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Ruf die Hebamme

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Wieso habe ich mir das bloß eingebrockt? Ich muss verrückt gewesen sein! Dutzende andere Berufe hätte ich ergreifen können – Mannequin, Flugbegleiterin, Stewardess auf einem Schiff. Vor meinem inneren Auge stelle ich sie mir vor, all diese glamourösen, gut bezahlten Jobs. Nur eine Idiotin konnte beschließen, Krankenschwester zu werden. Und jetzt sogar Hebamme …

Morgens halb drei. Noch halb im Schlaf kämpfe ich mich in meine Tracht. Nur drei Stunden Schlaf nach einem Siebzehn-Stunden-Tag. So möchte doch niemand arbeiten! Draußen ist es eisig und es regnet. Im Nonnatus House ist es schon kalt genug, aber im Fahrrad­schuppen erst recht. Ich schramme an einem anderen Fahrrad entlang und schürfe mir das Knie auf. Aus reiner Gewohnheit beiße ich die Zähne zusammen, klemme meine Entbindungstasche aufs Rad und schiebe es hinaus auf die verlassene Straße.

Einmal um die Ecke, dann in die Leyland Street, quer über die East India Dock Road und weiter zur Isle of Dogs. Der Regen hat mich munter gemacht und durch das gleichmäßige Treten werde ich wieder ruhig. Warum nur bin ich Krankenschwester geworden? In Gedanken reise ich fünf, sechs Jahre zurück. Berufung war es sicher nicht, keine Spur von dem brennenden Verlangen, Kranken zu helfen, das Schwestern angeblich empfinden. Was war es dann? Liebeskummer, sicher, das Bedürfnis auszubrechen, die Herausforderung, die sexy Tracht mit ­Kragen und Manschetten, schmaler Taille und dem neckischen Käppchen. Aber waren das echte Gründe? Ich weiß es nicht mehr. Sexy Tracht, ha, von wegen, denke ich bei mir, während ich so durch den Regen strample und mir die Kappe über beide Ohren ziehe. Sehr sexy.

Dann über die erste Drehbrücke, die zu den Trockendocks führt. Den ganzen Tag über herrschen hier Lärm und Geschäftigkeit, wenn die großen Schiffe beladen und entladen werden. Tausende von Männern schuften ohne Rast: Werft- und Hafenarbeiter, Fahrer, Lotsen, Seeleute, Mechaniker und Kranführer. Jetzt ist es ruhig in den Docks, nur das Plätschern des Wassers ist zu hören. Und es ist stockfinster.

Nun vorbei an den Behausungen, wo Tausende von Menschen in ihren kleinen Zweizimmerwohnungen schlafen, wohl vier oder fünf in einem Bett. Zwei Zimmer für eine Familie mit zehn oder zwölf Kindern. Wie schaffen sie das bloß?

Ich radele weiter, denn ich muss zu meiner Patientin. Zwei Poli­zisten winken und rufen mir einen schnellen Gruß zu. Diese ­Begegnung baut mich wieder auf. Ein tiefes Verständnis verbindet Kranken­schwestern und Polizisten, besonders im East End. Es ist doch interessant, dass sie zum gegenseitigen Schutz immer zu zweit sind. Nie sieht man einen einzelnen Polizisten. Doch wir Schwestern und Hebammen gehen oder radeln immer allein. Uns würde niemand etwas tun. So tief ist der Respekt, ja die Verehrung, die selbst der härteste, zäheste Docker für die Hebammen des Bezirks empfindet, dass wir alleine gehen können, wohin wir möchten, ob Tag oder Nacht, ganz ohne Angst.

Die dunkle, unbeleuchtete Straße liegt vor mir. Sie führt in einem Stück rings um die Halbinsel, von ihr aus zweigen schmale Sträßchen ab, die sich kreuzen und an denen Tausende Reihenhäuser liegen. Die Ringstraße strahlt etwas Romantisches aus, denn das Geräusch des Flusses ist ein ständiger Begleiter.

Schon bald biege ich von der West Ferry Road in eine der Seiten­straßen ab. Ich kann das Haus meiner Patientin sofort sehen – es ist das einzige, in dem Licht brennt.

