Читать книгу Im ersten Gang geht’s immer rauf - Jens F. Meyer - Страница 12
Wir gehen ins Kloster. Wir steigen hoch. Ein Vogel spielt sich auf.
ОглавлениеEs muss ein karges Leben gewesen sein, das die Zisterzienser im 12. Jahrhundert in der Abbaye de Fontenay führten, aber sie führten es im Einklang mit Gott und der Natur in Zufriedenheit und Gelassenheit. Wahrscheinlich waren sie ausgeglichener als wir modernen Menschen von heute, denn sie hatten gefunden, während wir unentwegt auf der Suche sind. Mit dem Unterschied, dass sie wussten, dennoch Suchende zu sein und wir, obwohl wir Suchende sind, fest daran glauben, gefunden zu haben. – Bevor es nun aber allzu philosophisch wird, ein paar Eckdaten: Im Jahr 1118 war die Abtei vom Heiligen Bernhard in einem sumpfigen Bachtal nahe Montbard gegründet worden. Sie ist einerseits eines der ältesten Zisterzienser-Klöster in ganz Europa und gilt andererseits vor allem als ein „zisterziensisches Prunkstück“. Die romanische Architektur der Gebäude offenbart eine erstaunliche Harmonie; die Kirche ist sehr gut erhalten, ebenso der Kreuzgang, Kapitelhaus und Skriptorium.
Himmlisches Lichtspiel in der Abbaye de Fontenay
Vor einigen Tagen, am Tisch im Saal der „Ferme de la Fosse Dionne“, hatte Bernard Clément nicht zu viel versprochen, als er den Besuch der Abbaye de Fontenay als herausragende Pracht burgundischer Geschichte mit jener Attitüde darbrachte, mit der man sonst eine Flasche Chablis öffnet. Das Gebäudeensemble ist schon in den Achtzigerjahren ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen worden, und die Gärten erhielten 2004 die Auszeichnung „Jardin Remarquable“. Regisseur Jean-Paul Rappeneau drehte hier aus gutem Grund Szenen für seinen Film „Cyrano de Bergerac“ – wo sonst könnten die Kulissen passender sein? Und in den Sommermonaten finden Theatervorstellungen und Konzerte statt. Das Kloster Fontenay, übrigens in Privatbesitz und nicht unter staatlicher Aufsicht, ist ein Hort der Kultur. Über die D905 führt der Weg an manchem anderen historischen Haus vorbei, an Land und Leuten und Kanal. Und als wir die Abtei verlassen, werfen wir einen letzten Blick auf die in der Sonne wie frisches Leben strahlenden Mauern und starten durch. Der Raps, die Wiesen und Wälder, die Flüsse und Kanäle, all das Schöne, das sich in verwitterten Fassaden und verwinkelten Örtchen darbietet, bereitet uns unbändige Freude. Die Kühlmittelkontrollleuchte flackert mal wieder kurz auf und ist wahrscheinlich eine Zustimmung des Renaults, dass es endlich weitergeht nach stundenlanger Standzeit. Er will fahren! Wir tun ihm diesen Gefallen. Wir kreuzen den Armançon mehr als nur einmal über unwiderstehlich entzückende Brücken, auf denen sich zwei Autos lieber nicht gleichzeitig begegnen sollten, und wenn eine D-Straße wie die D4 auch noch ein kleines „j“ als Zusatzbezeichnung erhält, wird das Cruisen darauf zur Bewährungsprobe für Mensch und Maschine. Eigentlich müssten am Straßenrand schon händereibend diverse Automechaniker stehen – leichter kann man keine Kunden abgreifen. Wenn gleich ein Wendehammer kommt, sollten wir uns nicht wundern.
