Читать книгу SCHWARZE KITTEL - Katastrophen-Medizin - Jennifer Wegner - Страница 9
ОглавлениеStraßenambulanz in Léogâne
Jasmin wandte sich an eine Frau, die seitlich des Holzstapels hockte und deren linker Arm unnatürlich verdreht herabhing. Jasmin sprach sie in langsamem Französisch an: „Ich bin Ärztin, kann ich mir Ihren Arm mal ansehen?“ Die Frau reagierte kaum. Jasmin hockte sich trotzdem vor die Verletzte, bewegte mit ihrer rechten Hand vorsichtig den Arm, während die linke Hand auf der Schulter tastete. Wie erwartet war die Schulterpfanne leer, der Arm war nach vorne ausgekugelt. Jasmin stellte ihr rechtes Bein angewinkelt neben die Frau, zog eine kurze Latte aus dem Stapel, die sie unter die linke Achsel der Patientin schob, um dann mit einer raschen Zug-Drehbewegung den Oberarmkopf zurück in die Gelenkpfanne zu bringen. Die Frau hatte kurz aufgejammert, aber als Jasmin den Arm erneut auf seine Beweglichkeit prüfte, schien sie keine größeren Schmerzen mehr zu haben.
Die Ärztin holte zwei Paar Einmalhandschuhe, eine Packung Verbandsmull, Schere und Desinfektionsmittel sowie ihr Stethoskop aus dem großen Rucksack, packte alles zum Schutz gegen den Staub in eine Jutetasche. Sie schob die Rucksäcke hinter den Holzstapel und zog zwei Latten schräg darüber, um sie ein wenig zu verstecken. Anschließend begab sie sich vorne auf die breitere Gasse, ging noch ca. 50 m zurück Richtung Auto und suchte sich einen ebenen Platz für ihre zweite Straßenambulanz. Sie sah sich um, hängte sich demonstrativ ihr Stethoskop um den Hals und machte mit weit ausgestreckten Armen eine einladende Geste. Es wimmelte hier nur so von Kindern unterschiedlichen Alters, die sie neugierig beäugten, aber nicht näherkamen. Die Erwachsenen ignorierten Jasmin, beschäftigt mit der Suche nach Verwendbarem in den Haufen aus zerstörten Gebäuden oder an kleinen Feuern, über denen in Töpfen etwas zu essen köchelte. Manche Mütter hielten kleine Kinder im Arm, die apathisch bei der Hitze vor sich hindösten.
Die deutsche Ärztin frustrierte ihre Ohnmacht. Mit Wasser, Suppe und Infusionen könnten viele dieser exsikkierten, ausgetrockneten, Menschen gerettet werden, aber bis die externe Hilfe auch in die letzten Gassen käme, würde es für viele der Erdbebenopfer zu spät sein. Dr. Wagner lehnte sich abwartend an einen Stapel Trümmer. Sie überlegte, ob sie von ihren Kaugummis an die Kleinen verteilen sollte. Es würde vielleicht die Hemmschwelle senken, aber sie hätte kaum für alle Kinder auch nur ein Kaugummi, es könnte Streitereien auslösen. Außerdem würde es das Anbetteln von Ausländern fördern – Jasmin entschied sich, Stücke eines Kaugummistreifens als Belohnung nach einer Untersuchung einzusetzen.