Offenbar steht drinnen eine ganze Abordnung von Frauen zu meinem Empfang bereit, die Mutter der Patientin, ihre Großmutter (oder waren es zwei Großmütter?), zwei, drei Tanten, Schwestern, beste Freundinnen, eine Nachbarin. Na Gott sei Dank ist Mrs Jenkins diesmal nicht hier, denke ich.

Irgendwo im Hintergrund, verdeckt von dieser mächtigen schwes­terlichen Versammlung, wartet ein einsamer Mann, der Urheber des ganzen Aufruhrs. Mir tun die Männer in dieser Situation immer leid. Sie wirken so sehr an den Rand gedrängt.

Der Lärm und das Schwatzen der Frauen umfangen mich wie eine Decke.

»Hallo Liebes, wie gehts dir? Bist ja flott hergekommen.«

»Gib ma Jacke un Mütz her.«

»Scheußliche Nacht. Komm rein un wärm dich auf.«

»Wie wärs mit’m Tässchen Tee? Dann is dir schnell wieder kuschlig warm, was, Liebes?«

»Sie is noch oben. Wehen so ungefähr alle fünf Minuten. Sie hat geschlafen, nachdem du weg bist, ab kurz vor Mitternacht. Dann is sie so um zwei aufgewacht, weil die Wehen schlimmer wurden, un auch schneller, also ham wir gedacht, wir rufen mal die Hebamme, nich, Mum?«

Mum nickt und schiebt sich nach vorne, denn sie hat hier das Kommando.

»Wir ham Wasser heiß gemacht, und ne ganze Ladung schön saubere Handtücher, und Feuer ham wir gemacht, damits schön warm is für das kleine Baby.«

Ich habe nie viel sagen können und in einer solchen Situation muss ich auch nicht viel sagen. Ich gebe ihnen meinen Mantel und Hut, doch den Tee lehne ich ab, denn aus Erfahrung weiß ich, dass der Tee in Poplar in der Regel widerlich ist: so stark, dass er als Holzschutzlack dienen könnte, stundenlang warm gehalten und dann mit klebrig-süßer Kondensmilch verfeinert.

Ich bin froh, dass ich Muriel schon früher am Tag rasiert habe, als genügend Licht war und ich nicht Gefahr lief, sie zu verletzen. Bei der Gelegenheit habe ich ihr auch den erforderlichen Einlauf gegeben. Das ist eine Aufgabe, die ich hasse; gut also, dass ich das hinter mir habe. Überhaupt: Wer gibt schon gerne jemandem einen Einlauf aus einem Liter Seifenwasser (besonders wenn es im Haus keine Toilette gibt) mit dem ganzen Dreck und Gestank, und das um halb drei in der Nacht?

Ich gehe nach oben zu Muriel, einer stämmigen jungen Frau, fünfundzwanzig Jahre alt, die ihr viertes Kind bekommt. Die Gaslampe taucht den Raum in ein weiches, warmes Licht. Das Feuer lodert kräftig und die Hitze nimmt mir fast den Atem. Auf den ersten Blick erkenne ich, dass Muriel bald in die zweite Geburtsphase eintreten wird – das Schwitzen, das sanfte Keuchen, der seltsam nach innen gekehrte Blick, den die Frau in dieser Phase hat, während sie ihre ganze mentale und physische Kraft sammelt und sich auf das Wunder konzentriert, das sie gleich vollbringen wird. Sie sagt nichts, drückt nur meine Hand und lächelt mich kurz an, wie jemand, der gerade beschäftigt ist. Vor drei Stunden habe ich sie in der ersten Geburtsphase verlassen. Vorwehen hatten sie bereits den ganzen Tag über geplagt und sie war sehr müde, also habe ich ihr gegen zehn Uhr abends Chloralhydrat gegeben und gehofft, sie würde die ganze Nacht durchschlafen und morgens erfrischt aufwachen. Es hat nicht geklappt. Verläuft eine Geburt jemals so, wie man es möchte?

