel im zum Teil erhaltenen Seitenflügel des Flughafens untergebracht, aber für die Passagiere gab es hier keine Übernachtungsmöglichkeit. Schwer beladen mit ihren beiden Rucksäcken ging Jasmin um das Flughafengebäude, dessen Zugang gesperrt war, durch zwei Tore, vorbei an drei Wächtern mit Maschinenpistolen, zum Ausgang. Die Menschen zerstreuten sich, fast alle wurden abgeholt, sie hatten offensichtlich ihre Ankunft besser vorbereitet als Jasmin die ihre. Sie bat zweimal vergeblich, ob man sie mitnehmen könnte, aber die Autos waren bereits besetzt.
Hier gab es nicht mal Schutz, wo sie die Nacht auf ihrer Matte hätte verbringen können, Jasmin fühlte Frust und Ärger aufsteigen. Frust, dass nach der langen Anreise ihre Weiterreise schon am Flughafen behindert wurde. Ärger auf sich, dass sie diese Probleme nicht vorausgesehen hatte. Unentschlossen blieb sie in Sichtweite der Wächter stehen, vielleicht würden sie ja mal abgelöst und es ergäbe sich eine Mitfahrgelegenheit. Schließlich setzte sie sich an einen oben abgebrochenen Fahnenmasten gelehnt auf ihre Isomatte, legte den Kopf auf die Knie und versuchte sich einzureden, dass sie hier so weit außerhalb wahrscheinlich sicherer war, als wenn sie jetzt in der Innenstadt ohne Ziel herumirren würde. So hatte sie sich das nicht vorgestellt! Sie wollte mit dem Shuttle in die City, dort zu einem Krankenhaus, hatte erwartet mit offenen Händen empfangen zu werden, alle glücklich über Infusionen und Antibiotika. Man würde ihr ein Feldbett oder ein Zelt für ihre Matte zeigen und sie fragen, wo sie denn arbeiten möchte. Stattdessen war sie schon bei der Ankunft das erste Mal auf sich allein gestellt.
Nach einer Weile wurde es ihr am Mast zu unbequem, sie suchte sich eine heil gebliebene Außenmauer des Flughafengebäudes, schnallte den Schlafsack ab, streckte sich darauf entlang der Steinmauer aus und legte den Rucksack wie einen Wall auf ihre andere Seite. Eine Weile lauschte sie auf jedes Geräusch, aber dann war sie wohl eingeschlafen und wurde erst wieder munter als sie Motorengeräusch hörte. Die Ärztin schnappte ihre Sachen und eilte um die Mauerecke zu den Wächtern, die gerade in einen kleinen Jeep stiegen, während ihre Kollegen den Dienst antraten.
Aufgescheucht durch die Geräusche, die Jasmin mit dem auf dem Boden schleifenden Schlafsack erzeugte, zielten die Soldaten mit den Waffen auf die sich nähernde Person. Jasmin blieb prompt stehen, stellte den nur rasch in die rechte Hand genommenen kleinen Rucksack neben sich auf den Boden und ließ Matte und Schlafsack links niedersinken, erhob die freien Hände auf Kopfhöhe und rief „Pas de danger! Pas de danger!“
Einer der abgelösten Soldaten stieg aus und kam zu ihr rüber. Er erinnerte sich an die Frau, die abends auf der Suche nach einem Bus gewesen war. „Que voulez-vous?“, fragte er knapp.
Die Deutsche kam sich lächerlich vor mit den erhobenen Händen als ob sie ein ertappter Verbrecher wäre, nahm sie langsam runter und faltete sie vor dem Bauch. Sie erklärte, dass sie als deutsche Ärztin gekommen war, um zu helfen, aber keine Möglichkeit gefunden hatte, zum Krankenhaus nach Port-au-Prince zu gelangen. Sie bat, dass man sie mitnähme. Der junge Mann rief etwas rüber zum Wagen, kurze Diskussion hin und her, dann machte er ihr ein Zeichen, zum Auto zu gehen. Er folgte ihr mit ein paar Schritten Abstand. Jasmin musste ihr Zeug allein schleppen, aber er stemmte die Rucksäcke hinten auf die kleine Ladefläche, ließ sie auf den Mittelplatz und setzte sich an die Tür. Dr. Wagner wäre am liebsten wieder ausgestiegen. Sie hasste diese Enge und eingezwängt zwischen zwei Militärangehörige zu sein, erschien ihr eher bedrohlich als beruhigend, doch wie sollte sie sonst an ihr Ziel kommen?
Der Jeep startete, Jasmin versuchte trotz der Ruckelei auf unebener Straße möglichst wenig Körperkontakt zu ihren Nachbarn zu haben. Sie erinnerte sich an psychologisches Briefing für Einsätze in Krisengebiet, wo man mit Entführung und Vergewaltigung rechnen musste. „Bau eine persönliche Verbindung auf, lenke sie ab, gib ihnen keine Zeit auf dumme Gedanken zu kommen …“. Jasmin betonte, wie froh sie war, dass man sie in die Stadt bringe, dass sie als Notärztin den Schwerverletzten helfen wollte, dass sie als Anästhesistin bei schwierigen OPs gebraucht würde, dass Intensivmedizin Spezialisten brauchte, dass sie schon öfter mit „Ärzte ohne Grenzen“ in Krisengebieten war. Wie sollte sie eine Beziehung aufbauen, wenn sie doch fürchtete mit jeder Frage über die Situation in der Stadt oder die Familien Wunden bei den Männern aufzureißen? Sie prüfte jeden Satz, ob er unverfänglich war, versuchte insbesondere den Beifahrer ins Gespräch zu ziehen, wo denn seiner Meinung nach am dringendsten Hilfe benötigt wurde, was ausländische Helfer tun sollten, welche Hilfsgüter am wichtigsten seien …
Plötzlich bog der Wagen unerwartet von der Straße nach links ab auf einen steinigen Feldweg. Jasmins Gedanken arbeiteten auf Hochtouren, was könnte sie tun, sobald der Wagen stehen blieb. Der Fahrer wandte sich ihr kurz zu: „…cassé …“. „Kaputt“ schnappte Jasmin nur auf. Wollte er ihr sagen, dass die Straße kaputt war und sie deswegen einen Umweg machten? Sie war viel zu angespannt, um noch ein Gespräch am Laufen zu halten.
Auf der Uhr im Armaturenbrett sah sie, dass es morgens kurz nach ½ 5 war. Es wurde schon etwas heller. Sie entdeckte viele Fahrzeugspuren auf dem Nebenweg, was dafürsprach, dass die beiden sie nicht an einen einsamen Fleck entführen wollten. Langsam sank ihr Adrenalinspiegel wieder etwas ab, sie spürte Hunger und vor allem Durst, dachte sehnsüchtig an ihre Dose Cola in der Jacke, aber wollte sie nicht vor ihren Nebenmännern rausholen und trinken, sondern begnügte sich mit dem Gedanken, dass sie in der Stadt angekommen zuerst den quälenden Durst löschen wollte.