Kommt aber nicht. Tatsächlich bessert sich der Untergrund und ist wieder als asphaltierter Weg zu erkennen, die Stoßdämpfer atmen erleichtert auf. Stattdessen fahren wir durch eines der unzähligen Dörfer, bei denen man als Durchreisender schnell die Meinung gewinnen könnte, dass die Landflucht hier kein Thema ist, obwohl das sicher nicht stimmt. In Frankreich legt man aber noch großen Wert auf das Produkt, und dazu gehören die Fachbetriebe, die es in diesen Dörfern augenscheinlich weiterhin gibt. Ein Bäcker, ein Metzger, dazu die fast schon obligatorische Bar-Tabac. Vielleicht reicht das zum glücklichen Leben, das Wichtigste wäre damit jedenfalls abgedeckt. Nun also Châtel-Censoir. Groß ist das Dorf mit seinen kaum mehr als sechshundert Einwohnern nicht, und es scheint auf den ersten Blick wenig zu bieten, für das es sich länger zu halten lohnt. Aber beinahe hätten wir das kleine Schild neben einem hell geschotterten Parkplatz übersehen: ein Pfeil, eine Treppe, eine stilisierte Kirchenabbildung. Klarer Fall für die beiden Tourismusbeauftragten im Renault 4: Wir parken ein und marschieren los. Eine steile Treppe führt über 105 Stufen bis auf den Hügel. Die Kirche ist bemerkenswert. Sie steht wie ein mächtiger Wächter über das Dorf hier oben, ihre Pforten sind geöffnet, kein Mensch ist weit und breit zu sehen. Weil es mittlerweile recht heiß geworden ist (105 Stufen!), freuen wir uns über die Kühle im Kirchenschiff. Es ist jedes Mal wieder erstaunlich, dass selbst bei einsam liegenden Gotteshäusern ja irgendjemand in aller Frühe, noch begleitet vom restlichen Morgendunst und dem Gesang der Vögel, mit klingendem Schlüsselbund seines Weges zu dieser Glaubensfeste geht, ihre Pforte öffnet und am Abend den selben Weg noch einmal antritt, um alle Türen wieder zuzusperren. Dieser hoffnungsvolle Geist muss somit davon ausgehen, dass es in seinem überschaubaren Dorf, knapp vierzig Kilometer von Auxerre entfernt und abseits bekannter Touristenrouten, dennoch Menschen gibt, die sich den steilen Hügel hinaufbegeben, um dann in der Kirche einige friedliche Minuten zu verbringen. Zu gerne würden wir wissen, wer zum Einbruch der Dämmerung mit großen Schlüsseln in der Hand heraneilen wird, aber die Ruhe zu warten haben wir dann doch nicht. Zudem geht es nun die steile Treppe wieder hinunter, von wo aus der Blick über die weite Flusslandschaft der Yonne und den Canal du Nivernais reicht. Sogar einen kleinen Hafen hat Châtel-Censoir! Das sollte genug sportliche Betätigung an diesem Tag sein. Jetzt wäre ein Croissant genau das richtige. Gibt’s hier irgendwo irgendwas zu essen? An der Bäckerei sind wir vorhin vorbeigefahren, jetzt sind wir aber am anderen Ende des Dorfes und zu faul, den Weg noch einmal retour zu fahren. Also hinauf auf die D, hinaus in die Landschaft, der Tag ist ja relativ frisch, zwar schon nach Mittag, aber noch vor Kaffeezeit. Château de Faulin zur Linken, Lucy-sur-Yonne durchkreuzt. Während die Zahlenkombinationen von 21 über 951 und 144 bis hin zu 1 wechseln, bleibt der Buchstabe davor unverändert derselbe: D wie Dahintreiben. D wie Daseinsfreude. Und plötzlich: D – wie Donzy!
Marc Mercier, Chef im „Le Grand Monarque“
„Sind Sie das, Monsieur?“ – Es ist zugegebenermaßen eine bescheuerte Frage, denn natürlich ist er es, aber man lässt ja nichts unversucht, um die eigene Neugierde zu stillen. Das Foto an der Wand zeigt ganz deutlich Marc Mercier, den Maître d’hôtel und Besitzer des „Le Grand Monarque“, mit einem sehr bekannten Franzosen: Seite an Seite mit Michel Platini zu stehen, ist nicht alltäglich, „aber auch viele Jahre her“, sagt der freundliche Monsieur mit dem breiten Lächeln. Er habe eine Zeit lang für den Europäischen Fußballverband (UEFA) als Koch gearbeitet, bis er sich seinen Traum von Unabhängigkeit erfüllen konnte. Jetzt ist er sein eigener Chef im Hotel zu Füßen der Église Notre-Dame-du-Pré in der schnuckeligen Ortschaft Donzy, die am Nachmittag am Wegesrand liegt auf der Reise durch die Bourgogne-Franche-Comté, wie es Ortschaften wie diese gemeinhin zu tun pflegen: nicht aufdringlich, aber mit überwältigendem Charme zwischen Verfall und edler Patina. Etwa 1600 Einwohner zählt die Gemeinde am Fluss Nohain. Michel Platini gehört nicht dazu.
Ton in Ton: Savane und Notre-Dame-du-Pré in Donzy
Marc Mercier steht neben einem riesigen, alten gusseisernen Herd, über dem schwere Pfannen und Töpfe aus Kupfer herabhängen. „An diesem Herd habe ich mein Handwerk gelernt.“ Heute gehört er zu denen, die es verstehen, gehobene Küche kunst- und lustvoll auch auf Teller derer zu zaubern, die sich für das Essen nicht gleich hoch verschulden wollen. Im „Logis de France“-Hotelführer, quasi einer Bibel für Frankreich-Reisende, die keinen Wohnwagen hinter sich herschleppen – für einen R4 ohnehin kaum möglich (aber machbar!) – und von Wurfzelten, Isomatten und Ameisen in der Unterhose wenig halten, wird Merciers Herberge mit drei Kaminen („cheminée“) und zwei Töpfen („cocotte“) bewertet, was schon ziemlich gut ist. Angesichts dessen, was an diesem Abend auf die Teller kommen wird und – so viel sei im Voraus verraten – morgen nach dem Aufstehen als Frühstück auf und an eben jener gusseisernen Traditionskochstelle bereitsteht, die nur noch als Zierde dient, dürfte der dritte „cocotte“ in greifbarer Nähe sein.
