Читать книгу SCHWARZE KITTEL - Katastrophen-Medizin - Jennifer Wegner - Страница 7
ОглавлениеTrinité-Behelfslazarett in Port-au-Prince
Die Erholungspause hatte Jasmin gutgetan. Sie folgte Harry mit frischer Energie. Das Krankenhaus, das „Ärzte ohne Grenzen“ 2006 aufgebaut hatte, lag in großen Teilen zerstört vor ihnen. Im Innenhof einer gegenüber liegenden Apotheke wurde in den ersten Stunden notfallmäßig behandelt, dann war ganz in der Nähe ein Zeltlazarett entstanden mit langen Warteschlangen bis weit auf die Straße.
Jasmin bedankte sich herzlich bei Harry und übernahm ihren großen Rucksack wieder selbst. „Was werden Sie denn nun machen?“
„Ich weiß noch nicht, ob ich hierbleibe oder in einer der anderen Städte arbeiten werde, ich muss mir erst einmal einen Überblick verschaffen.“
„Wenn Sie wollen, können Sie morgen mit mir nach Léogâne reisen, es sind noch zwei Plätze im Hubschrauber frei! Überlegen Sie es sich! Ich komme morgen um 10 Uhr nochmals hier vorbei. Die ärztliche Versorgung ist außerhalb der Hauptstadt sicher um vieles schlechter!“ Harry nickte ihr zu und wandte sich um.
Nun wieder schwer beladen wandte Jasmin sich an den nächsten Soldaten, der eine Maschinenpistole quer vor der Brust in den Händen haltend den Zugang zur Zeltstadt bewachte. „Je suis Docteur Wagner de l`Allemagne et je cherche le responsable“, stellte Jasmin sich vor und ließ sich den Weg zum Hauptverantwortlichen erläutern. Sie fand das Zelt, das als Hauptbüro ausgewiesen war, leer vor, also fragte Frau Dr. Wagner sich weiter durch, bis sie in einem Behandlungszelt dem ärztlichen Leiter gegenüberstand, sich vorstellte und ihre Hilfe anbot. Der ältliche Haitianer empfing sie freundlich, bot ihr einen Becher Wasser an, den sie gierig leerte. Der Arzt rief eine junge Mulattin herbei, die ihr das Notkrankenhaus zeigen sollte. Zuerst führte die junge Schwester, die sich mit Hélène vorstellte, sie zum Apotheken-Zelt, welches von vier Soldaten bewacht wurde, da dort außer Medikamenten und medizinischer Geräte auch sonst alles Wertvolle sowie die persönlichen Sachen aller Mitarbeiter aufbewahrt wurden.
Von 40 kg Last befreit, konnte Jasmin wieder freier ausschreiten und mühelos der jungen Führerin folgen, die ihr bereitwillig auf Französisch alle Fragen beantwortete. Hélène stellte sie vielen Mitarbeitern als Ärztin aus Deutschland vor. Sie nannte der Besucherin Namen, Herkunftsland und Aufgabengebiet der zum Teil aus europäischen Ländern stammenden Kollegen.
Jasmin war beeindruckt, wie gut organisiert das Lazarett wirkte. Die Patienten lagen zwar größtenteils auf Decken am Boden, aber sie hatten saubere Verbände, Infusionen hingen von den Zeltquerstangen, das medizinische Personal schien zu wissen, was es wo zu tun hatte, es herrschte trotz der räumlichen Enge eine erstaunliche Ruhe – zumindest im hinteren Bereich, wo die stationären Patienten versorgt wurden. Ein größeres Zelt wurde als Intensiv-Einheit benutzt. Sechs Feldbetten, fünf davon belegt mit offensichtlich Schwerverletzten. Zwei Patienten hingen an Beatmungsgeräten, die das Zelt füllten mit dem Lärm der Pumpen, die die warme Luft in die Körper drückte. In den meisten Zelten waren der vordere und hintere Zeltbahnenanteil zur Seite geschlagen, um den Brutkasteneffekt zu mindern und die geringen Luftbewegungen durch die „Zimmer“ streichen zu lassen. Welch ein Kontrast zu den möglichst sterilen Beatmungszellen einer deutschen Intensivstation! Zwei EKG-Geräte stellten die Herzströme von Patienten dar. Jasmin fiel auf, dass die Elektrodenklemmen gewechselt wurden. Man erklärte ihr, dass alle paar Minuten gewechselt wurde, um so je zwei oder drei Patienten mit den beiden einzigen vorhandenen Monitoren überwachen zu können. Ansonsten kreuzten verschiedenste Kabel und Infusionsschläuche über die Körper der Intensivpatienten wie es in einem normalen Krankenhaus auch nicht anders gewesen wäre.