Ich muss genau wissen, wie weit sie schon ist, also bereite ich mich auf eine vaginale Untersuchung vor. Während ich mir die Hände wasche, kommt die nächste Wehe – man kann sehen, wie sie allmählich stärker wird, bis es schließlich scheint, als müsse Muriels armer Körper zerbrechen. Es gibt Schätzungen, nach denen jede Kontraktion des Uterus auf dem Höhepunkt der Geburt den gleichen Druck ausübt wie die sich schließenden Türen eines U-Bahn-Zugs. Wenn ich Muriel so in ihren Wehen beobachte, sehe ich keinen Grund, daran zu zweifeln. Ihre Mutter und ihre Schwester sitzen bei ihr. Sie klammert sich in stummem Schmerz an sie, hält die Luft an und ein atem­loses Stöhnen dringt aus ihrer Kehle; dann ist es vorbei und sie sinkt erschöpft zurück, um ihre Kraft für die nächste Wehe zu sammeln.

Ich ziehe meine Handschuhe über und fette meine Hand ein. Ich bitte Muriel, ihre Knie anzuziehen, da ich sie untersuchen möchte. Sie weiß genau, was ich tun werde und warum. Ich lege ein steriles­ Tuch unter ihr Gesäß und führe zwei Finger in ihre Vagina. Der Kopf liegt schön weit unten, vordere Hinterhauptslage, nur noch ein dünner Saum des Gebärmutterhalses ist zu ertasten, doch die Fruchtblase ist offenbar noch intakt. Ich lausche auf das Herz des Fötus, gleichmäßige 130. Gut. Mehr muss ich nicht wissen. Ich sage ihr, dass alles normal läuft und sie es bald geschafft hat. Dann kommt eine neue Wehe, und alles, was es noch zu sagen oder zu tun gibt, muss warten, so stark hält die Wehe sie im Griff.

Mein Tablett muss vorbereitet werden. Die Kommode ist schon freigeräumt worden, damit ich eine Arbeitsfläche habe. Ich lege alles bereit: Schere, Nabelschnurklammern, Nabelband, Stetho­skop, Nieren­schalen, Mullbinden und Tupfer, Arterienklemme. Viel braucht man nicht, vor allem muss es leicht transportierbar sein – auf dem Fahrrad, aber auch auf den meilenweiten Strecken zu Fuß die Treppen und Galerien der Wohnblocks hinauf und hinunter.

Das Bett ist bereits zuvor hergerichtet worden. Ein vorbereitetes Geburtspaket hat der Ehemann ein, zwei Wochen vor dem Termin abgeholt. Es enthält Entbindungsunterlagen – wir nennen sie »Bunnies« –, breite saugfähige Tücher zum Wegwerfen und nicht saugfähiges braunes Papier. Dieses braune Papier sieht lächerlich alt­modisch aus, aber es erfüllt genau seinen Zweck. Es bedeckt das ganze Bett, all die Tupfer und Tücher können daraufgelegt werden und nach der Entbindung wird alles darin zusammengepackt und verbrannt.

Die Wiege steht bereit. Eine größere Waschschüssel ist da, und unten wird literweise Wasser erhitzt. Es gibt kein fließend heißes Wasser im Haus und ich frage mich, wie man all das geschafft hat, als es noch überhaupt keine Wasserleitungen gab. Die Leute müssen die ganze Nacht über beschäftigt gewesen sein, Wasser von draußen zu holen und es heiß zu machen. Wo eigentlich? Auf dem Herd in der Küche, in dem die ganze Zeit über ein Feuer brennen musste – ein Kohlenfeuer, wenn sie es sich leisten konnten, ansonsten ein Feuer aus Treibholz.

Aber ich habe keine Zeit, dazusitzen und nachzudenken. Oft kann man bei einer Geburt die ganze Nacht lang warten, aber ­irgendwie spüre ich, dass es hier anders sein wird. Die zunehmende Stärke und Häufigkeit der Wehen zeigt mir hier bei Muriels viertem Baby, dass es nicht mehr lange bis zur zweiten Phase dauern wird. Die Wehen kommen nun alle drei Minuten. Wie viel wird sie noch ertragen können; wie viel können Frauen überhaupt ertragen? Plötzlich platzt die Fruchtblase und das Fruchtwasser tränkt das Bett. So gefällt es mir. Wenn die Fruchtblase zu früh platzt, werde ich ein bisschen nervös. Nachdem die Wehe vorbei ist, wechsele ich mit der Mutter so schnell wir können die triefende Bettwäsche. Muriel kann zu diesem Zeitpunkt das Bett nicht mehr verlassen, also müssen wir sie auf die Seite drehen. Mit der nächsten Wehe sehe ich den Kopf. Jetzt ist äußerste Konzentration gefragt.

