Читать книгу Im ersten Gang geht’s immer rauf - Jens F. Meyer - Страница 8

Neben der Spur … ein Schloss des kleinen Haushalts.

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Wir tanken 16,5 Liter, randvoll und hoch die Tassen, alors allerseits, wir fahr’n in Saus und Braus! Das wäre keine Sensationsmeldung, wenn nicht der Durchschnittsverbrauch unseres Roadrunners bei 5,7 Litern pro einhundert Kilometer läge. Er gibt sich erstaunlich bescheiden, aber er hat ja auch die schmalen 135er-Schlappen drauf und nicht die fetten 145er ... Manchmal bewegt sich die Nadel der Tankinhaltsanzeige über Dutzende Kilometer keinen Millimeter, sie zittert höchstens ein bisschen auf der Stelle, fällt aber nicht nach links ab. Ist doch verrückt, oder? Noch mal in Lettern schwarz auf weiß: fünfkommasieben. Ein Allerweltsbenziner von heute, ausgestattet mit modernster Start-Stopp-Technik, Bremsenergierückgewinnung, Brimborium und Tinnef, schafft das meistens nicht, ohne dass man ihn über eine Teilstrecke schöbe. Und für hypermoderne Hybriden und E-Autos müssen Batterien gebaut werden, die aufgrund der katastrophalen Folgen durch den Lithiumabbau schlimmer sind als jeder blaugraue Nebel, der unter dem Stoßfänger hinten links aus dünnem Röhrchen als Abenteuerparfum entschwebt und „Amour“ in die Luft kritzelt. Die Reise führt uns weiter durch die Nordbourgogne. Die D-Straßen werden nicht müde, uns ihr Geleit zu geben. Die D996 schickt uns in der Region Côte d’Or nach Montigny-sur-Aube. Dessen Renaissancejuwel wird zurückhaltend dargeboten, wir entdecken es zunächst nur durch einen abgeschlossenen, schmiedeeisernen, hohen Zaun. Schwedische Gardinen für Durchreisende. Gut, dass gerade der Briefträger geschäftig seine Runde vorbereitet; die Poststation befindet sich direkt gegenüber. Wir stehen ratlos wie Salat in der Gegend herum, und unsere Körper sehen aus wie zwei übergroße Fragezeichen.

„Kann ich Ihnen helfen?“ Der Beamte schaut herüber, Briefe unter den Arm geklemmt.

„Wohl nicht. Wir hätten uns gerne dieses Château angesehen, aber es scheint geschlossen zu haben.“ Wir deuten mit den Zeigefingern auf den Monumentalbau.

„Doch, doch, das können Sie. Der Eingang ist auf der anderen Seite, an der Rue de l’Église. Sie müssen klingeln, dann wird Ihnen geöffnet“, sagt er, steckt die Umschläge in eine große Kiste auf dem Beifahrersitz des julisonnengelben Renault Kangoo, jenem Modell, das in den Neunzigerjahren vom Hersteller als offizieller Nachfolger das Erbe des Vierers antreten sollte, und wünscht einen Guten Tag. Wären jetzt die Achtzigerjahre, hätte sich Monsieur Facteur („Briefträger“) in eine R4-Fourgonnette gesetzt, nicht die Langversion, sondern die mit dem Seitenfensterchen auf der Gepäckraumfahrerseite, die wir als Zweit-Quatrelle gerne hätten. Gibt’s aber selten und meistens zu teuer. Allerdings: Wären jetzt die Achtziger, brauchten wir nicht zu klingeln, weil damals keine Besichtigungen möglich waren. Der Postmann britzt weg, während wir ein paar Hundert Meter auf der Rue Henri Chambon entlangtrudeln und dann rechts abbiegen. Ziel erreicht.

Eine Stunde später sitzen wir nach ausgiebiger Entdeckungsrunde durch den weitläufigen Park auf elegantem Metallgestühl vor der Orangerie. Das Schlossinnere steht nicht zur Besichtigung; es ist das Zuhause von Marie-France Ménage-Small. Ausgerechnet ein Schloss für Frau „Haushalt-Klein“, so ähnlich lautet ja wohl die Übersetzung ihres Namens. Der Haushalt, um den sich Madame kümmert, ist vermutlich alles, nur nicht klein. Sie kaufte den alten Kasten im Jahr 2002, um ihn zu neuem Leben zu erwecken. Das haben vor ihr schon andere getan – im 16. Jahrhundert zum Beispiel, als ein gewisser Jean V. die feudale Burg, deren Grundfeste aus dem 12. Jahrhundert stammen, zusammen mit seinem Bruder René, dem „Meister des Wassers und der Wälder“, wie uns die Geschichte sagt, in moderne Zeiten zu führen versuchte. Dazu brauchte er einen Architekten, der mit Jean Bullant schnell gefunden worden war, jener Bullant, dem Frankreich auch einen Teil des Louvre in Paris zu verdanken hat – und zugegebenermaßen der einzige Bullant, den wir kennen. Seit gerade eben. Aber nehmen wir an, wir wollten gegenüber Madame ein wenig glänzen, dann würden wir ihn auf Gedeih und Verderb sofort in unser Gespräch einbinden.