Zuletzt führte Hélène den Gast zu den beiden Ambulanzzelten, vor denen ebenfalls Soldaten standen und für Ordnung sorgten. Was für ein anderes Arbeiten als ihre morgendliche Spontansprechstunde! Hélène verschwand. Jasmin sah längere Zeit mal in dem einen, mal in dem anderen Untersuchungszelt zu. Je drei Patienten befanden sich in jeder der Not-Ambulanzen gleichzeitig. Die Arzthelferinnen oder Schwestern machten eine Kurzanamnese, füllten Formulare aus, entkleideten wenn nötig die Patienten, reinigten Wunden mit Braunol, einem bräunlichen Wunddesinfektionsmittel, und versorgten kleinere Blessuren mit Salben und Verbänden, wenn der diensthabende Ambulanzarzt mit seiner Untersuchung fertig war. Alles lief reibungslos. Wer weitere medizinische Hilfe benötigte, z.B. eine Infusion, chirurgische Intervention oder fachärztliche Untersuchungen wurde von Helfern in dahinter liegende weitere Zelte gebracht. Auf diese Art hatten die Ambulanzzelte einen immensen Durchlauf, um den manche deutsche Praxis sie beneidet hätte.
Nach einer Weile als Zuschauerin hätte Jasmin gerne selbst etwas Sinnvolles gemacht statt wie eine junge Hospitantin nur daneben zu stehen, aber da beide Ambulanzärzte ihr Angebot, ihnen Arbeit abzunehmen, dankend ablehnten, machte die Ärztin sich allein auf Erkundungsgang. Man könnte meinen, man befände sich in einem Kriegslazarett, so viel Militärpräsenz zeigte sich in dem Behelfshospital. Sie fragte nach einer Kantine, da sie seit dem mageren Abendessen im Flugzeug seit 21 Stunden nichts mehr gegessen hatte. Ohne Badge oder Ausweis wurde ihr der Zugang zum Essenszelt verwehrt, so blieb ihr nichts Anderes übrig, als wieder den Ärztlichen Leiter zu suchen. Die Zelte standen eng nebeneinander in einer so großen Anzahl, dass sie sich mehrfach verirrte, bis sie zumindest das „Apotheken-Zelt“ entdeckte, aber auch hier wurde sie ohne Legitimation nicht reingelassen. Niemand der Mitarbeiter kümmerte sich um sie, alle waren beschäftigt, Jasmin kam sich überflüssig, ja sogar störend, vor.
Sie fragte sich durch zum OP-Zelt und durfte nach einigen Erklärungen, warum sie da war, von einer Zeltwand aus zusehen. Einem älteren verschütteten Mann wurde die rechte Niere entfernt, auch in einer Klinik kein kleiner Eingriff. Sie konnte den Anästhesisten, verdeckt durch Tücher und Beatmungsgerät, kaum hinter dem Kopfende sehen. Das Zelt hatte eine Art Linoleum-Boden, einen OP-Tisch, Monitore und Geräte, sogar mehrere OP-Lampen, die das OP-Gebiet in gleißendes Licht tauchten. Neben dem Zelt arbeitete unüberhörbar ein Generator, der den nötigen Strom erzeugte. Die Deutsche bewunderte, was hier in wenigen Tagen behelfsmäßig aufgebaut worden war, um den Krankenhausbetrieb schnellstmöglich fortzusetzen.
