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Das Fahrrad

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Welch stahlharter Kern sich in einer Fortescue-Cholmeley-Browne verbirgt, wurde uns während der beiden folgenden Wochen klar, als Chummy die Kunst des Fahrradfahrens erlernte. Nach dem Unfall hatte Schwester Julienne ernste Zweifel daran, dass es möglich sei, doch Chummy ließ sich nicht beirren. Sie konnte es lernen und würde­ es auch lernen.

Jede freie Minute verbrachte sie mit üben. Derweil musste sie ihre ganze Arbeit im Bezirk zu Fuß erledigen und dazu brauchte sie viel länger als mit dem Fahrrad. Aus diesem Grund hatte sie erheblich weniger Freizeit als alle anderen. Doch sie nutzte jeden noch so kurzen Moment der Freiheit. Sie schob das alte Raleigh-Rad ans andere Ende der Leyland Street, die leicht anstieg, und ließ sich dann nach unten rollen, Hunderte Male hinauf und hinab, bis sie ein Gespür für das Gleichgewicht hatte. Sie stand morgens ein paar Stunden früher auf, ging jeden Abend von etwa acht bis zehn Uhr nach draußen und kam erschöpft und außer Atem zurück. »Schließlich ist es ja recht sinnlos, nur zu lernen, wie man im Hellen Rad fährt«, erklärte sie fröhlich. Dieser Logik war kaum zu widersprechen.

Die Fahrten im Dunkeln wurden meist von einer Menge jubeln­der oder spottender Kinder begleitet. Sie wären zu einer echten ­Gefahr geworden, hätte Chummy nicht die Achtung eines älteren Jungen erworben, der bereits am ersten Tag, als Cynthia, Trixie und ich ihr das Radfahren beizubringen versucht hatten, zu uns ­gestoßen war. Jack war ein besonders zähes Exemplar, etwa dreizehn und ­gewohnt, um sein Recht zu kämpfen. Schon bald hatte er die kleinen Kinder verjagt: Hier ein paar Knuffe, da ein Tritt, und weg waren sie. Dann posierte er vor ihrem Fahrrad als ihr Verteidiger und Held.

»Wenn Ihn’n die Bande da wieder Ärger macht, Miss, dann rufen Sie mich einfach. Jack. Ich kümmer mich schon um die.«

»Oh, das ist aber ganz schrecklich nett von dir, Jack. Ich bin in der Tat höchst dankbar. Dieses alte Gefährt ist bockig wie ein kleines Fohlen, was?«

Chummys gestelzte Redeweise musste für Jack ebenso unverständlich gewesen sein wie sein Cockneyakzent für sie, gleichwohl schlossen sie sofort Freundschaft.

Nun machte Chummy rasch Fortschritte. Jack war früh und spät mit ihr draußen und lief, schob und half ihr auf jede erdenkliche Art. Er entwickelte eine besonders einfallsreiche Methode, ihr beizubringen, wie man mit dem Fahrrad lenkt und abbiegt: Er trat in die Pedale und sie steuerte! Chummy hielt den Lenker, saß auf dem Sattel und ließ die Beine baumeln, während er auf den Pedalen stand und den anstrengenden Teil übernahm. Es muss harte Arbeit gewesen sein, ihre 75 Kilogramm Gewicht vorwärtszubewegen, doch Jack war kein schwächliches Kind und stolz auf seine Männlichkeit. Früh wie spät hörte man ihn rufen: »Links abbiegen, Miss. NEE, LINKS, du Dussel. Nur die Ruhe. Nicht zu scharf einschlagen. Peil’n Sie die Telefonzelle an un behalten Sie sie im Auge.«

Aufgeben kam für beide nicht infrage und nach drei Wochen radelten sie an dunklen Novembermorgenden von Bow bis zur Isle of Dogs.

Jack besaß kein eigenes Fahrrad, aber schließlich musste er ­zugeben, dass es an der Zeit war, es Chummy allein probieren zu lassen. Er schob sie an, sie strampelte sicher die Straße hinunter und um die nächste Ecke. Traurig winkte er ihr nach, als sie aus seinem Blickfeld verschwand. Er hatte sich nützlich gemacht, nun war der ganze Spaß vorbei. Er kickte einen Stein vor sich her und schlurfte mit den Händen in den Taschen nach Hause – mit einem Fuß im Rinnstein und dem anderen auf dem Bürgersteig.

