Читать книгу Im ersten Gang geht’s immer rauf - Jens F. Meyer - Страница 10
Neben der Spur … ist Johanna allgegenwärtig.
ОглавлениеJeanne d'Arc, Johanna, Nationalheldin der Extraklasse. An vielen Orten in Frankreich sind ihre Spuren zu finden, und keine Reise durch dieses Land, schon mal gar nicht durch die obere Hälfte, ohne dass die Leitfigur der französischen Geschichte, tragischerweise in gleichem Maße eine Leidfigur, nicht auftauchen würde. Domrémy-la-Pucelle, ein französisches Kleinkleckersdorf im Département Vosges mit lothringischem Sparflammencharme, ist der Geburtsort einer unbefleckten Göttin, die ihr Volk während des Hundertjährigen Krieges im 15. Jahrhundert gegen die Engländer und Burgunder führte und dennoch auf dem Scheiterhaufen endete. Eine Tragödie. Man muss sich das vor Augen führen: Da war das mächtige England, das nach dem Tode Karls IV. Ansprüche auf den französischen Thron ersann. Jeanne machte aus einfachen Räubern Soldaten. Zudem gab es in dieser Zeit Gerüchte, dass der Zauberer Merlin vorausgesagt habe, eine Jungfrau würde Frankreich retten. Ein Grund mehr für die anscheinend sehr willensstarke Jeanne, sich gegen ihren Vater durchzusetzen, nicht zu heiraten und für ihre Mission keusch zu bleiben. Ein Proviantzug nach Orléans war ihr erster Auftrag, begleitet von furchtlosen wie furchterregenden Kerlen wie Étienne de Vignolles, dem „Wilden“. Und obwohl es ihrem Heer gelang, die Engländer aus dem Loire-Gebiet zurückzudrängen, nahm die Geschichte doch kein gutes Ende. So weit die kurze Kurzfassung.
Ehrlich gesagt gibt es wenige andere gute Gründe, nach Domrémy-la-Pucelle zu fahren. Das Dorf an der Meuse (Maas) mit kaum mehr als einhundert Einwohnern versprüht nicht besonders viel Flair. Die Heldin kam hier trotzdem zur Welt. Hinter der kleinen Dorfkirche St. Rémy, in der Jeanne d'Arc getauft worden war, erinnert ihr Geburtshaus an ein kurzes Leben mit Ausrufungszeichen, das 1412 hier begonnen hatte. Historiker gehen davon aus, dass die Befreierin im Januar geboren wurde. Nur 19 Jahre ist sie alt geworden. Sie war 13, als sie ihre erste Vision hatte. Eine zweite folgte. Die Heiligen Katharina und Margareta waren ihr erschienen, außerdem Erzengel Michael, behauptete sie; die Engelsstimmen habe sie dort empfangen, wo heute die Basilika Bois-Chênu steht, die zwischen 1891 und 1926 entstand und im Laufe der Jahre ein bedeutender Wallfahrtsort geworden ist – auf einer Anhöhe zwei Kilometer vor den Toren des Dorfes. Sie alle sollen sie davon überzeugt haben, das französische Volk von der Unterjochung der Engländer zu befreien. Was ihr, der Jungfrau von Orléans, im Ansatz gelang, aber nicht half. Durch Verrat wurde sie in Compiègne – wir waren dort vor einigen Tagen ganz in der Nähe – von Johann von Luxemburg festgenommen und den Burgundern ausgeliefert. Die wiederum verkauften sie für 10.000 Franken an die Engländer, eine Summe, die zwar hoch war, aber ist Heldentum nicht eigentlich unbezahlbar? – Es war der Anfang vom Ende der Heiligen Johanna. Sie verbrannte auf dem Scheiterhaufen in Rouen, weil der König sich von ihr abwandte und der Bischof von Beauvais den Engländern näherstand als den Franzosen. Erst rund 24 Jahre später fiel eben diesem Karl ein, wem er eigentlich seinen Thron zu verdanken hatte, und er ließ mit großem Brimborium den Prozess noch einmal aufrollen. Nun wurde Jeanne freigesprochen – kam nur leider etwas zu spät. Arschgeige!