Nach der Nephrektomie nutzte Jasmin die Zeit bis zur nächsten OP, um mit dem einheimischen Narkosearzt zu reden. Sie erfuhr, dass zum Glück das Lager und die Apotheke des Krankenhauses weitgehend verschont geblieben waren, so dass sie am Morgen nach dem Erdbeben direkt ärztlich tätig werden konnten, die Trakte mit den Patientenzimmern, Operations- und Untersuchungsräumen, Archiv und Verwaltung waren hingegen noch unzugänglich. Die Hauptstadt besaß vor der Zerstörung mehrere Hospitäler und mobile Kliniken, also gab es trotz einiger Toter auch unter den Kollegen noch viele Ärzte, Krankenschwestern, medizinisches Hilfspersonal, die den Tausenden von Verletzten Rat und Tat zukommen ließen. Laut Frederic, dem haitianischen Anästhesisten, gab es mehrere Lazarette über die Stadt verteilt und täglich wurden neue Großzelte der amerikanischen Armee errichtet, um den Obdachlosen in Provisorien Unterschlupf zu bieten. Tagelang hätten Hunderttausende Erdbebenopfer auf den Straßen gelebt, da weitere Beben erwartet wurden, die erfreulicherweise genauso wenig bisher stattgefunden hatten wie der primär angekündigte nachfolgende Tsunami, der wahrscheinlich allein auf den Halbinseln die Zahl der Toten noch um ein Vielfaches erhöht hätte.
Während der Unterhaltung wurde die nächste Operation vorbereitet, eine Amputation des rechten Arms bei einem zehnjährigen Mädchen, das mehrere Stunden mit eingeklemmtem Arm unter Trümmern gelegen hatte. Die Ärzte hatten sie vor zwei Tagen aufgenommen und nach einer Versorgung der oberflächlichen Wunden gehofft, dass der Arm zu retten wäre, doch zu viele Gefäße waren zu lange abgedrückt oder zerrissen. Wenn man ihn nicht vom Körper abtrennte, würden die Giftstoffe der absterbenden Extremität in weiteren 2-3 Tagen das Kind umbringen. Wieder bot die deutsche Ärztin ihre medizinische Hilfe an, aber auch dieser Kollege lehnte freundlich ab, sondern bot ihr seinen Badge an, damit sie etwas Essen gehen konnte.
Als Jasmin vor einem Teller Reis mit einer scharfen Sauce saß, ließ sie den Tag Revue passieren. Die letzten 24 Stunden waren voller unterschiedlichster Eindrücke. Wie sollte es nun die nächsten zwei Wochen weitergehen? Während sie noch Vor- und Nachteile abwog, in Port-au-Prince zu bleiben oder Harrys Angebot ins Ungewisse anzunehmen, erschien der haitianische Chefchirurg, der die allgemeine Leitung innehatte, neben ihrem Tisch und bot ihr an, sie könnte heute bei ihm und seiner Familie übernachten. Dankbar folgte sie dem Ärztlichen Leiter zum „Apotheken-Zelt“, holte nur ihren kleinen Rucksack mit ihren persönlichen Sachen und ihre Jacke, bevor sie dem Haitianer, der sich inzwischen umgezogen hatte, zu seinem Wagen hinterhereilte.
Überrascht stellte Jasmin fest, dass manche Straßen gut befahrbar waren. Der Einheimische wies sie auf Französisch auf den zerstörten Präsidentenpalast hin, dessen erhaltene Kuppeln auf den eingestürzten Mauern wie Hüte aufsaßen, auf ein ebenfalls zerstörtes Hospital. Andere Gebäude sahen nahezu unversehrt aus. In der Dunkelheit sah Jasmin im Scheinwerferlicht auftauchende provisorische Hütten, viele Haitianer hausten mit ihren geretteten Sachen am Straßenrand, oft bis auf die Fahrbahn reichend. Trotz der späten Stunde waren überall noch Menschen unterwegs, Kinder hockten und spielten auf der Straße. Polizei und Militär patrouillierten ständig mit schussbereiter Waffe.