Doch es war nicht Chummys Art, eine Freundschaft einfach sterben zu lassen oder Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft nicht zu honorieren. Sie sprach beim Mittagessen mit uns darüber und wir waren uns einig, dass ein Geschenk angebracht war. Die Vorschläge waren zahlreich – ein Glas Süßigkeiten, ein Fußball, ein ­Taschenmesser –, doch Chummy war mit keiner dieser Ideen zufrieden. Schwester Julienne erläuterte in ihrer pragmatischen und erfahrenen Art, dass sich Jack mit viel Zeit und Einsatz engagiert hatte und dass Chummy deshalb bei ihm in großer Schuld stand.

»Ich denke, dass der Junge nicht mit einer simplen Gabe ab­gespeist werden sollte. Er sollte vielmehr etwas bekommen, was er sich wirklich wünscht und in Ehren hält. Andererseits entscheiden Sie als Geberin allein, was Sie sich leisten können.«

Chummys Gesicht erhellte sich zu einem breiten Lächeln. »Ja doch, ich weiß, was sich Jack mehr als alles andere wünscht – ein Fahrrad! Und ich bin mir sicher, dass Vater ihm eins kaufen wird, wenn ich ihm die Umstände schildere. Er ist ein feiner alter Kerl und lässt für den guten Zweck gern etwas springen. Ich werde ihm noch heute Abend schreiben.«

Selbstverständlich ließ Vater etwas springen, denn er war froh, dass seine einzige Tochter endlich ihre Erfüllung gefunden hatte. Dass sie so entschlossen Missionarin werden wollte, konnte er ebenso wenig verstehen wie ihre Leidenschaft für die Geburtshilfe, doch er unterstützte sie bei all dem tatkräftig.

Das neue Fahrrad bedeutete für Jack ein neues Leben. Damals besaßen nur wenige Jungen eins, doch für ihn war es mehr als nur ein Statussymbol. Er war unternehmungslustig und ließ auf seinem Fahrrad die Grenzen des East Ends weit hinter sich. Er wurde Mitglied im Fahrradverein von Dagenham und nahm an Wettbewerben im Zeitfahren und bei Straßenrennen teil. Er ging alleine in Essex auf dem Land campen. Er fuhr bis zur Küste und sah zum ersten Mal in seinem Leben das Meer.

Chummy war außer sich vor Freude, besonders weil ihre Freundschaft andauerte. Er glaubte sie offenbar beschützen zu müssen, und so erschien Jack jeden Tag nach der Schule im Nonnatus House, um sie zu ihren Abendbesuchen zu eskortieren. Sein Gespür sagte ihm, dass die Kinder der Docks sie verspotten und ärgern würden, und er hatte recht, denn alles in allem hatten die Cockneys wenig übrig für Chummy und sie lachten hinter ihrem Rücken über sie. Wenn sie mit ihrer schieren Größe auf ihrem altertümlichen Fahrrad mit den massiven Reifen die Straßen entlangradelte, blieben ganze Horden von Kindern stehen, säumten den Bordstein und riefen unter lautem Gelächter »Halloo« oder »Gar nicht so übel« oder »Weiter so, altes Haus«. Außerdem setzten sie noch einen drauf, indem sie sie »Nilpferd« nannten. Die arme Chummy begegnete all dem mit guter Laune, aber wir wussten, wie sehr es sie verletzte. Wenn jedoch der zähe, gewiefte Jack an ihrer Seite war, gingen die Kinder auf Abstand. Wir alle sahen ihn verschiedentlich an Straßenecken oder in den Innenhöfen der Wohnblocks. Mit zwei Fahrrädern, das Kinn vorgereckt und seine kurzen Beine leicht gespreizt, sah er sich mit kühlem Blick um und wusste, dass es nicht mehr brauchte, um »Miss« zu beschützen.


Fünfundzwanzig Jahre später verlobte sich ein schüchternes junges Mädchen namens Lady Diana Spencer mit dem Thronfolger Prinz Charles. Ich habe etliche Filmaufnahmen gesehen, die sie bei der Ankunft bei irgendwelchen Anlässen zeigten. Jedes Mal, wenn das Auto anhielt, öffnete sich die Beifahrertür, ihr Leibwächter stieg aus und öffnete die Tür für Lady Diana. Dann stand er da, das Kinn vorgereckt, die Beine leicht gespreizt, und schaute mit kühlem Blick in die Menschenmenge: ein erwachsener Jack, der tat, was er schon als Kind gut konnte, und seine Dame beschützte.

Call the Midwife - Ruf des Lebens

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