Mit animalischem Instinkt fängt sie an zu pressen. Eine Mehrfachmutter kann den Kopf oft innerhalb von Sekunden heraus­pressen, aber das möchte man nicht. Jede gute Hebamme versucht zu bewirken, dass der Kopf langsam und stetig austritt.

»Muriel, ich möchte, dass du dich nach dieser Wehe auf deine linke Seite drehst. Versuch jetzt nicht zu pressen, solange du noch auf dem Rücken liegst. So ists gut, dreh dich zur Wand um, Schatz. Zieh dein rechtes Bein hoch, Richtung Kinn. Atme tief durch und atme dann genau so weiter. Deine Schwester hilft dir.« Ich lehne mich über das niedrige durchhängende Bett. In dieser Gegend scheinen alle Betten durchzuhängen, denke ich. Manchmal muss ich Babys auf meinen Knien zur Welt bringen. Aber keine Zeit für Gedanken, eine weitere Wehe kommt.

»Tief atmen; ein bisschen pressen, aber nicht zu fest.« Die Wehe lässt nach und ich höre mir wieder das Herz des Fötus an: 140 diesmal. Immer noch recht normal, aber der schnellere Herzschlag zeigt, was das Baby bei seiner Geburt durchmacht. Noch eine Wehe.

»Jetzt ein klein wenig pressen, Muriel, aber nicht zu fest, gleich haben wir dein Baby auf der Welt.«

Sie ist außer sich vor Schmerzen, aber eine Art verzweifelt-­erhabenes Gefühl überkommt eine Frau während der letzten Momente einer Geburt und die Schmerzen scheinen nicht wichtig zu sein. Noch eine Wehe. Der Kopf kommt jetzt schnell, zu schnell.

»Nicht pressen, Muriel, nur hecheln – einatmen und aus – schnell, genau so weiterhecheln.«

Ich halte den Kopf zurück, sodass er nicht herausschießen und dabei einen Dammriss verursachen kann.

Es ist sehr wichtig, den Kopf vorsichtig zwischen den Wehen herauszuführen, und während ich ihn zurückhalte, merke ich, wie ich schwitze – vor Anstrengung und Konzentration, durch die Hitze und die Intensität des Moments.

Die Wehe geht, ich entspanne mich ein wenig und höre noch einmal auf das Herz des Fötus – immer noch normal. Die Geburt steht kurz bevor. Ich lege den Ballen meiner rechten Hand unter den geweiteten Anus und drücke fest und gleichmäßig nach vorne, bis der Scheitel ganz aus der Scheide heraustritt.

»Mit der nächsten Wehe wird der Kopf geboren, Muriel. Ich möchte jetzt, dass du gar nicht mehr presst. Überlass alles einfach deinen Bauchmuskeln. Du musst nur noch versuchen, dich zu entspannen, und wie verrückt hecheln.«

Ich mache mich entschlossen bereit für die nächste Wehe, die überraschend schnell kommt. Muriel hechelt nun durchgehend. Ich schütze den Damm unter dem heraustretenden Scheitel und der Kopf ist draußen.

Wir stoßen alle einen Seufzer der Erleichterung aus. Muriel ist ganz schwach vor Anstrengung.

»Gut gemacht, Muriel, du machst das ganz toll. Jetzt dauert es nicht mehr lange. Noch eine Wehe, dann wissen wir, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist.«

Das Gesicht des Babys ist blau und runzlig und mit Schleim und Blut bedeckt. Ich prüfe den Herzschlag. Immer noch normal. Ich ­beobachte, wie sich der Kopf wieder um einen Achtelkreis zurückdreht. Die vorneliegende Schulter kann nun unter dem Schambogen hervor zur Welt gebracht werden. Noch eine Wehe.

»Jetzt, Muriel, jetzt kannst du pressen – fest.«

Ich helfe der vorn liegenden Schulter mit einer vorwärts und aufwärts gerichteten Bewegung nach draußen. Die andere Schulter und der Arm folgen und der ganze Babykörper rutscht ohne Anstrengung nach.