Einige Meter weiter lag ein ca. 16-jähriges Mädchen regungslos am Straßenrand. Anfangs dachte Jasmin, sie schliefe, fand es ungewöhnlich für das jugendliche Alter. Sie ergriff ihre Tasche und ging auf den Teenager zu, der auch auf ihre Ansprache nicht reagierte. Die Ärztin streichelte ihr über den Kopf, über die Wangen. Das Mädchen glühte. Jasmin überlegte, ob nur von der Hitze, da sie ungeschützt in der Sonne lag, oder ob sie hohes Fieber hatte. Sie zog am Rücken das Shirt-Oberteil des Mädchens hoch, um die Lunge abzuhören. Bei eingeschränkter Beurteilbarkeit durch die Seitenlage und fehlende tiefe Inspiration konnte sie das abgeschwächte Atemgeräusch nicht eindeutig als Ausdruck einer Lungenentzündung werten, andererseits der rasche Puls und die blasse Mundschleimhaut zeigten einen schockähnlichen Zustand an. Sie musste aus der Sonne, brauchte Flüssigkeit und ein Antibiotikum. Entschlossen ging sie auf ein paar Männer, die auf einem Schuttberg rumkletterten, zu. Die Ärztin zeigte auf das Mädchen, fragte nach den Eltern, nur Schulterzucken und Kopfschütteln. Jasmin erkundigte sich, wo das nächste Krankenhaus sei. „Cassé“, kaputt, wie fast alles in der Stadt. Sie fragte vergeblich nach einem Zeltlazarett oder Ähnlichem, aber die Männer schienen sich nur um ihre Probleme hier in der Gasse zu kümmern und konnten ihr keinen Tipp geben. Vielleicht hätte Harry auf Kreolisch mehr herausgefunden oder das arme Mädchen zu einem Hospital fahren können, doch war völlig ungewiss, wann er zurückkäme. Sie zeigte auf zwei kräftige Männer und zeigte pantomimisch wie das Mädchen weggetragen werden sollte. Einer stieg zu ihr herunter, der andere schüttelte abweisend den Kopf. Wahrscheinlich hatten sie das Mädchen bereits aufgegeben. Als Jasmin selbst mit tragen helfen wollte, kam ein älterer Mann rüber und nahm ihr die Beine ab. Sie ging voran in die enge Gasse, ließ das Mädchen an einem kleinen freien Streifen ca. 10 m entfernt von dem engen Durchgang mit dem Holzstapel ablegen und dankte den Männern, die an ihre Arbeit zurückkehrten.
Jasmin hörte jetzt in Rückenlage Herz- und Atemgeräusche am vorderen Thorax ab. Es eilte. Sie zerrte ihren Notfallrucksack vor, kramte Kanüle, Infusionsbesteck und Infusionsbeutel heraus und versorgte die junge Haitianerin mit einem venösen Zugang. Die ältere Frau, der sie den Arm eingekugelt hatte, kam zögernd näher. Jasmin drückte ihr den Beutel in die Hand und schloss die Infusion an, drehte sie fast komplett auf. Mit der Armrepositionslatte baute sie einen provisorischen Infusionsständer und horchte das Mädchen immer wieder ab. Als die Kochsalzlösung nach ca. 20 Minuten fast leer war, suchte Jasmin eine Zuckerlösung aus ihrem Vorrat und ließ diese langsamer eintropfen. Der Puls war jetzt immerhin schon unter 100/min gesunken, noch immer zu schnell. Wenn sie jetzt etwas Flüssiges hätte, um der Patientin Medikamente einflößen zu können! Ihr Blick fiel auf den leeren Infusionsbeutel, in dem sich noch der übliche kleine Rest befand. Jasmin kam eine Idee. Sie zerdrückte mithilfe eines Steins eine antibiotisch wirkende und eine fiebersenkende Tablette in einem ungebrauchten Einmalhandschuh, legte ihn der Patientin auf den Bauch, schnitt den Infusionsbeutel mit einem breiten Schlitz auf und schüttete das Tablettenpulver hinein. Mit einer 10 ml-Spritze – ohne aufgesetzte Nadel – rührte sie, bis sich das Pulver in der Flüssigkeit gelöst hatte, zog die angereicherte Kochsalzlösung in die Spritze und drückte die Medizin langsam in die am Handrücken befestigte Kanüle. Not macht erfinderisch!
Jasmin rollte die Isomatte aus und zog sie unter die junge Patientin, dann setzte sie sich vor die junge Kranke. Erst jetzt überlegte sie, welcher Erreger für den schlechten Zustand des Teenagers verantwortlich sein könnte, mögliche Verursacher gab es viele. Ohne Labor gab es nur statistische Wahrscheinlichkeiten. Für Gesunde sind die meisten dieser Erreger harmlos, aber hier, wo alle geschwächt waren …!
Die Ärztin überlegte, ob sie richtig gehandelt hatte oder ob der Abstand der anderen Bewohner der Gasse die vernünftigere Lösung war. Wäre das Mädchen in den nächsten Stunden gestorben, hätte sich das Problem mit der Lungenentzündung erledigt gehabt, aber jetzt hatte sie ein höchstwahrscheinlich infektiöses Kind anbehandelt, das ohne weitere Therapie nur einige Tage später sterben würde. Wie hoch war für sie selbst die Ansteckungsgefahr? Sie hatte bei allen Einsätzen die Verwendung von Mundschutz für sich abgelehnt. Er schuf eine Distanz zum Patienten, der das Gesicht nur teilweise sehen konnte, und es signalisierte eine Ansteckungsgefahr, die für all die, die sich nicht schützen konnten, dadurch noch bedrohlicher erschien. Jasmin sah auf ihre Gummihandschuhe herab, nur ein minimaler Schutz. Im Schatten der engen Gasse nahm sie weiter hinten viele obdachlos gewordene Menschen wahr, die größtenteils teilnahmslos vor sich hinstarrten oder gekrümmt in Nischen dösten. Die Kinder sammelten sich offensichtlich in der helleren Gasse.