Die deutsche Medizinerin erfuhr, dass es schon zu einigen Toten durch Auseinandersetzungen bei Plünderungen gekommen war. Auch im Krankenhaus waren aus den Trümmern Medikamente gestohlen worden. Als ein Pfleger mutig die Täter aufhalten wollte, wurde er niedergestochen und verblutete ehe man ihn zum OP-Zelt tragen konnte. Ohne die Tausende Soldaten, die aus den USA entsandt waren, um hier Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten, hätte das Recht des Stärkeren oder Skrupelloseren längst die Oberhand gewonnen. Ihr Gastgeber berichtete von den angelaufenen Hilfen, die vor allem von der Dominikanischen Republik aus erfolgte, die weitgehend vom Erdbeben verschont geblieben war. Das Nachbarland nahm in seinen Gesundheitseinrichtungen entlang der Grenze zahlreiche Verletzte auf, entsandte schon am 13.1. Hilfslieferungen mit Nahrung, Wasser, Matratzen, Decken und vielem mehr, sowie mobile Kliniken und Küchen. Das schwere Gerät wie Baumaschinen, Bagger, Planierraupen brauchte einen Tag länger für die Anfahrt. Wegen der Insellage gestaltete die externe Not-Versorgung sich schwieriger als bei anderen Ländern. Auf Haiti waren Flughäfen und Transportwege momentan kaum benutzbar, die Transportwelle an Hilfsgütern musste nun auf diversen Wegen über kleinere Flughäfen, mittels Fallschirmen, mühsam über Land, über die Berge oder wegen des ebenfalls weitgehend zerstörten Hafens mit kleineren Booten über Wasser aufgeteilt nach Haiti gebracht werden. Die Hauptstadt und kleinere Städte an der Küste würden von extern täglich besser versorgt, aber die Lage in den entfernteren Orten sei noch ziemlich unklar. Man wisse nur wenig darüber, wie es im Hinterland von Haiti aussehe, wie die medizinische Versorgung und die Ernährungslage seien.
Der Chefarzt war auch politisch aktiv, gehörte zur Opposition und machte der – wenn auch durch Opfer dezimierten – Regierung bittere Vorwürfe, dass es an Entschlossenheit und Autorität fehlte. Quer durch alle Berufe und Schichten gab es viele Tote oder Vermisste. Führende Persönlichkeiten der Kirchen, Banken, Schulen, Ämter fielen aus, oft war unklar, wer kommissarisch die Leitung übernehmen sollte. Die finanzielle Situation der meisten war unklar. Was machte ein Bankangestellter, dessen Arbeitsort in Schutt lag? Welchen Sinn machte unter den Umständen die Arbeit eines Finanzbeamten?
Inzwischen fuhren sie durch ein Viertel, in dem der Erdbebenschaden anscheinend weitaus geringer ausgefallen war. Ihr Fahrer hielt vor einer Villa mit Säulen, die Dr. Wagner gerade noch im Licht der Scheinwerfer bemerkte, bevor der Motor ausgeschaltet wurde. „Wir hatten Glück! Unser Haus ist anscheinend mit einigen kleineren Rissen davongekommen“.
Die Gastgeberin begrüßte Jasmin sehr nett und zeigte ihr das Gästezimmer, entschuldigte sich, dass sie leider nicht duschen könnte, aber sie stellte ihr eine Schüssel mit Wasser hin, damit der Gast sich waschen konnte. Es war inzwischen weit nach 23 Uhr. Die Fahrt hatte sich durch Unebenheiten, Hindernisse und Umwege fast eine Stunde hingezogen. Die Deutsche bat erschöpft, sich direkt zurückziehen zu dürfen, genoss es, zumindest einen Teil der Schweiß-Schmutz-Schicht abwaschen zu können. Sie hatte schon wieder Durst, zumal die Sauce so scharf gewesen war, aber sie bezweifelte, dass das Wasser in der Schüssel auch zum Trinken geeignet war. Wenig später schlupfte Jasmin froh über ein richtiges Bett im langen T-Shirt unter das Laken und war in Minuten im tiefen, traumlosen Schlaf.