»Wieder ein kleiner Junge«, ruft die Mutter. »Gott seis gedankt. Is er gesund, Schwester?«

Muriel hat Freudentränen in den Augen. »Oh, Gott segne ihn. Lasst mich doch mal sehen. Och, is der süß.«

Ich bin fast genauso überwältigt wie Muriel, so groß ist die Erleichterung bei einer komplikationslosen Entbindung. Ich klemme die Nabelschnur des kleinen Jungen an zwei Stellen ab und schneide sie dazwischen durch. Ich halte ihn an den Füßen hoch, um sicher zu sein, dass kein Schleim in seine Luftröhre gelangt.

Er atmet. Das Baby ist nun ein eigenes Wesen.

Ich wickele ihn in die Handtücher, die man mir reicht, und gebe ihn Muriel, die ihn in den Arm nimmt, »ku-ku« macht, ihn küsst und ihn »so schön, so süß, ein Engel« nennt. Ehrlich gesagt ist ein blutverschmiertes, noch leicht blaues Baby mit aufwärts verdrehten Augen in den ersten Momenten nach seiner Geburt kein wirklich schöner Anblick. Aber seine Mutter nimmt ihn nicht so wahr. Für sie ist es perfekt.

Doch meine Aufgabe ist noch nicht erledigt. Die Plazenta muss noch geboren werden, und zwar in einem Stück, ohne dass Teile abgerissen werden und im Uterus zurückbleiben. Falls das passiert, ist die Frau in Gefahr: dann drohen Infektionen, fortschreitende Blutungen, vielleicht sogar massiver Blutverlust, der tödlich sein kann. Das ist der vielleicht kniffligste Teil jeder Entbindung: die Plazenta ganz und intakt herauszubekommen.

Die Muskeln des Uterus, die gerade ihre anstrengende Aufgabe, das Baby zur Welt zu bringen, erfüllt haben, scheinen sich nun oft ein wenig Urlaub gönnen zu wollen. Häufig kommen während der nächsten zehn bis fünfzehn Minuten keine weiteren Wehen. Das ist schön für die Mutter, die sich jetzt nur noch zurücklehnen und mit ihrem Baby schmusen will und der alles, was dort unten vor sich geht, gleich ist. Doch der Hebamme bereitet das durchaus Sorgen. Wenn endlich die Wehen erneut einsetzen, sind sie oft sehr schwach. Will man die Plazenta ordentlich zur Welt bringen, kommt es auf sorgsames Timing, Einschätzungsvermögen und vor allem Erfahrung an.

Es heißt, man braucht sieben Jahre praktische Erfahrung, um eine gute Hebamme zu werden. Es war mein erstes Jahr und ich war allein, mitten in der Nacht bei einer Frau und ihrer Familie, die mir vertraute, und es gab kein Telefon im Haus.

Bitte, Gott, lass mich jetzt keinen Fehler machen, bete ich.

Nachdem ich das Bett vom Gröbsten gereinigt habe, lege ich Muriel auf ihren Rücken, auf warme, trockene Unterlagen, und ­decke sie zu. Ihr Puls und ihr Blutdruck sind normal und das Baby liegt ruhig in ihrem Arm. Ich muss nur noch warten.

Ich setze mich auf einen Stuhl neben dem Bett und lege meine Hand auf den Fundus, um tasten und abwägen zu können. Manchmal kann die dritte Phase zwanzig bis dreißig Minuten dauern. Ich sinne darüber nach, wie wichtig Geduld ist und welche schrecklichen Dinge passieren können, wenn man den Lauf der Dinge unbedingt beschleunigen will. Der Fundus der Gebärmutter fühlt sich weich und breit an, also sitzt die Plazenta offenbar noch fest am oberen Teil des Uterus. Ganze zehn Minuten lang kommen keine Wehen. Die Nabelschnur hängt noch aus der Vagina und ich habe mir an­gewöhnt, sie genau unterhalb der Scheide abzuklemmen, sodass ich sehen kann, wenn sie länger wird – ein Zeichen, dass sich die Plazenta löst und sich in den unteren Teil des Uterus senkt. Aber es geschieht nichts. Mir geht durch den Kopf, dass in den Geschichten von Taxifahrern oder Busschaffnern, die Babys sicher zur Welt bringen, davon nie die Rede ist. Im Notfall kann jeder Busfahrer ein Baby entbinden, aber wer hätte auch nur die geringste Ahnung, wie man die dritte Phase bestreitet? Ich stelle mir vor, dass besonders ahnungslose Leute an der Nabelschnur zögen, in dem Glauben, das helfe, die Plazenta ­herauszubekommen, aber das kann geradezu ­fatal enden.