Dr. Wagner stand auf und ging erneut mit ihrer Verbandstasche zur Quergasse, beobachtete das Treiben. Vier oder fünf Kinder spielten mit einem ausgezehrten terriergroßen Hund. Größere Kinder suchten aus den Schuttbergen Steine heraus. Manche der Kinder, die auf der Straße saßen, waren offensichtlich krank, einige hatten dreckverschmierte Wunden. Freiwillig würden sie wohl kaum zu ihr kommen. Wenn sie Waisen waren, würden sich auch keine Eltern um sie kümmern, also ging Jasmin langsam auf einen ca. Dreijährigen zu, der mit ausgestreckten Beinen dasaß. Jasmin streichelte ihm über die schwarzen Haare, über die Backen und hockte sich vor ihn. Sie hob den Kleinen unter den Achseln an und wollte ihn auf die Beine stellen, aber er weinte laut auf und belastete nur das linke Bein. Sie setzte ihn vorsichtig wieder hin und tastete erst das gesunde Bein spielerisch ab, lächelte den Bub an, dann untersuchte Jasmin mit leichter Berührung das schmerzende Bein. Die Medizinerin vermutete einen Bruch der Unterschenkelknochen. Da sie keine offene Wunde entdecken konnte, hatte der Junge gute Heilungschancen, wenn man die Knochen für ca. 3-4 Wochen ruhigstellte. Sie richtete sich auf, suchte kurz in den umliegenden Haufen nach hölzernen Trümmern und bastelte aus vier Lattenstücken mit einem Wickelverband eine Schiene, die über das Knie hinaus bis zur Mitte des Oberschenkels reichte. Sie hob den Kleinen hoch und stellte ihn vorsichtig auf seine Beine. Er stand und sah sie überrascht an. Sie steckte ihm ein Drittel eines Kaugummistreifens für seine Tapferkeit in den Mund und suchte weitere Holzreste als Krückenersatz.
Damit war der Bann gebrochen, mehr und mehr Eltern brachten ihre Kinder oder zeigten ihr entzündete Wunden. Jasmin desinfizierte, verband, horchte ab, bis Harry neben ihr auftauchte und ihr eine 0,5 l-Flasche Wasser in die Hand drückte. Dankbar trank sie und ging mit ihm zur Schattengasse. Niemand folgte ihnen, die meisten suchten sich Sitzplätze und verfielen wieder in die trostlose Stimmung. Die Deutsche sah nach dem Mädchen, dessen Herzaktion langsamer und regelmäßig war. Die Zunge war noch immer trocken, aber nicht mehr ganz so farblos. Inzwischen war auch die Zuckerlösung fast eingelaufen, mehr konnte Jasmin momentan nicht für die Kranke tun.
Harry wusste auch nicht, wo man sie hätte hinbringen können, fragte seinen Freund.
„Das Mädchen lebte vorher schon auf der Straße, ich habe sie immer wieder im Viertel gesehen.“
Jasmin ging mit den Männern rüber zu dem Holzstapel, wo die Frau mit der verletzten Schulter sich als die Ehefrau von Harrys Freund entpuppte. Sie hatte inzwischen etwas Reis gekocht und bot den deutschen Gästen an, zuerst aus dem Topf zu essen. Beide aßen anstandshalber nur wenig, obwohl es gut schmeckte und sie richtigen Hunger verspürten. Jasmin unterhielt sich mit Harald über seine Messergebnisse, fragte nach den weiteren Plänen.