„Le Grand Monarque“ ist eines dieser vielen Logis-Hotels, denen man von außen nicht ansieht, was drinsteckt. Noch die Vergangenheit der alten Postkutschenstation spürbar in der Fassade verankert, offenbart das Haus innen eine Mischung aus Modernität und gelassenem Charme der Vergangenheit. Wer nach opulentem Mahl und ein paar Gläsern Wein, von denen eines zu viel war, zum Zimmer in die obere Etage gelangen will, ist froh, sich am Seil im Treppenturm hinaufzuhangeln, das anstatt eines Handlaufs gespannt ist und für eine geradezu ritterliche Atmosphäre sorgt. Merciers Ehefrau Anne-Marie ist stolz auf das alles hier. „Und dass dort draußen auf unserem Hof eine Quatrelle parkt, hat es auch lange nicht mehr gegeben. Sehr lange“, sagt sie, zieht die Augenbrauen zustimmend nach oben und versucht, sich den letzten Gast mit einem Renault 4 hervorzurufen. Vergeblich. Muss sehr lange her sein. Umso schöner, dass da jetzt einer steht, der sich farblich den Fassaden angleicht. Das Fahrzeug passe perfekt ins Bild der geschichtsträchtigen Gasthausmauern und der Kirche im Hintergrund. Ein altes Haus, ein altes Gotteshaus, ein altes Auto.
Aber ein junger Wein. Auf der Terrasse, wo die Mieze des Hotels mausmäßig gerade Trübsal bläst, serviert Anne-Marie einen Cotteaux du Giennois der Domaine de Villargeau aus der Umgegend. Der Keller des Hotels offenbart noch eine Menge mehr wohlschmeckender Rebsäfte aus anderen Regionen, aber mit denen aus dem Umkreis sollte man bekanntlich beginnen. Und dieser hier ist wirklich gut. So schmeckt also Donzy! Ein paar Meter vom Hotel entfernt befindet sich ein Teich, der vom Flüsschen Nohain gespeist wird. Inmitten des Gewässers ist eine kleine Insel; von dort betrachtet ein Schwan das Nahrungsangebot, das höchstwahrscheinlich des Öfteren in Form von raschelnden Tüten mit Inhalt daherkommt. So schmeckt ihm, dem Schwan, Donzy. Und schon rauscht er auch heran und präsentiert sein flauschiges Federkleid im Stile einer Haute-Couture-Modenschau, der Angeber. Für die Könige Frankreichs waren diese stolzen Vögel übrigens Delikatessen; die direkten Vorfahren dieses Exemplars hatten viel Glück gehabt, weil Schwan heute nicht mehr in Töpfe und auf Teller kommt. Auch nicht im „Le Grand Monarque“.
Der heimliche König von Donzy ...
Ein Mühlrad dreht sich, es poltert, es plätschert und rauscht, und wer genau zuhört, wird das ewige Lied aus Verfall und Hoffnung erkennen, das in so vielen Ortschaften gespielt wird, hier vom Wasser, dort vom Wind. Donzy ist nicht arm, nicht reich, ist im Grunde so etwas wie das Paradebeispiel einer D-Straßen-Ortschaft. Bildhübsche Häuser auf der einen Seite, verlassene Betriebe und Gebäude, deren Mauerrisse mit jedem Tag größer werden, auf der anderen. Die jungen Menschen driften Richtung Paris, Auxerre, Orléans, die alten bleiben hier. Das ist das Schicksal, das sich Donzy hundertfach mit anderen Ortschaften in Frankreich teilt. Aber die D1, die haben nur wenige, die Mutter aller D-Straßen, sie führt direkt durch diese Gemeinde. Nicht dass man stolz darauf sein müsste hier in Donzy, da gibt es andere Vorzüge, aber Frankreichs Straßennetz ist mit über einer Million Kilometern, von denen rund ein Drittel auf Département-Straßen entfällt, schon ziemlich groß, und die D1 klingt doch sehr verheißungsvoll nach Anfang und Aufbruch.
Am nächsten Morgen: Der Tank ist voll, die Taschen gepackt, die Mieze schleicht ums Auto, noch immer ohne Maus. Was haben wir eingetragen ins Fahrtenbuch? Mal schauen, da steht: „Bad und WC super, mit Riesendusche samt Massagestrahl, rosafarbene Bodenfliesen; Chambre sehr komfortabel, sehr gutes Bett, breit, mit fester Matratze; Frühstück sogar mit frisch geschnittener Ananas und himmlischer Feigenmarmelade aus eigener Produktion, stimmungsvoll drapiert am gusseisernen Herd im Vorraum des Restaurants.“ Wir sagen den Merciers Dank, fahren vom Hof am nach wie vor selbstverliebten Schwan vorbei auf die D1 und brechen auf zu neuen Ufern, was sprichwörtlich zu nehmen ist, denn die Loire ist nicht mehr weit entfernt.