Crémant-Genuss vor Château Montigny-sur-Aube

Ach du liebe Zeit, da rauscht sie auch schon im Golfcart mit einer Flasche Crémant Rosé, Küchlein und Eis heran. Die Dienerschaft, offensichtlich eine Auszubildende, folgt ihr zu Fuß. Madame Ménage-Small ist lustig, erzählt gerne und strömt eine Grandezza aus, die perfekt in die Szenerie passt. Aus der „Oisellerie“ erklingen die Rufe weißer Pfauen wie Musik der Renaissance. Die fröhliche Schlossherrin, die in ihrer herzlichen, distinguierten Art und nach ihrem Äußeren zu urteilen stark an die Operndiva Montserrat Caballé erinnert, schenkt das rosafarbene Edelgetränk so schwungvoll ein wie wir unseren kleinen Burschen, der vor den Mauern der Anlage im Schatten großer Bäume steht, zu tanken pflegen: randvoll. Tausendfach steigen Bläschen in den beiden schmalen Kelchen und bilden einen federleichten Schaum, den wir mit größtem Wohlgefallen betrachten. Durch Kronen und Blätterdächer blicken wir auf die von der Sonne verwöhnte Fassade des Prunkbaus, deren hochherrschaftliches Bild den Crémant wie Champagner schmecken lässt.

„Ein schöner Ort“, bescheinigen wir der Schlossbesitzerin.

„Vor allem einer, der mich genauso gefunden hat wie ich ihn“, sagt Madame Ménage-Small. Es gebe keine Zufälle im Leben, alles habe seine Bestimmung. Sie, verheiratet mit einem US-Amerikaner, ist Besitzerin eines Schlosses, das für einen anderen US-Amerikaner eine bedeutende Rolle spielte: Harry Truman verbrachte mehrere Monate auf dieser Burg. Das war im Jahr 1918, als er sich an der Artillerieschule in Montigny-sur-Aube eingefunden hatte. Das habe die heutige Château-Besitzerin aber erst später erfahren. Wenn man bedenkt, dass Truman 1945 der 33. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wurde und maßgeblichen Anteil am Marshallplan hatte, der den Wiederaufbau Europas möglich machte, ist dieser Boden nichts weniger als ein Stück europäisch-amerikanischer Zeitgeschichte, auf den Madame stolz sein kann bei allem, was sie hier geschaffen hat. Sie fällt dabei nicht in Ehrfurcht auf die Knie, sie wirkt nicht melancholisch, sondern zufrieden, und sie hat Pläne, die viel weiter in die Historie greifen, um hervorzuholen, was im Laufe der Zeit verloren gegangen war. Denn was sie und ihr Ehemann Len Robert Small hier Anfang des Jahrtausends vorfanden, musste aufwendig restauriert werden. Zehn Jahre haben diese Arbeiten gedauert, zehn Jahre voller Träume, Hoffnungen, Pläne und sicher auch Enttäuschungen. Dabei schaffte es die resolute Frau in relativ kurzer Zeit, öffentliche Institutionen und private Gönner davon zu überzeugen, dieses Projekt maßgeblich zu unterstützen, um in der Geschichte der Region Côte d’Or ein Ausrufungszeichen zu setzen, das unverrückbar bis in die Zukunft ausstrahlt. Es war ein riesiger Aufwand; allein die Restaurierung des heute wieder Wasser führenden Burggrabens war eine Herkulesaufgabe. Rund 18.000 Kubikmeter Boden wurden ausgebaggert, Schilf und Erde entfernt. Die fünf Meter hohen Mauern mussten auf einer Länge von zweihundert Metern saniert und abgedichtet werden. Heute ziehen wieder Schwäne und Enten ihre Bahnen. Die Renaissance-Kapelle bescherte im Jahr 2009 allein sieben Handwerkern einen ganzen Sommer lang Arbeit, nur um der Fassade Schönheit (es gibt schlimmere Arbeitsplätze …) wieder herzustellen. Dorische Säulen, dreieckige Giebel, geriffelte Zwillingsstützen, Kartuschen, Rosetten, Goldschmiedearbeiten – hier hat ein Diamant sein Leuchten zurückerhalten! Architekten und Historiker gehen davor auf die Knie, wir tun es eher vor der Vielfalt des Obst- und Gemüsegartens, der, weit größer als ein Fußballfeld und etwas abseits des englisch anmutenden Landschaftsparks, über dreihundertfünfzig Sorten verschiedenster Früchte beherbergt, davon rund zweihundert Obst-Varietäten. Das sind überparadiesische Verhältnisse, denn im Garten Eden gab’s nur eine Apfelsorte (wahrscheinlich auch noch Granat) und keine Birnen, hier eine unermessliche Fülle, zum Teil frei stehend, andererseits zusätzlich am Spalier gezogen. Unter Einbeziehung erfahrener Landschaftsgärtner wurden jahrhundertealte Züchtungen gepflanzt. Bei aller wiederauferstandenen Pracht der Gebäude scheint dieses Projekt Madame Ménage-Small besonders viel Freude zu bereiten und Kraft zu geben. Dass das Fruchtsorbet zu Kuchen und Crémant ein Produkt der eigenen Ernte ist, daran besteht kein Zweifel: Natürlich ist es das! „Und wir werden noch weitere Sorten pflanzen“, sagt Frau Haushalt-Klein. Allein das ist ein Grund, auf der nächsten Reise zurückzukehren an diesen fantastischen Ort.

Ein letzter Ruf des weißen Pfaus erklingt, in den Kronen spielt der Wind ein Abschiedslied für uns. „Wir werden in absehbarer Zeit auch Chambres d’hôtes anbieten, dann können Sie hier übernachten“, sagt die Schlossherrin. Und das Abschiedslied der Bäume klingt ganz plötzlich schon nach einer Melodie des Wiedersehens.

Im ersten Gang geht’s immer rauf

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