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Chummy

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Als ich Camilla Fortescue-Cholmeley-Browne (»nennt mich einfach Chummy«) zum ersten Mal begegnete, dachte ich, sie sei ein Kerl in Frauenklamotten. Sie war 1,89 Meter groß, hatte Schultern wie ein Rugbystürmer und Schuhgröße 45 ½. Ihre Eltern hatten ein Vermögen dafür ausgegeben, sie femininer auftreten zu lassen, doch die Wirkung war gleich null.

Chummy und ich waren beide neu im Haus. Sie erschien am Morgen nach dem denkwürdigen Abend, an dem ich mit Schwester Monica Joan den für zwölf Esser bestimmten Kuchen weggeputzt hatte. Cynthia, Trixie und ich kamen gerade nach dem Frühstück aus der Küche, als es an der Haustür läutete und ein Riese im Rock eintrat. Sie blinzelte kurzsichtig hinter dicken, stahlgeränderten Brillengläsern hervor und auf uns nieder und sagte in überaus geschraubtem Tonfall: »Ist dies hier Nonnatus House?«

Trixie, die ein loses Mundwerk hatte, sah durch die Tür auf die Straße hinaus. »Ist da jemand?«, rief sie und kam wieder zurück in die Eingangshalle, wo sie gegen die Unbekannte prallte.

»Oh, Verzeihung, ich hatte dich gar nicht bemerkt«, sagte sie und verschwand in Richtung des Pflegearbeitsraums.

Cynthia machte einen Schritt auf sie zu und begrüßte die Frau mit der gleichen herzlichen Wärme und Freundlichkeit, die mich am Abend zuvor davon abgehalten hatte, gleich wieder zu verschwinden. »Du bist sicher Camilla.«

»Ach, nennt mich einfach Chummy.«

»Gut, Chummy, dann komm rein, wir suchen gleich Schwester Julienne. Hast du schon gefrühstückt? Ich bin mir sicher, dass Mrs B. noch was für dich findet.«

Chummy griff sich ihren Koffer, machte zwei Schritte und stolperte über die Fußmatte. »Ach Gottchen, was bin ich für ein Tollpatsch«, sagte sie mit einem mädchenhaften Kichern. Sie bückte sich, um die Fußmatte wieder geradezuziehen, kollidierte mit dem Garde­robenständer und räumte zwei Mäntel und drei Hüte ab.

»Tut mir ganz schrecklich leid. Ich hebe sie gleich auf«, doch Cynthia hatte sie sich schon geschnappt, um Schlimmeres zu vermeiden.

»Oh, danke, altes Haus«, sagte Chummy mit einem trockenen Lachen.

War das echt oder tut sie nur so?, dachte ich. Doch ihre Stimme­ war völlig echt und veränderte sich nie, auch nicht ihre Ausdrucksweise. Immer hieß es »feine Sache« oder »alles in Butter« oder »Wie stehts?«, und so seltsam es angesichts ihrer enormen Größe war, ihre Stimme blieb stets weich und zart. Ja, mir fiel mit der Zeit sogar auf, dass alles an Chummy weich und zart war. Trotz ihrer Erscheinung hatte sie nichts Bulliges an sich. Sie hatte den Charakter eines sanften, ungekünstelten Mädchens, unsicher und schüchtern. Außer­dem war ihr auf mitleiderregende Art daran gelegen, dass man sie mochte.

Die Fortescue-Cholmeley-Brownes gehörten zu den angesehensten Familien der Oberschicht. Chummys Ururgroßvater war in den 1820er-Jahren in den indischen Verwaltungsapparat eingetreten; eine Tradition, die Generationen überdauern sollte. Ihr Vater war Gouverneur von Rajasthan (einem Gebiet so groß wie Wales), wo er sich noch in den 1950er-Jahren zu Pferd fortbewegte. All das erfuhren wir durch die Fotos, die in Chummys Zimmer hingen. Sie war neben sechs Brüdern das einzige Mädchen, doch unglücklicherweise etwa zwei Zentimeter größer als der Rest der Familie.

Alle Kinder waren in England zur Schule gegangen: die Jungen in Eton und Chummy in Roedean. Man hatte sie der Obhut von Vormunden anvertraut, denn ihre Mutter blieb bei ihrem Mann in Indien. Chummy hatte offenbar seit ihrem sechsten Lebensjahr im Internat gewohnt und kannte kein anderes Leben. Sie hing mit rührender Leidenschaft an ihren Familienfotos – vielleicht, weil sie ihrer Familie nirgends näher war – und liebte besonders eins, das sie mit etwa vierzehn Jahren an der Seite ihrer Mutter zeigte.