Harry wechselte zwischen Kreolisch mit seinen Freunden und Deutsch locker hin und her: „Wir übernachten hier, diese Gassen gelten als sicher vor nächtlichen Überfällen. Morgen früh fährt Henrie uns ca. 12 km nach Osten, von dort sind es immer nur wenige Kilometer zu den in den Bergen verteilten Dörfern, ich muss u.a. bis zum Gipfel Morne de la Selle, immerhin 2680 m hoch, dort gibt es wichtige Vergleichsmessungen. Und du? Bleibst du oder willst du noch immer in die Dörfer?“
„Ich komme noch ein Stück mit, wenn das geht. Ich muss raus aus dem Elend und Dreck der Städte.“
Jasmin nahm zwei Schlucke aus der Wasserflasche, die sie am liebsten in einem Zug geleert hätte. Sie sah, dass Harry und sein Freund noch drei weitere kleine Plastikflaschen aus dem Zentrum mitgebracht hatten, also 500 ml für jeden von ihnen – ein Bruchteil des Tagesbedarfs. Aus einem Laden oder einer Verteilung? Ob sie hier mit ihrem Geld Wasser und was zu essen kaufen konnte? Harry antwortete ihr, dass es zwar kleine Märkte gab, wo alles gehandelt wurde: Gemüse, Reis, Textilien, Elektroteile und was sonst so aus den Trümmern gerettet wurde, aber Wasser bot momentan niemand an, dafür musste man lange bei den Ausgabestellen anstehen. Henrie und Harry hatten nach knapp einer Stunde Warterei jeder zwei Flaschen für sich erhalten und teilten nun mit den Frauen.
Jasmin fiel ihre fiebrige Patientin ein. Sie stand auf und legte die kurze Distanz zu ihrem Krankenlager zurück. Das Gesicht der jungen Mulattin war ziemlich eingefallen, mit tiefliegenden Augen, vorspringenden Wangenknochen und spitz zulaufendem Kinn. Die Temperatur schien etwas gesunken, die Augen waren klarer, die Patientin schien ansprechbar.
Als sie auf Französisch fragte, ob das Mädchen sie höre, öffnete es die Augen. Jasmin prüfte den Puls, zog die Kanüle, da die zweite Infusion leer war. „Ton nom? Nome? Name?“
„Julie“, antwortete die Haitianerin erstaunlich klar, aber Jasmins weitere Fragen auf Französisch verstand sie nicht, richtete sich jedoch halb auf.
Die Ärztin gab ihr zwei der mitgebrachten Tabletten in den Mund, dann reichte sie ihr die noch halbvolle Wasserflasche. Julie verschluckte sich zwei- oder dreimal, aber leerte die Flasche gierig. Jasmin setzte sich neben den Teenager auf ihre Isomatte. Es wurde dunkel, die wenigen Menschen in der schmalen Gasse richteten sich zum Schlafen. Die Deutsche legte der Einheimischen die Hand auf die Schulter und bedeutete ihr, sich wieder hinzulegen, bevor sie zu ihrem Landsmann zurückkehrte.
Das ältere Ehepaar betete ungefähr stündlich vor dem Holzstapel niederkniend für ein paar Minuten.
Harald erläuterte: „Sie machen sich Sorgen um ihren jüngsten Sohn. Er war unverletzt, half dann Verletzte zu bergen und wurde selbst verschüttet. Er lag in einer eingestürzten Hütte für viele Stunden. Vor drei Tagen war bereits ein ausländisches Hilfsteam da mit zwei Suchhunden, die mehrere Überlebende aufspürten. Sie nahmen vier Schwerverletzte in einem großen Hubschrauber mit zur weiteren Versorgung.“ Sie hofften beide, dass er wahrscheinlich in der Hauptstadt in einem Lazarett lag und hoffentlich bald zurückkommen könnte.
In dem schmalen Durchgang von nicht mal zwei Metern hatten sie keinen Platz sich alle auszustrecken. Das ältere Ehepaar behauptete, es würde sowieso im Sitzen schlafen, nun versuchten die Ausländer eine erträgliche Schlafposition zu finden. Jasmin polsterte ein wenig mit Schlafsack und Jacke, trotzdem war es eine der unbequemsten Nächte, zumal sie bei jeder Bewegung der anderen aufwachte und aufgrund der vielen ungewohnten Geräusche in ständiger Alarmbereitschaft war.