Muriel gurrt und küsst ihr Baby, während ihre Mutter aufräumt. Das Feuer knistert. Ich sitze still da, warte und denke nach.

Warum gelten Hebammen nicht als Heldinnen der Gesellschaft, so wie es sein sollte? Warum genießen sie kein besonderes Ansehen? Sie sollten von allen himmelhoch bejubelt werden. Doch das werden sie nicht. Die Verantwortung, die sie tragen, ist kaum zu überschätzen. Ihr Können und ihr Wissen sind ohne Vergleich und doch scheint es völlig selbstverständlich, dass es sie gibt, und sie werden meist bald wieder vergessen.

In den 1950er-Jahren wurden alle Medizinstudenten von Hebammen ausgebildet. Natürlich gab es Vorlesungen von Geburts­medizinern, aber ohne klinische Praxis sind Vorlesungen bedeutungslos. Also bekamen Medizinstudenten in allen Lehrkrankenhäusern eine Ausbildungshebamme zur Seite, die sie mit in ihren Bezirk nahm, wo sie die praktischen Kenntnisse der Geburtshilfe erlernten. Sämtliche Allgemeinmediziner wurden von einer Hebamme aus­gebildet. Aber von diesen Tatsachen war offenbar kaum etwas ­bekannt.

Der Fundus wird fest und hebt sich ein wenig im Bauch, als sich eine Wehe der Muskeln bemächtigt. Das war es vielleicht schon, denke ich. Aber nein. Es fühlt sich nicht richtig an. Noch zu weich nach der Wehe.

Weiter warten.

Ich mache mir klar, welche unglaublichen Fortschritte die Geburtshilfe in diesem Jahrhundert gemacht hat, und denke an den Kampf, den engagierte Frauen geführt haben, um eine ordentliche Ausbildung zu bekommen und um andere ausbilden zu können. Ein anerkanntes Ausbildungsverfahren gibt es erst seit weniger als fünfzig Jahren. Meine Mutter und alle ihre Geschwister wurden von Frauen ohne Ausbildung zur Welt gebracht, die man »goodwife« oder »handywoman« nannte. Kein Arzt war dabei, so hieß es.

Wieder kommt eine Wehe. Der Fundus hebt sich unter meiner Hand und bleibt fest. Gleichzeitig bewegt sich die Klemme an der Nabelschnur ein wenig. Ich überprüfe sie. Ja, nun lässt sich die Nabel­schnur etwa zehn bis fünfzehn Zentimeter weiter herausziehen. Die Plazenta hat sich gelöst.

Ich bitte Muriel, das Baby ihrer Mutter zu geben. Sie weiß, was ich nun tun werde. Ich massiere den Fundus, bis er fest, rund und beweglich ist. Dann fasse ich ihn fest mit der Hand und drücke nach unten und hinten, in Richtung des Beckens. Als ich drücke, wird die Plazenta durch die Scheide sichtbar, und ich hebe sie mit der anderen Hand heraus. Die Eihäute rutschen heraus, gefolgt von einem Schwall frischen Bluts vermischt mit ein wenig geronnenem Blut.

Ich fühle mich vor Erleichterung ganz schwach. Es ist geschafft. Ich stelle die Nierenschale auf den Nachttisch – den Inhalt werde ich später untersuchen –, setze mich zu Muriel und massiere ihr weitere zehn Minuten lang den Fundus, damit er fest und rund bleibt, wodurch noch vorhandene Blutgerinnsel abgehen können.

Einige Jahre später ging man dazu über, der Mutter nach der Geburt routinemäßig Oxytocinpräparate zu verabreichen, die eine sofortige, heftige Uteruskontraktion hervorrufen, sodass die Plazenta innerhalb von drei bis fünf Minuten nach der Geburt des Babys ausgestoßen wird. Die medizinische Wissenschaft macht weiter Fortschritte! In den 1950er-Jahren hatten wir keine derartigen Hilfsmittel bei der Entbindung.