»Das war, als ich Ferien mit der Frau Mama machte«, sagte sie stolz, ohne sich bewusst zu sein, welches Pathos dabei in ihrer Stimme­ lag.

Nach Roedean besuchte sie in der Schweiz eine Privatschule,­ dann ging es zurück nach London, an die Lucy Clayton Charm School, wo sie sich auf die Einführung bei Hofe vorbereitete. Es war die Zeit der Debütantinnen, als die Töchter der »besten« Familien des Landes noch ihr »coming out« hatten – was ja heute einen ganz anderen Sinn hat. Damals bedeutete es, dass man in aller Form im Buckingham Palace dem König vorgestellt wurde. Auch Chummy war vorgestellt worden, zwei Fotos zeugten von dem großen Ereignis. Auf dem ersten stand unverkennbar Chummy in einem übertrieben spitzen­verzierten Ballkleid mit Bändern und Blüten inmitten einer Gruppe ebenso zurechtgemachter Mädchen, die sie mit ihren riesigen, knochigen Schultern überragte. Auf dem zweiten Foto wurde sie George VI. vorgestellt. Ihre schiere Größe und ihr kantiges ­Äußeres betonten den zierlichen Charme der Königin und die zarte Schönheit der beiden Prinzessinnen Elizabeth und Margaret. Ich frage mich, ob Chummy bewusst war, wie grotesk sie auf den Fotos aussah, die sie uns so voller Zufriedenheit und Freude zeigte.

Nach der Nummer als Debütantin kam ein Jahr an einer ­Cordon-Bleu-Schule, die eine kleine Anzahl ausgewählter junger Damen in ihrem Koch-Internat aufnahm. Hier erlernte Chummy die hohe Kunst, eine perfekte Gastgeberin zu sein – die perfekte Horsd’œvres oder eine perfekte Foie gras zubereitet –, doch sie blieb eine un­gelenke, unbeholfene Erscheinung in Übergröße, als Gastgeberin gesellschaftlicher Anlässe völlig ungeeignet. Also wurde beschlossen, dass eine Ausbildung an der besten Handarbeitsschule Londons das Richtige für sie sei. Zwei Jahre lang häkelte, stickte und klöppelte sie, fertigte Occhi, Quilts und Lochstickereien. Zwei Jahre lang saß sie an der Maschine, fügte Schultern zusammen und nähte doppelte Säume. Während die anderen Mädchen munter fischgräteten, federstickten und fröhlich – oder traurig – über Jungs und Freunde plapperten, blieb Chummy, die alle mochten, aber niemand liebte, abseits – eine Kameradin, aber nicht mehr.

Sie wusste nicht, wie ihr geschah, doch plötzlich, wie aus dem Nichts, entdeckte sie ihre Berufung: die Pflege und Gott. Chummy wollte Missionarin sein.

Auf dem Höhepunkt ihrer Begeisterung schrieb sie sich an der Nightingale School of Nursing am St Thomas’s Hospital in London ein. Vom ersten Tag an war es eine Erfolgsgeschichte und sie gewann an drei aufeinanderfolgenden Jahren den Nightingale-Preis. Sie liebte die Arbeit auf Station und spürte zum ersten Mal Selbstvertrauen,­ denn sie war kompetent und sie wusste, dass sie endlich ange­kommen war. Die Patienten liebten sie, das höhergestellte Personal begegnete ihr mit Respekt und die Jüngeren verehrten sie. Trotz ihrer Größe war sie feinfühlig und sie hatte ein intuitives Gespür für Pa­tienten, besonders für die sehr alten, schwer kranken und sterbenden. Sogar ihre Tollpatschigkeit – die in jungen Jahren so typisch für sie gewesen war – war auf einmal verschwunden. Auf Station ließ sie nichts fallen, sie machte nichts kaputt, bewegte sich nicht linkisch und prallte mit niemandem zusammen. All dies plagte sie offenbar nur in der Öffentlichkeit, für die sie weiterhin völlig unbrauchbar schien.