Es ist viele Jahre her, über den Kauf eines Renault 4 wagten wir noch gar nicht nachzudenken, da wir zum ersten Mal in Domrémy-la-Pucelle verweilten, hundemüde von einer stundenlangen Fahrt mit Staus auf Autobahnen bei grausamer Hitze und glücklich, mit dem Hotel Jeanne d’Arc an der Rue Principale überhaupt noch eine Unterkunft gefunden zu haben, bevor die Dämmerung über das Land hereinbrach. Es war schon spät geworden; in der Bar auf der anderen Seite der Straße stapelte der Maître bereits die Stühle ineinander, und die allermeisten Tagestouristen hatten sich längst auf den Weg nach Hause gemacht. Es sah aus, als wenn in wenigen Augenblicken die Bürgersteige hochgeklappt würden und die Straßenlaternen erlöschten. Das war uns gerade recht. Wir ließen uns ermattet auf die weiche, durchgelegene Matratze fallen, das Bettgestell quietschte, und wir blickten wie paralysiert ringsumher. Uns wurde schwindelig von der wild orange-grün-weiß geblümten Tapete, die als Negativdruck an der Zimmerdecke ihre Fortsetzung fand. Die Türen zum Bad und WC waren mit dem gleichen Kleide versehen worden. Eine Kammer des Schreckens, möglicherweise im Rausche des Pastis, oder was Malergesellen hier sonst so in ihrer Mittagspause einsaugen, bekleistert. Billig war’s ja, das Hotel, und sauber auch, aber das Kaleidoskopische des Raumes, diese erdrückende Enge, geboren aus maximalem Muster-Farbe-Spektrum, vernebelte unsere Sinne. Dass die Heilige Johanna in Domrémy-la-Pucelle von Visionen ergriffen worden war, konnten wir auf der Stelle nachvollziehen; wo wir auch hinblickten in diesem Zimmer, es war ein ausgesprochen intensiver Trip kokainischen Ausmaßes. Unsere Pupillen müssen denen der Römer geähnelt haben, wenn sie von Obelix eins auf die Mütze bekommen haben. Die Bar hatte mittlerweile dichtgemacht, ein Restaurant im Hotel gab es nicht, und alles, was wir noch zu essen hatten, waren ein paar puffig gewordene Kekse und Kartoffelchips. Das wild abstruse Wand- und Deckendessin hatte seine Wirkung nicht verfehlt, und unruhige Träume folgten in der Nacht. Aber seien wir ehrlich: Bei der Heiligen Johanna war die Sache weitaus ernster; es werden wohl kaum Tapeten gewesen sein, die ihre Erscheinungen hervorgerufen hatten, denn Tapeten gab es damals nicht. Hatte auch Vorteile …
Jedenfalls haben wir unser Auto, diesmal freilich den R4, heute erneut auf dem Parkplatz unterhalb der heroisch wirkenden Johanna-Statue geparkt; das Hotel befindet sich noch an derselben Stelle (wo sollte es auch hin …?), aber wir trauen uns nicht, ein zweites Mal hier Quartier zu beziehen. Die Bar hat sich verändert, die ist moderner geworden. Bürgersteige werden schon lange nicht mehr hochgeklappt, denn aus dem Geburtshaus der Lichtgestalt ist ein historisches Monument geworden, das für Besichtigungen geöffnet ist. Ein modernes Informationszentrum in unmittelbarer Nähe zeigt, wie zu Zeiten Jeanne d’Arcs sich das Bauernleben darstellte – sie wuchs in einer recht wohlhabenden Bauernfamilie auf – und welche Heldentaten die junge Frau zuwege brachte, damit Kalle Kronprinz seinen adligen Hintern wieder auf den Thron hieven konnte. So heilig kann keine Figur der Geschichte sein, als dass die Tourismusbranche auf diese Chance verzichten würde, weil sie nämlich auch Visionen hat, ziemlich weltliche, aber das ist nachvollziehbar. Und dennoch macht die ganze Anlage nicht den Eindruck, dem schnöden Mammon vollkommen ausgeliefert zu sein; die Verhältnismäßigkeit ist noch vorhanden, und die kleine Église Saint-Rémy mit dem Taufbecken von einst, dem Spiel von Licht und Schatten und den bunten Kirchenfenstern ist und bleibt in ihrer Schlichtheit ergreifender als der Glanz der Basilika vor dem eigentlichen Ort Domrémy.
Besuch bei Jeanne d‘Arc in Domrémy
Das Licht in der Kirche, die berührende, leise Atmosphäre in diesem sehr kleinen Gotteshaus ist magisch. Wir zünden eine Kerze an und verlassen schweigend Domrémy-la-Pucelle, wohlwissend, dass die Heilige Johanna uns auf dieser Reise noch öfter begegnen wird. In Orléans, wo das Maison de Jeanne d’Arc daran erinnert, dass sie einst die belagerte Stadt mit einem geglückten Proviantzug befreite. In Sully-sur-Loire, wo sie Lager bezogen haben soll. In Chinon, wo sie Charles VII. davon überzeugen konnte, ihr ein Heer anzuvertrauen, um gegen die Engländer zu Felde zu ziehen, und wo das Fensterbild im dreistöckigen Uhrturm der Burgruine ihr, der Retterin, gewidmet ist. Poitiers, Paris, Reims – die Wege, die die junge Heldin zurücklegen musste, sind Hunderte Kilometer weit. Sie hat sich ja nicht ins Auto gesetzt, wie wir das hier in aller Bescheidenheit mit 34 Pferdestärken tun, am Müsliriegel geknuspert und irgendwo bei Tours noch mal einen Kaffee getrunken, um dann entspannt unterhalb der Forteresse Royale de Chinon einzuparken, nein, sie ist geritten auf einem einzigen PS ohne Sattel, und der Zosse mit der Heldin auf dem Rücken musste, ob er wollte oder nicht, durch feindselig besetztes Gebiet galoppieren. Von dieser Reise, von den Strapazen, den Fluchten und Hoffnungen, erzählt das Fensterbild im Uhrturm der Forteresse de Chinon. Sie tat, was sie ihrer Meinung nach tun musste, um Frankreich zu befreien; selbst ein Pfeil und ein Sturz vom Pferd konnte sie nicht davon abhalten.
Es reicht nicht, all diese Ziele mit dem Finger auf der Landkarte anzusteuern; wir werden uns umtun, sie mit der Quatrelle zu erobern. Nicht ohne Friedrich Schillers „Die Jungfrau von Orléans“ im Reisegepäck, versteht sich. Ist quasi Pflichtlektüre.
„Ich kann nicht bleiben – Geister jagen mich,
Wie Donner schallen mir der Orgel Töne,
Des Doms Gewölbe stürzen auf mich ein,
Des freien Himmels Weite muß ich suchen!“
Ja, Schiller, werter Meister des geschliffenen Wortes, wir sind ja längst schon unterwegs …