Nun bleibt nur noch, aufzuräumen. Während Mrs Hawkin ihre Tochter wäscht und ihr beim Umziehen hilft, untersuche ich die Plazenta. Sie scheint vollständig und die Eihäute sind intakt. Dann untersuche ich das Baby. Es wirkt gesund und normal gebaut. Ich bade den kleinen Jungen, ziehe ihn an – die Kleider sind so sehr zu groß, dass es grotesk komisch wirkt – und betrachte Muriel in ihrer großen Freude und ihrer völlig entspannten Haltung. Sie sieht müde aus, denke ich, aber sie zeigt keinerlei Anzeichen von Stress oder Anspannung. So etwas sieht man nie! Es muss in Frauen eine eingebaute Funktion geben, die sie alles vergessen lässt; irgendein chemischer Stoff oder ein Hormon, das sofort nach der Entbindung auf den Teil des Gehirns einwirkt, der für Erinnerungen zuständig ist, sodass es die eben erlittenen Qualen völlig vergisst. Wenn das nicht so wäre, bekäme keine Frau jemals ein zweites Baby.

Als alles blitzsauber ist, wird dem stolzen Vater der Zutritt gestattet. Heutzutage sind die meisten Väter während der gesamten Zeit bei ihren Frauen und wohnen der Entbindung bei. Doch das ist eine recht junge Modeerscheinung. Soweit ich weiß, gibt es dafür in der gesamten Geschichte kein Vorbild. Zumindest in den Fünfzigerjahren wäre jeder beim bloßen Gedanken daran zutiefst schockiert gewesen. Entbindungen galten als Frauensache. Selbst die Anwesenheit eines Arztes (bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts ein reiner Männerberuf) war ausgeschlossen, erst seit Geburtshilfe als medizinische Wissenschaft anerkannt ist, sind Männer bei ­Geburten anwesend.

Jim ist ein kleiner Mann, wahrscheinlich keine dreißig, aber er wirkt eher wie vierzig. Er schiebt sich ins Zimmer und schaut verlegen und verwirrt drein. Wahrscheinlich macht ihn meine Anwesenheit sprachlos, aber ich bezweifle, dass er die englische Sprache je besonders gut beherrscht hat. Er murmelt: »Alles in Ordnung, Mädel?«, und gibt Muriel ein Küsschen auf die Wange. Neben seiner stämmigen Frau, die gut und gerne 30 Kilo mehr wiegt als er, wirkt er noch zierlicher. Ihre gut durchblutete, rosige, frisch gewaschene Haut lässt ihn noch grauer, angespannter und ausgetrockneter erscheinen. Das sind die Auswirkungen von harten Sechzig-Stunden-Wochen in den Docks, denke ich im Stillen.

Dann schaut er sich das Baby an und murmelt etwas vor sich hin – offenbar denkt er scharf darüber nach, welche Worte jetzt ­angemessen wären –, dann räuspert er sich und sagt: »Gott, er is schon echt in Ordnung.« Und dann geht er wieder.

Ich bedauere sehr, dass ich keine Gelegenheit hatte, die Männer des East Ends näher kennenzulernen. Aber das ist letztlich unmöglich. Ich gehöre zu der Welt der Frauen, ich bin Teil des Tabu­themas Geburt. Die Männer verhalten sich uns Hebammen gegenüber höflich und respektvoll, doch Vertrautheit oder gar Freundschaft ist ­völlig undenkbar. Es gibt eine vollständige Trennung zwischen dem, was als Männerarbeit, und dem, was als Frauenarbeit gilt. Ähnlich wie Jane Austen also, in deren gesamtem Werk nirgends eine Unterhaltung zwischen zwei Männern vorkommt, weil sie als Frau nicht wissen konnte, wie Männer untereinander sprachen, vermag auch ich nur wenig mehr als meine oberflächlichen Beobachtungen über die Männer von Poplar festhalten.