Natürlich machten sich die Medizinstudenten und die jungen Ärzte, die zu neunzig Prozent Männer waren und immer Ausschau nach hübschen Schwestern hielten, über sie lustig und rissen grobe Witze über die Schwierigkeit, einen Brauereigaul zu besteigen, und fragten sich, wer von ihnen Hengst genug sei, es zu versuchen. Erstsemestern wurde von einer bezaubernd schönen Schwester auf der Station Nord berichtet, mit der man durchaus ein Blinddate arrangieren könne, doch sie ergriffen vor Schreck die Flucht, sobald die Wahrheit ans Tageslicht kam, und schworen den Possenreißern Vergeltung. Glücklicherweise bekam Chummy von diesen Geschichten und Streichen nie etwas mit. All das ging einfach unbeachtet an ihr vorbei. Wäre ihr davon etwas zu Ohren gekommen, so hätte sie die Quälgeister wahrscheinlich aus schlichtem Unverständnis freundlich angestrahlt und ihnen durch ihre Arglosigkeit die Schamesröte ins Gesicht getrieben.

Chummys erster Auftritt in der Welt der Geburtshilfe war nicht von dem gleichen Erfolg gekrönt, doch kaum weniger spektakulär.­ Es dauerte einige Tage, bis sie sich in unserem Bezirk bewegen konnte. Erstens passte ihr die Hebammentracht nicht. »Macht nichts, ich nähe sie mir selbst«, sagte sie fröhlich. Schwester Julienne bezweifelte, dass ein Schnittmuster aufzutreiben sei. »Keine Sorge, ich kann ja aus Zeitungspapier eins anfertigen.« Zu unser aller Erstaunen konnte sie das. Stoff wurde besorgt und im Nu waren ein paar Kleider fertig.

Mit dem Fahrrad war es nicht ganz so einfach. Bei all der ge­hobenen Erziehung und den einer Dame angemessenen Fertigkeiten hatte niemand je daran gedacht, ihr das Fahrradfahren beizubringen. Reiten selbstverständlich, aber nicht Radfahren.

»Macht nichts, das kann ich ja lernen«, sagte sie fröhlich. Schwester­ Julienne fand, es sei für eine Erwachsene schwierig, das nachzuholen. »Keine Sorge, ich kann ja üben«, lautete ihre immer noch unbekümmerte Antwort.

Cynthia, Trixie und ich gingen mit ihr zum Fahrradschuppen und suchten uns das größte Exemplar aus – ein riesiges, altes Raleigh-Rad, Baujahr etwa 1910, ganz aus Eisen, mit einem Rahmen für Damen und hoher Lenkstange. Die massiven Reifen waren etwa sieben Zentimeter dick und es gab keine Gangschaltung. Das ganze Ding wog ungefähr eine halbe Tonne – aus diesem Grund benutzte es niemand. Trixie ölte die Kette und schon waren wir bereit.

Es war kurz nach dem Mittagessen. Wir nahmen uns vor, Chummy die Leyland Street hinauf und hinunter zu schieben, bis sie ein Gefühl für das Gleichgewicht bekommen hatte. Anschließend sollte es im Konvoi dorthin gehen, wo es ruhige, ebene Straßen gab. Die meisten Menschen, die erst als Erwachsene Fahrradfahren zu lernen versuchten, werden bestätigen, dass es eine schreckliche Erfahrung ist. Viele halten es für unmöglich und geben auf. Doch Chummy war aus härterem Holz geschnitzt. Ihre Ahnen hatten das britische Empire errichtet und in ihren Adern floss deren Blut. Außerdem wollte sie Missionarin werden und dazu musste sie zunächst Hebamme sein. Wenn Fahrradfahren dazugehörte – so sei es. Sie würde die Sache schon schaukeln.

Wir schoben sie und sie schwankte in ihrer ganzen Größe hin und her. »Treten, treten, treten. Weiter, weiter«, riefen wir, bis wir nicht mehr konnten. Sie bestand aus fünfundsiebzig Kilo Knochen und Muskeln und das Fahrrad wog auch noch einmal vierzig, aber wir schoben weiter. Um vier Uhr war in der Schule vor Ort der Unter­richt zu Ende und die Kinder strömten nach draußen. Etwa zehn von ihnen übernahmen unsere Aufgabe und gönnten uns Mädchen eine wohlverdiente Pause. Sie liefen neben und hinter dem Fahrrad her, schoben und riefen aufmunternde Worte.

Mehrmals stürzte Chummy schwer. Sie prallte mit dem Kopf gegen den Bordstein und sagte: »Keine Sorge – kein Hirn, das Schaden nehmen könnte.« Sie riss sich das Bein auf und murmelte: »Nur ein Kratzer.« Sie fiel heftig auf ihren Arm und erklärte: »Ich hab ja noch einen.« Sie war nicht kleinzukriegen. Allmählich hatten wir Respekt vor ihr. Selbst die jungen Cockneys, die sie zunächst als komische Einlage betrachtet hatten, änderten ihren Ton. Ein grobes Bürschchen, das sie zunächst unverhohlen verspottet hatte, betrachtete sie jetzt voll ernster Bewunderung.