Noch bevor es hell wurde, stand Jasmin leise auf, ging um die Ecke in die Seitengasse und reckte ihre schmerzenden Glieder. Die meisten anderen Obdachlosen lagen oder saßen noch, in der Dämmerung nur als Kleiderhaufen zu erkennen. Henrie war Schreiner. Er hatte weiter im Zentrum ein Haus mit Werkstatt gehabt, alles eingestürzt. Wegen der Gewalttaten hatte er mit seiner Frau ein ruhiges Eck gesucht. Als Jasmin Henries Bein untersuchen wollte, hatte Harry ihr erklärt, dass Henrie schon seit Jahrzehnten hinke, weil er sich schon als junger Mann beim Fällen eines Baumes in den rechten Unterschenkel gehackt habe. Julie lag schlafend ausgestreckt auf der Matte. Noch immer müde hockte die Ärztin sich vor ihre Patientin und döste.
Nach und nach entstand Trubel um sie herum. Vereinzelt wurden kleine Feuer gemacht, um irgendetwas zu kochen. Kinder wimmelten überall in der breiteren Straße. Was hatten diese Kleinen für eine Lebensperspektive? Angeblich war ein Großteil von ihnen nun allein. Welch ein Horror, schon mit 3 oder 4 Jahren sich selbst überlassen zu sein! Die verwaisten Säuglinge und Kleinkinder schienen von den überlebenden Erwachsenen aufgenommen worden zu sein. Oder waren jene in den letzten Tagen ohne fremde Hilfe einfach gestorben? Diesen kleinen Erdbebenopfern stand ein Leben auf der Straße bevor, wenn sie nicht irgendwo in einem Waisenhaus unterkamen, wo zumindest für das Nötigste gesorgt werden könnte. Die Kinder brauchten Zuneigung, Erziehung, Bildung, eine Aufgabe, eine Zukunft. Wer sollte das leisten bei wahrscheinlich Tausenden von Waisenkindern? Sie kannte die Adoptionsdiskussion aus Flüchtlingsdörfern, wo Kriegswaisen in „reichen“ Ländern eine neue Heimat geboten wurde. Wenn man zu Hause bequem auf dem Sofa sitzt, kann man sich leicht darüber echauffieren, dass diesen armen Kindern ihre Heimat, ihre Kultur, ihre Mitmenschen genommen werden, wenn man sie in ein fremdes Land fliegt, aber wenn man das Elend der auf sich gestellten Minderjährigen vor Ort sieht, dann wischen Mitleid und der Wunsch zu helfen alle Argumente weg. Was soll aus all diesen Kindern ohne Fürsorge werden? Wo soll ausreichend Geld ins Land kommen, diese jungen Opfer die nächsten 10 Jahre zu versorgen und auszubilden? Bei den Kriegskindern konnte man von „Heimat“ als Land, wo man aufgewachsen ist und sich wohl fühlte eh kaum sprechen. Wie viele waren ihr Leben lang auf der Flucht oder in Lagern? Hatten sie nicht sogar ein Recht auf eine Adoption? Die Menschenrechte wollten allen Kindern Nahrung und Bildung garantieren - selbst wenn das finanziell möglich wäre, haben Heranwachsende doch auch ein Anrecht auf persönliche Zuwendung, die in Heimen viel weniger möglich ist. Dr. Jasmin Wagner kannte in Deutschland mehrere Familien, die Kinder aus Notsituationen, auch wenn es sich um deutsche Kinder aus Drogenmilieu etc. handelte, adoptiert hatten. Zumindest die aus ihrem Bekanntenkreis hatten wirklich Glück gehabt, in Familien aufzuwachsen, die für alles sorgen konnten. Wie viele ungewollt kinderlose Paare nahmen große gesundheitliche Risiken mit künstlichen Befruchtungen auf sich, gaben ein Vermögen für diese Versuche aus. Von dem Geld hätten viele Kinder jahrelang unterstützt werden können! Jasmin als überzeugter Single hatte selbst keine Kinder, aber das Leid der Kleinen, die oft gar nicht verstanden, was passierte, lag ihr immer besonders am Herzen.
In Deutschland engagierte sie sich für missbrauchte oder vernachlässigte Kinder, häufig von den eigenen Eltern misshandelt. Dort entschieden Familienrichter häufig für den Verbleib der Kinder in problematischen Familien, da die Eltern meist trotz allem von den Kindern geliebt wurden. Adoptionswilligen wurden hingegen so viele Vorgaben und Schwierigkeiten gemacht, um Kinder vor einem möglichen Schaden zu bewahren, dass viele mögliche Stellen für Kinder und viel Zeit verschwendet wurden. Das Bild dieser haitianischen Kinder, die irgendwie selbst für ihren Unterhalt sorgen mussten, erschütterte die Deutsche. Wovon lebten die eigentlich seit Tagen? Jasmin schämte sich ihres Hungers, hatte sie doch noch gestern Morgen Brot und abends Reis gegessen. Dieses Heer an Waisenkindern konnten die Überlebenden nicht mitversorgen. Die Medizinerin spürte wie ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie wandte sich um zu Julie, wollte wenigstens ihr das Leben retten.