Viel zu früh nach Jasmins Geschmack weckte sie die Dame des Hauses um kurz vor ½ 6. Das Wasser erschien Jasmin jetzt zu dreckig, um sich nochmals damit zu waschen, bürstete ihre Zähne rasch trocken und begab sich nach unten in ein geräumiges Wohnzimmer. Jasmin folgte dem Beispiel ihres Kollegen, trank Kaffee aus einem Schüsselchen und stippte Brot hinein. Erstaunlich erholt hatte Jasmin beim Packen ihres Rucksacks beschlossen, Port-au-Prince heute mit Harry zu verlassen. Als sie kurz nach 6 Uhr mit dem Wagen unterwegs waren, erzählte sie von ihrer Absicht. Der Haitianer dankte ihr sogar, dass ausländische Helfer dort hingingen, wo es kaum einheimische Hilfe gab, weil man in seinem eigenen Umfeld Aufgaben genug zu bewältigen habe.
Auf der Fahrt durch die noch halbdunklen Straßen brannten sich ihr die Bilder des Elends ins Gehirn. Der Leichengestank war heute Morgen weniger penetrant als noch gestern – oder begann sich ihre Nase bereits daran zu gewöhnen? Um diese riesige Anzahl an Obdachlosen zu versorgen, brauchte es im wahrsten Sinne des Wortes eine Armee. Streunende Hunde und Katzen an allen Ecken und Enden. Unmengen an Kindern, kaum bekleidet, manche mit eingefallenen Gesichtern, lungerten herum. Sie dachte an die Statistik, die sie im Internet gesehen hatte: im Schnitt vier Kinder pro Frau. Rundrum schien es von Kindern nur so zu wimmeln, während wenige Erwachsene zu dieser frühen Stunde zu sehen waren. Wer kümmerte sich um die vielen Kinder, von denen viele Halbwaisen oder Waisen geworden waren?
Jasmins Entschluss, lieber in einem dörflichen Umfeld zu arbeiten, wo man wenigstens das Gefühl haben konnte, gegen das momentane Leid wirkungsvoll anzukämpfen, wurde immer fester. Die immensen Ausmaße der Zerstörung, die hoffnungslose Situation der Menschen in einem Land, wo es schon vor dem Erdbeben für viele kaum das Nötigste gegeben hatte, die traurigen Augen der Kinder, die überall zu sein schienen – das alles lähmte Jasmins Eifer. Was konnte sie schon erreichen? Die Überlebenden brauchten jetzt erst einmal Nahrung, Wasser, Behelfsunterkünfte und andere materielle Hilfe, die sie ihnen nicht geben konnte. So furchtbar es für die Angehörigen sein musste, dass die Toten ohne jeweilige religiöse Beerdigung in Massengräbern entsorgt wurden, so wichtig war die rasche Beseitigung der faulenden Kadaver. Sie hatte großen Respekt vor denen, die die Toten zu bergen halfen, DNA sicherten, um evtl. nachzuweisen, wer unter den Gestorbenen war. Das Rote Kreuz versuchte mit großem Aufwand mit Fotos und Listen Tote zu registrieren, Vermisste zu suchen und Familien zusammenzubringen.
Viertel vor 7 parkte der Ärztliche Leiter und verabschiedete sich freundlich von Jasmin, falls er sie später nicht mehr treffen sollte. Frau Dr. Wagner zog ihren Rucksack an und sah sich um. Wieder Menschenmassen, die sich vor dem Eingang drängelten, um von den Wächtern in geordnete Reihen gezwungen zu werden. Patienten wurden auf Tragen aus kaputten Möbeln oder selbstgebauten Karren gebracht. Jasmin überlegte, was sie mit den drei verbleibenden Stunden anfangen sollte. Sie hatten nicht einmal einen Treffpunkt vereinbart. Was wenn Harry sie nicht fand? Am besten würde sie ab ½ 10 vor dem Hauptzugang zum Lazarett warten. Ihr fiel ein, dass sie vergessen hatte, den Chefarzt um Verbandsmaterialien für ihre weitere Tätigkeit zu bitten. Ob auch einer der Ambulanzärzte befugt war, ihr etwas mitzugeben?