Es war nun an der Zeit, sich aus der Leyland Street hinaus­zuwagen. Chummy konnte das Gleichgewicht halten und treten, also wollten wir eine halbe Stunde lang durch die Straßen fahren. Trixie fuhr voraus, Cynthia und ich links und rechts von Chummy und die Kinder rannten uns schreiend hinterher.

Wir kamen bis ans Ende der Leyland Street, aber keinen Meter weiter. Wir waren nicht auf die Idee gekommen, Chummy zu zeigen, wie man abbiegt. Trixie bog links ab, rief: »Fahr mir einfach nach«, und weg war sie. Cynthia und ich steuerten nach links, aber Chummy fuhr weiter geradeaus. Ich bemerkte ihren starren Gesichts­ausdruck, als sie direkt auf mich zukam, dann herrschte Chaos. Ein Polizist war offenbar gerade dabei, die Straße zu überqueren, als wir beide in ihn hineinrasselten. Wir landeten auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig. Dabei zu sein, wie ein Gesetzeshüter von ein paar Hebammen über den Haufen gefahren wird, war für die Kinder die reine­ Freude. Sie schrien vor Begeisterung, mehrere Türen entlang der Straße ­taten sich auf und entließen weitere Kinder und neugierige Erwachsene ins Freie.

Ich lag auf dem Rücken in der Gosse und wusste nicht mehr, was geschehen war. Von dort hörte ich ein Stöhnen und dann erhob sich der Polizist mit den Worten: »Welcher Wahnsinnige war das?« Ich sah, wie Chummy sich aufsetzte. Sie hatte ihre Brille verloren und sah sich blinzelnd um. Vielleicht erklärt das, was nun geschah, vielleicht war sie aber auch nur ein wenig benommen. Sie schlug dem Mann mit ihrer riesigen Hand kräftig auf den Rücken und sagte: »Nicht jammern. Kopf hoch, altes Haus. Immer schön Haltung bewahren, nicht wahr?« Sie hatte offenbar nicht bemerkt, dass er Polizist war.

Er war ein großer Mann, aber nicht so groß wie Chummy. Der Schlag warf ihn nach vorn, er stieß mit dem Gesicht gegen eines der Fahrräder und verletzte sich an der Lippe. Chummy sagte nur: »Ach, nur ein Kratzer. Nicht aufregen, alter Knabe«, und klopfte ihm abermals auf den Rücken.

Der Polizist war außer sich vor Zorn. Er zückte sein Notizbuch und befeuchtete seinen Bleistift. Die Kinder verschwanden. Die Straße leerte sich. Er schaute Chummy streng ins Gesicht. »Ich werde jetzt Ihren Namen und Ihre Anschrift aufnehmen. Einen Polizisten anzugreifen, ist ein ernstes Vergehen. Das wird ein Nachspiel haben.«

Ich schwöre, dass wir es Cynthias wohlklingender Stimme zu verdanken haben, dass wir noch einmal davonkamen. Ohne sie hätten wir uns am folgenden Tag vor dem Untersuchungsrichter wieder­gefunden. Ich habe nie herausbekommen, wie sie es angestellt hat, und sie selbst war sich gar nicht bewusst, wie charmant sie wirkte. Sie sagte nur wenig, doch schon bald war der Zorn des Mannes verflogen und im Nu fraß er ihr aus der Hand. Er hob unsere Fahrräder auf und geleitete uns die Straße hinunter zum Nonnatus House. Dort verließ er uns mit den Worten: »Nett, Sie kennengelernt zu haben, meine Damen. Ich hoffe, wir begegnen uns bald wieder.«

Chummy musste drei Tage im Bett bleiben. Der Arzt stellte einen Spätschock und eine leichte Gehirnerschütterung fest. Die nächsten sechsunddreißig Stunden schlief sie nur. Sie hatte leichtes Fieber und einen unruhigen Puls. Am vierten Tag konnte sie sich aufsetzen und fragte, was passiert sei. Als wir es ihr erzählten, erschrak sie. Sie war voller Reue. Kaum konnte sie das Haus wieder verlassen, führte sie ihr erster Gang zur Polizeiwache, wo sie den Beamten besuchte, den sie verletzt hatte. Sie hatte eine Schachtel Pralinen und eine Flasche Whisky dabei.

Call the Midwife - Ruf des Lebens

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