Es war inzwischen hell geworden. Dr. Jasmin Wagner holte aus ihrem Rucksack eine Tablette des Breitbandantibiotikums, weckte Julie und ließ sie das Medikament trocken schlucken. Mit je einem halben Kaugummistreifen regten das Mädchen und die Ärztin ihrer beider Speichelfluss an, denn der Durst quälte sie schon wieder. Die Ärztin war mit ihren Untersuchungsergebnissen zufrieden und versuchte erneut vergeblich auf Französisch oder Englisch, noch ein paar Informationen von Julie zu bekommen, als Harald zu ihnen trat und auf Kreolisch übersetzte. Das Mädchen war schon lange Vollwaise, wie lange konnte sie an nichts fest machen. Sie besuchte keine Schule, sondern lebte auf der Straße, half auf dem Markt und bekam dafür etwas zu essen. Jasmin machte sich Gedanken, was jetzt aus dem geschwächten Mädchen würde. Der Teenager brauchte noch Ruhe, aber auch Nahrung und Flüssigkeit.
Das Ehepaar betete erneut murmelnd für seine Kinder. Die beiden Deutschen falteten die Hände und senkten die Köpfe. Harry wusste, dass der mittlere Sohn in den USA arbeitete und in Sicherheit war. Ihr ältestes Kind, eine Tochter, lebte weiter im Westen in der Küstenstadt Jérémie. Nach den großen Verwüstungen durch die Wirbelstürme im Spätsommer 2008 waren sie umgezogen, weil ihr Ehemann als Maurer dort Arbeit fand. Auch von ihnen hatten die Eltern noch keine Nachricht.
Harry und Jasmin aßen wieder nur wenig von dem angebotenen Reis, weil sie ein schlechtes Gewissen hatten, von dem Wenigen des Ehepaares auch noch zu essen, andererseits durften sie die beiden auch nicht vor den Kopf stoßen. Jasmin schnallte Schlafsack und Jacke auf ihren großen Rucksack, holte ihre Isomatte und wollte sich von Julie verabschieden. Das Mädchen sah sie entsetzt an, streckte ihr bettelnd die Hände entgegen und wollte mitkommen. Jasmin hatte sich mit ihrer Hilfsaktion in ein arges Dilemma gebracht. Hilflos hob sie die Schultern, umarmte Julie und ging zu Harry, der sich bereits lebhaft gestikulierend verabschiedete. Jasmin dankte mit Worten und Gesten. Die Frau zeigte auf ihre Schulter und dankte, konnte ihren Arm wieder gut bewegen. Als sie hintereinander zu Henries Auto gingen, folgte Julie ihnen. Sie zog ihre Retterin am Arm, sah sie flehentlich an, murmelte etwas Unverständliches.
Zwar gab es noch einen freien Sitzplatz, aber Harry wehrte ab, bis Jasmin ihn bat: „Kann sie nicht mitkommen? Sie muss eh noch überwacht werden und braucht noch vier Tage lang je drei Antibiotikatabletten. - Hier hat sie doch kaum eine Überlebenschance!“
„Wie du meinst!“ Harry öffnete für Jasmin und Julie die Beifahrertür.
Er klappte den Sitz vor, damit sie einsteigen konnten, während Henrie das Gepäck verstaute. Der Geruch von Aas wurde wieder stärker, als sie stadteinwärts fuhren. Sie brauchten lange, um durch die Ausläufer der Stadt gen Osten zu kommen, immer wieder mussten sie Umwege machen, zweimal auf der Landstraße umkehren und eine andere Strecke nehmen, weil die Straße unpassierbar war.
