Читать книгу SCHWARZE KITTEL - Katastrophen-Medizin - Jennifer Wegner - Страница 8
ОглавлениеAnkunft in Léogâne
Keine 20 Minuten nach dem Abflug landeten Jasmin und Harry dicht bei der Stadt Léogâne. Harrys Freund ließ den Motor laufen, während Jasmin und Harry geduckt ausstiegen und sich mit dem Gepäck entfernten, bevor der Hubschrauber wieder abhob und entschwand. Harry bot seiner Begleiterin an, ihr wieder den dunkelgrünen Rucksack abzunehmen, obwohl sie ihn heute zum ersten Mal selbst mit einem großen grau-schwarzen Rucksack beladen sah.
„Danke nein, vielleicht später!“
Harry drehte sich um und schritt flott aus. Jasmin hatte Mühe ihm zu folgen. Es verging keine Viertelstunde, dann konnte Jasmin nicht weiter. Ohne Worte holte Harry seinen Rucksack von seinem Rücken, schnallte ihn nach vorne und schwang sich Jasmins auf seinen Rücken. Jasmin hatte noch nicht einmal die Riemen wieder auf ihre Länge eingestellt gehabt. Selbst mit dem geringeren Gewicht gelang es Jasmin nicht, Schritt zu halten, so musste Harry immer wieder auf sie warten.
Anfangs waren sie querfeldein gegangen, dann auf ausgefahrenen Feldwegen. Als sie an eine quer verlaufende Straße kamen, schlug Jasmins Vordermann vor, dass sie an dieser Stelle warten sollte mit dem Gepäck, er würde in die Stadt gehen und ein Auto organisieren. Auch wenn Jasmin nicht ganz wohl bei der Idee war, allein hier stehen zu bleiben, wo immer mal Fahrzeuge vorbeikamen, aber niemand von ihnen Notiz zu nehmen schien, war die Aussicht auf einen langen Fußmarsch noch unangenehmer. Sie legten die Rucksäcke in einen ausgetrockneten kleinen Graben, in den Jasmin Wagner sich ebenfalls hockte, sobald Harry aufgebrochen war. Die Hitze und der Durst machten ihr zu schaffen. Am liebsten hätte die Deutsche sich ausgestreckt und geschlafen, aber so wehrlos am Straßenrand traute sie es sich nicht, sondern versuchte, sich die Zeit mit Planungen und Sortieren der Eindrücke zu vertreiben.
Irgendwann war sie doch mit dem Kopf auf ihren Knien liegend eingenickt, als das Geräusch eines haltenden Wagens sie aufschreckte. Nicht Harry, sondern zwei junge Schwarze stiegen aus und näherten sich ihr. Jasmin richtete sich auf, begrüßte die beiden forsch, sie warte auf ihren Mann, der gleich zurückkäme, lehnte deren Angebot, sie mitzunehmen, entschieden ab, zumal deren Wagen stadtauswärts unterwegs war. Zögernd, aber friedlich stiegen die Fremden wieder ein und fuhren weiter. Erleichtert setzte Jasmin sich wieder in die leichte Vertiefung und kramte nach einem Kaugummi, der ihr im Kampf gegen Hunger und Durst half.
Es schien endlos zu dauern, bis Harry tatsächlich selbst am Steuer einer alten Karre neben ihr hielt. Sie verstauten das Reisegepäck, Harry setzte ein Stück auf den Feldweg zurück, um zu drehen, und fuhr gemütlich nach Léogâne. Einzelne Straßen der Stadt waren relativ eben, aber häufig mussten sie abbiegen oder ein Stück umkehren, weil breite Risse oder Löcher in der Straße die Weiterfahrt unmöglich machten oder Trümmerreste die Durchfahrt versperrten. In dieser Stadt schien nichts heil geblieben zu sein. Ansonsten die gleichen Bilder von Obdachlosen, die überall ihr Lager aufzuschlagen schienen. Kinder kletterten auf den Steinhügeln rum, saßen, lagen oder spielten auf jedem kleinen freien Fleck. Jetzt in der Mittagshitze war der faulig-süßliche Geruch der Verwesung kaum auszuhalten. Jasmin zog ein Papiertaschentuch aus ihrer rechten Hosentasche und ließ einige Tropfen des kleinen 4711-Fläschchens, das sie morgens in ihre linke Hosentasche gesteckt hatte, auf das Tuch fallen, das sie sich anschließend locker vor Nase und Mund hielt.
„Bestens vorbereitet“, nickte Harry ihr zu.
Sie bot an, ihm auch eines zu machen, doch er musste ja fahren, so hielt sie ihm zweimal zwischendurch ihr Tuch vor seine Nase, bis er den Kopf schüttelte: „Danach ist es nur noch schlimmer!“
Damit hatte er leider recht. Der starke Geruch des Kölnisch Wassers verflog relativ rasch, und der Kontrast zu dem Ekel erregenden Leichengestank ließ sie würgen. Am liebsten hätte sie die Stadt sofort wieder verlassen, aber Harry schien ein Ziel zu haben, auf das er trotz aller Umwege zuhielt und schließlich in einer Gasse anhielt, die genauso kaputt aussah wie alle anderen. „Wir können die Sachen nicht im Auto lassen.“ Also zogen sie die Rucksäcke auf. Jasmin nahm ihre beiden selbst und hoffte inständig, dass es nicht mehr weit zu laufen war.
Tatsächlich stiegen sie über zwei Schutthaufen, bogen rechts ab in eine schmale Straße, nach ca. 70 m erneut nach rechts ab und hielten in einer noch engeren Gasse, in der es durch die eng stehenden Mauerreste etwas geschützter und geringgradig kühler war. Ein älterer Mulatte erhob sich und kam hinkend ein paar Schritte auf sie zu. Jasmin verstand seinen Namen nicht, aber begrüßte Harald Wehnert mit Wangenkuss rechts und links nach französischer Art. Er bot ihr mit der Hand eine Art Sitzplatz auf ein paar gestapelten Holzlatten an, dann unterhielt er sich mit Harry auf Kreolisch. Jasmin war überrascht, dass der Deutsche auch diesen Dialekt offensichtlich mühelos verstand und sogar sprach, während sie nur einzelne Worte aufschnappte, aber dem Gespräch nicht folgen konnte.
Bald wandte Harry sich ihr zu: „Ich gehe los, um zu schauen, ob der Messpunkt von Léogâne zugänglich ist, damit ich meine Daten bekomme. Was hast du vor?“
Jasmin zögerte. Sollte sie ihn begleiten? Sie befürchtete, ihm lästig zu werden. Alleine loszuziehen traute die deutsche Ärztin sich nach den bisherigen Eindrücken auch nicht. „Ich werde hierbleiben. Vielleicht kann ich bei irgendetwas helfen.“
Harry brach umgehend ohne Rucksack auf, begleitet vom einheimischen Freund.