Sie steuerte auf den Eingang zu, wurde aber von einem Soldaten, der ihr den Zugang verwehrte, aufgehalten. Sie redete auf ihn ein, erst auf Französisch, dann auf Englisch, aber er schüttelte ablehnend den Kopf. Sie musste nochmals ins Zelthospital, um ihren großen Rucksack zu holen. Gestern hatte man sie doch auch ins Lager gelassen, aber dieser Soldat stellte sich stur. Jasmin zerbrach sich den Kopf, wie die Ärzte hießen, bei denen sie gestern zugesehen hatte, aber ihr fiel kein einziger der vielen Namen mehr ein. Plötzlich kam ihr das Namensschild, das ihr der haitianische Anästhesist gestern geliehen hatte, wieder in den Sinn. Sie kramte in ihrer Jackentasche, steckte sich das Plastikschildchen ans T-Shirt und ging selbstbewusst auf einen anderen Wachsoldaten zu, der nur einen kurzen Blick auf das Hospital-Logo über dem Namen warf, dann konnte sie passieren. Nun hatte sie noch 2 Stunden Zeit, machte sich auf die Suche nach dem OP-Zelt in der Hoffnung, dass sie Dr. Meunier seinen Badge zurückgeben könnte und er ihr eine Art Rezept für die Apotheke ausstellen könnte. Jetzt herrschte viel größeres Gedränge zwischen den Zelten als am Vorabend. Jasmin kam nur langsam voran.
9 Uhr 27 hatte sie alles erledigt: Badge-Rückgabe, nochmals im OP zugesehen, dank eines Zettels des Kollegen zwei Rollen Verbandsmull in ihren kleinen Rucksack gestopft, nicht viel, aber mehr hätte sie eh nicht noch transportieren können. Nun wartete sie ein ganzes Stück vor dem umdrängten Zugang an der Straße und hoffte, Harry nicht im Gewühl zu übersehen. Sie stand mit beiden Rucksäcken am Körper aus Angst, man könnte ihr einen entreißen, und wartete sehnlichst auf Harry. Bereits 10 vor 10 entdeckte sie den Reporter am offenen Fenster eines Autos, das in ihrer Nähe hielt. Harry stieg vom Beifahrersitz, kam zu ihr herüber und nahm ihr ganz Gentleman wieder den schwereren der beiden Rucksäcke ab, verstaute beide im Kofferraum und ließ sie auf die Rückbank steigen.
„Mon vieux ami, Paul!“, stellte Harry den Freund vor. Jasmin stellte sich deshalb auch mit ihrem Vornamen vor und dankte ihm gleich, dass er sie mitnahm. Die Männer unterhielten sich vorne lebhaft, Jasmin bekam hinten kaum etwas mit. Sie sah auf einem Platz Militärlaster, von denen aus Soldaten Wasserflaschen an die Bevölkerung ausgaben, Pick-ups, auf die Tote geladen wurden, Kinder, die mit einem Stein Fußball spielten, Frauen mit Kindern auf dem Arm ... Bald fuhren sie stadtauswärts, man sah auch mal Grün, weniger Menschen saßen und lagen an der Straße. Der kleine Hubschrauber stand auf einer steinigen Fläche nahe eines Wäldchens, das sich den Hügel raufzog.
Der Fahrer hielt, ließ die beiden Deutschen samt Gepäck aussteigen und fuhr auf den Wald zu. Der Besitzer versteckte sein Auto nur wenige Meter hinter der Waldgrenze zwischen den Bäumen und kehrte zu Fuß zu seinen Fluggästen zurück. Der Pilot öffnete seine Maschine, half Jasmin beim Einsteigen und verstaute mit Harry die drei Rucksäcke. Sie flogen vom Norden von Port-au-Prince an der Küste entlang nach Südwesten, so bekamen die Europäer die Zerstörungen des Hafens und der Küstengebiete aus der Luft zu sehen. Zutiefst erschüttert war Jasmin Wagner vom Anblick des Elendsviertels mit dem schönen Namen Cité Soleil (= Sonnenstadt). Von oben sah es aus, als bewegten sich die vielen Menschen, die man gerade noch erkennen konnte, auf einer Mülldeponie. Die durch jahrzehntelange Abholzung der Erosion ausgesetzten Hänge waren größtenteils durch die Beben abgerutscht. Man erkannte keine Straßen, Häuser oder Ähnliches. Welch ein Kontrast dazu das blaugrüne Meer und südlich der Hauptstadt helle Sandstrände, die Lust zum Baden machten!