Henrie brachte sie bis ins Zentrum eines kleinen Dorfes. Im Vergleich zu den enormen Zerstörungen in den Städten sah es hier erfreulicher aus. Hier standen noch etwa die Hälfte der Gebäude, die Straßen waren nicht von Obdachlosen belagert. Der Anblick einer erhalten gebliebenen Kapelle gab Hoffnung. Harry lud das Gepäck aus, Jasmin half Julie aus dem Wagen, die sich kaum auf den Beinen halten konnte. Harry drückte Henrie 30 $ in die Hand: „Fürs Fahren!“ Er konnte dem Freund nichts für seine Gastfreundschaft anbieten, ohne ihn zu verletzen, aber als Honorar für die Fahrertätigkeit reichten die 30 $ normalerweise für einen Monat zum Überleben. Bises-Küsse und gute Wünsche zum Abschied, dann kehrte Henrie zurück nach Léogâne.
Inzwischen hatten sich nicht nur neugierige Kinder, sondern auch einige Erwachsene eingefunden. Ein ankommendes Auto fiel wieder auf. Harry fragte nach dem Dorfältesten. Man geleitete sie zu einer Steinhütte. Ein Schwarzer mit fast weißen Haaren trat auf das Getümmel vor seinem Heim aus der Tür. Harry grüßte respektvoll, erklärte ihre Anwesenheit und bat um Rat. Jasmin saß mit Julie, die zu kollabieren drohte, ein Stück abseits. Die Ärztin machte sich Vorwürfe: die Belastungen waren für das Mädchen noch zu groß, aber hätte sie Julie einfach ihrem Schicksal überlassen, hätte sie sich ständig gefragt, was aus ihr geworden wäre. Jasmin glaubte an die Ansichten vieler Kulturen, dass man, wenn man jemandem das Leben gerettet hatte, für ihn verantwortlich war. Normalerweise war es unmöglich, sich weiter um Patienten zu kümmern und erübrigte sich auch, aber für Julie empfand Jasmin anders als für die übrigen Patienten der letzten Tage.
Eine Dorfbewohnerin brachte eine kleine Schüssel mit Wasser, die sie den Ankömmlingen reichte. Jasmin drückte rasch die Mittagstablette aus dem Blister, steckte sie Julie in den Mund und bedeutete ihr, dass sie das Gefäß allein leer trinken durfte. Sie legte den Arm um den Teenager, damit Julie sich an sie lehnen konnte. Welch eine andere Atmosphäre hier in dem kleinen Ort! Jasmin nahm keinen Leichengeruch wahr. Was sie hier wohl mit ihren Toten gemacht hatten? Als Harald zu ihnen kam, gab er die Informationen weiter: 8 km gen Südosten gab es ein Dorf mit einer Krankenstation, man könnte die beiden Frauen hinfahren. Harry wollte sich heute noch zu Fuß ein bis zwei Orte weiter nach Osten aufmachen, also war der Zeitpunkt der Trennung gekommen. Jasmin bedauerte es sehr. Er war ein hilfsbereiter Begleiter gewesen, der die Landessprache beherrschte, sich erfreulich gut auskannte und ohne viele Worte Probleme anging. Sie tauschten Visitenkarten und versprachen, einander in Deutschland wieder zu kontaktieren.
Nach ein paar aufmunternden Worten an Julie schwang Harry seinen Rucksack auf den Rücken und marschierte flotten Schrittes los. Jasmin sah ihm nach, winkte ihm zu, als er sich noch einmal umdrehte und kam sich verlassen vor. Es kostete sie ihren ganzen Willen, aufzustehen und laut „Docteur, docteur“ zu rufen, während sie auf sich zeigte und ihr Stethoskop hervorholte. Die Kinder standen im Halbkreis rum, keines näherte sich. Sie holte ein paar Kaugummistreifen aus ihrer Hose, teilte einen in drei Stücke und hielt eines hoch. Am nächsten stand ein ca. fünfjähriges Mädchen, das den Kopf schief legte und zu ihrer erhoben Hand hinaufsah. Wahrscheinlich kannten diese Kinder die Süßigkeit nicht. Jasmin steckte ihr Stethoskop in die Ohren, entrollte ihre Isomatte und hockte sich auf ihren „Behandlungsplatz“.
Eine Mutter mit einem Säugling war die Erste, die zur Ärztin kam. Der Junge hatte einen aufgetriebenen Bauch, war unterernährt und brauchte dringend Hilfe. Mit französischen, spanischen und englischen Worten erklärte Jasmin der Mutter, dass sie mit zum Hospital kommen müsse. Die Frau schüttelte den Kopf und verschwand. Ein hübscher Junge im Grundschulalter kam zögernd näher. Seinen Unterarmbruch versorgte Jasmin mit einer Schlinge aus Verbandsmull, eigentlich war das Material für eine Schlinge, die man aus jedem anderen Textilstück hätte schneiden können, zu schade, aber der Verletzte lief mit seiner hellweißen Schlaufe quasi Werbung für die neu eröffnete Praxis. Er kaute eifrig auf seinem Kaugummi und löste dadurch wahrscheinlich den anschließenden Run auf die Kindersprechstunde aus.