Nun kann ich mich bald aufmachen. Es war ein langer Tag und eine lange Nacht, doch ein tief greifendes Gefühl der Erfüllung und Befriedigung macht meine Schritte und mein Herz leicht. Muriel und ihr Baby sind beide eingeschlafen, als ich mich aus dem Zimmer schleiche. Die netten Menschen im Erdgeschoss bieten mir wieder Tee an, doch ich lehne ihn erneut höflich ab und sage, dass im Nonnatus House mein Frühstück auf mich wartet. Ich lege ihnen noch ans Herz, uns anzurufen, sollte es Grund zur Sorge geben, doch ich sage ihnen auch, dass ich etwa um die Mittagszeit wieder hereinschauen werde und dann noch einmal am Abend.

Als ich das Haus betrat, regnete es und es war dunkel. Fiebrige Aufregung und Vorfreude lagen in der Luft, die Unruhe einer Frau kurz vor der Geburt, kurz bevor sie neues Leben zur Welt bringen wird. Nun verlasse ich ein Haus, in dem alle ruhig schlafen, mit ­einer neuen Seele in ihrer Mitte, und ich trete hinaus ins helle Licht der Morgensonne.

Ich bin auf meinem Rad durch dunkle, verlassene Straßen und stille Docks gefahren, vorbei an verschlossenen Toren und leeren Häfen. Nun radele ich durch den hellen frühen Morgen, die Sonne geht gerade über dem Fluss auf, die Tore stehen offen oder öffnen sich gerade, Männer strömen durch die Straßen, rufen sich etwas zu, das Geräusch von Motoren setzt ein, Kräne beginnen sich zu drehen, Lastwagen biegen ab, durch die riesigen Tore, und man hört die Geräusche eines Schiffs, das sich auf dem Wasser bewegt. Eine Werft ist kein sonderlich schillernder Ort, aber auf eine junge Frau mit vierundzwanzig Stunden Arbeit in den Knochen bei nur drei Stunden Schlaf und still jubelnd angesichts der geglückten Geburt eines gesunden Babys wirkt er berauschend. Ich bin noch nicht einmal müde. Die Drehbrücke ist nun geöffnet, das bedeutet, dass die Straße gesperrt ist. Ein riesiges Hochseeschiff gleitet langsam und majestätisch durchs Wasser, zwischen seinem Bug oder seinen Schorn­steinen und den Häusern auf beiden Seiten liegen nur Zentimeter. Ich warte und beobachte wie im Traum die Lotsen und Steuerleute, die es zu ihrem Anlegeplatz geleiten. Ich wüsste nur zu gerne, wie sie es anstellen. Sie verfügen über ein immenses Können, es dauert Jahre, es sich anzueignen, und es heißt, es werde vom Vater an den Sohn oder vom Onkel an den Neffen weitergegeben. Sie sind die Prinzen der Docklands, und die Gelegenheitsarbeiter begegnen ihnen mit dem größten Respekt.

Es dauert etwa fünfzehn Minuten, bis das Schiff die Brücke passiert hat. Zeit zum Nachdenken. Eigenartig, wie mein Leben sich entwickelt hat, eine vom Krieg zerrüttete Kindheit, eine leiden­schaftliche Liebesaffäre, als ich erst sechzehn war, und drei Jahre später wusste ich, dass ich ausbrechen musste. Also entschied ich mich aus ganz pragmatischen Gründen, Krankenschwester zu werden. Bedauere ich das?

Ein grelles, durchdringendes Geräusch weckt mich aus meinen Tagträumen und die Drehbrücke beginnt, sich zu schließen. Die Straße ist wieder frei, der Verkehr fängt an zu fließen. Ich radele dicht am Bordstein entlang, denn zu den Lastwagen neben mir möchte ich lieber Abstand halten. Ein riesiger Mann mit Muskeln wie aus Stahl zieht seine Kappe und ruft: »Morjen, Schwester!«

Ich rufe zurück: »Morgen! Herrlicher Tag!«, und radele weiter, beflügelt von meiner Jugend, der Morgenluft, der berauschenden Atmosphäre der Docks, doch vor allem durch das unvergleichliche Gefühl, einer von Freude erfüllten Mutter ein wunderschönes Baby zur Welt gebracht zu haben.

Warum habe ich diesen Beruf nur ergriffen? Bereue ich es? Nie, nie, nie. Ich möchte ihn um nichts in der Welt mit einem anderen tauschen.

Call the Midwife - Ruf des Lebens

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