Stundenlang untersuchte, säuberte, behandelte Jasmin vorwiegend Kinder mit unterschiedlichsten Verletzungen, auch viele ohne körperliche Folgen des Erdbebens, die sie ebenfalls ernsthaft untersuchte und mit Kaugummi belohnte. Dankbar tranken Jasmin und Julie, die sich die ganze Zeit im Hintergrund hielt, je eine Schüssel Wasser, die ihnen von Dorfbewohnern gebracht wurden. Als es dunkel zu werden begann, hielt Jasmin wieder ihre Hand hoch und zeigte ihre fünf Finger. Die Dorfbewohner und vor allem viele Kinder saßen im Kreis um sie herum und sahen ihr zu wie in einem Theater, ruhig und interessiert.
Nach den letzten fünf Fällen stand Jasmin auf, rollte ihre Isomatte zusammen, steckte das Stethoskop in ihren Rucksack und zog beide Gepäckstücke an. Sie formte mit den Händen ein Kreuz, wollte dort die Nacht verbringen und sah sich nach ihrem Schützling um. Julie hatte sie beobachtet. Ihre Augen strahlten auf, als Jasmin ihr winkte, mit zu kommen. Wie bei einer Prozession zogen die Gäste gefolgt von vielen Einheimischen Richtung Kirche.
Jasmin war erschöpft, aber zufrieden. Sie hatte heute keine medizinischen Wunder vollbracht, aber sie hatte vielen Menschen das Gefühl gegeben, dass sie nicht vergessen waren mit ihrem Leid. Mehrere Familien brachten ihnen Schüsseln mit etwas Suppe oder Reis oder Wasser, die Jasmin mit schlechtem Gewissen wegen der anderen Hungernden nicht wirklich genießen konnte, aber sie versuchte sich selbst zu beruhigen, dass sie niemandem helfen konnte, wenn sie in zwei Tagen zusammenbräche. Jasmin kniete spontan vor den Altar und betete. Zwar war sie evangelisch-lutherisch aufgewachsen und dies eine katholische Kirche, aber für die Bewahrung in den Gefahren der letzten Tage zu danken und um Schutz und Hilfe für sich und die Erdbebenopfer zu bitten, brauchte es eigentlich kein Gebäude.
Jasmin bemerkte, dass die Kinder und Obdachlosen nicht ins Gebäude gefolgt waren, sondern sich draußen verteilten. Um nicht unabsichtlich Gefühle der Dorfbewohner zu verletzen, dass sie die Kirche als Nachtquartier entweihten, legten sich Jasmin und Julie wie zum Spalier entlang des Eingangs auf Isomatte bzw. Schlafsack.
Ungestört schliefen Jasmin und Julie, bis es draußen schon richtig hell war. Beiden hatte der lange Schlaf sehr gutgetan. Jasmin lächelte Julie an: „Douleur? Schmerzen?“ Julie machte eine Bewegung mit den Händen, die man als „so là là“ deuten konnte. Sie waren noch nicht lange draußen, als ihnen wieder kleine Schüsselchen gebracht wurden. Julie nahm wie abends ihr Antibiotikum und bedankte sich auf Haitianisch für das Essen. Der Dorfälteste stand mit einem großen Mulatten auf der Straße und winkte ihnen beiden zu. Mit einer Art Kleinlaster sollten sie ins Nachbardorf gebracht werden. Die Mutter mit dem schwerkranken Säugling saß bereits auf der Ladefläche, auch zwei der vier Kinder, denen Jasmin gestern gesagt hatte, sie müssten ins Hospital, waren bereits eingeladen, hatten offensichtlich keine Begleitung. Man half Jasmin und Julie mit dem Gepäck, nachdem die Deutsche sich mit mehreren Verbeugungen und französischen Dankesworten an den Dorfältesten verabschiedet hatte. Über die weitgehend erhaltene Landstraße war die kurze Distanz schnell zurückgelegt. Zu Fuß wäre es mit Gepäck eine halbe Tagesreise gewesen und für Julie kaum zu schaffen.