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Ein Zimmer mit Aussicht. Nordkoreanische Impressionen. Neulich am Rande der Vogesen.

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Arc-en-Barrois ist bezaubernd, so viel steht fest. Nach einigem Hin- und Her-Mäandern zwischen diversen Nationalparks erreichten wir eine Wald- und Wiesenlandschaft, von Zeit zu Zeit unterbrochen von den Kathedralen der Landwirtschaft, riesigen Türmen, gefüllt mit Getreide, die als Silo gekennzeichnet sogar in der Landkarte verzeichnet sind, weil sie so mächtig und trutzig im Feld stehen. Ameisengleich fuhren wir also am Mont Blanc der Gerste, dem K2 des Weizens und dem Trinkbecher von Neptun vorbei – immer hoffend, dass nicht gerade jetzt ein Haarriss beschließt, sich zu vergrößern und der Inhalt der Riesenhumpen uns lawinengleich entgegenfließt. Dazwischen betrachteten uns gleichmütig diverse Kühe: schwarzbunte und rotweiße, wiederkäuend auf butterblumigen Weiden fressend, mitunter vom Herrn und Meister samt Traktor begleitet. Land, schönstes Land ringsumher. Besser kann man nicht reisen. Und wir mussten uns entscheiden: Arc-en-Barrois oder Arbot? Die Straßenkreuzung war unerbittlich. Arbot klang kurz und knapp, klang nach Bauernhöfen, klang nach kleiner Bar-Tabac und der Straße endend im Nirgendwo. Hatten wir schon oft auf dieser Tour. Wir entschieden uns deshalb für Arc-en-Barrois; dieser Ortsname vermittelt Grandezza und ließ auf adeliges Ambiente schließen, mit erleuchteten Fenstern im Barockstil und Apéritif auf eleganter Terrasse. Das Kleid für besondere Anlässe und das Oberhemd, noch ganz unten in der Tasche, würden also doch noch ausgeführt werden! Gut, Gasfuß, stellt schon mal den Cassis kalt, dort in Arc-en-Barrois, wir würden dann gleich vorfahren.


Parkplatz direkt unterm Zimmerfenster in Arc-en-Barrois

Arc, so wollen wir es hier ab sofort der Einfachheit halber nennen, ist zunächst erst einmal ein kleines Städtchen neben anderen noch kleineren Städtchen. Ganze 766 Einwohner – sollte das nicht eher ein Dorf sein? Aber nein, da haben wir die Rechnung ohne Schloss im Zentrum, Rathaus mit kompletter Geranienbelegung vor jedem Fenster, Hotel, Kirche und Apotheke im weißen Sandsteingewand gemacht! Zum Glück sieht wenigstens die Tankstelle so aus, als hätte nur schnell jemand die Zapfsäule an den Straßenrand gestellt, nachdem er sie auf einem Schrottplatz entdeckt und dann einfach hier vergessen hat. Wir füllen randvoll auf, das gute 98er-Super, und während der Tankwart gnädig das Geld entgegennimmt, stellt uns ein Zausel, dessen Peugeot ebenfalls eine Leckerei erhalten soll, die unmoralische Frage, ob ein Verkauf des fahrenden Altertümchens angedacht sei – es würde sich gut in seinem Fuhrpark machen. „Keine Chance“, bescheiden wir ihm, wie sollen wir denn standesgemäß beim Schlosse vorfahren? Gegen solche Argumente machtlos, lässt er uns aufbrechen – und wir fahren und fahren und fahren genau dreihundert Meter weiter, um schlussendlich auf dem entzückendsten Marktplatz einzuparken, den man sich nur vorstellen kann. Linker Hand ein Schloss aus weißem Stein, direkt fünfundzwanzig Schritte gegenüber die Auberge du Parc, ein großes Haus mit blauen Fensterläden. Daneben Bäckerei und mit dem Rathaus ein weiteres prachtvolles Gebäude. Alles ist so konzentriert um diesen Platz arrangiert, dass man sich nur einmal um die eigene Achse zu drehen braucht, um alles Interessante zu sehen. Im Hotel erhalten wir ein hinreißendes Eckzimmer, von deren zwei Fenstern wir einerseits aufs Rathaus blicken und andererseits auf Château, Kirche und Bäckerei. Es gibt leider keinen eigenen Hotelparkplatz, den wir wirklich gerne nutzen, anstatt unsere liebe Savane TL einfach so des Nachts öffentlich zugänglich abzustellen. Aber es geht nicht anders, wir müssen wohl oder übel eine Ausnahme machen. Immerhin: Der R4 steht direkt unter dem Fenster, und sollte sich jemand daran zu schaffen machen, könnten wir mit einem Sprung hinaus in die Nacht, barfuß und im Pyjama, direkt auf dem Übeltäter landen und ihn Jackie-Chan-gleich k. o. schlagen. Soweit die Theorie. Rein praktisch sind es trotzdem noch dreieinhalb Meter, also hoffen wir darauf, dass es nur Bewunderer aus der Ferne gibt, die interessierte Blicke auf das Auto werfen.


Abendstimmung am Hotel du Parc

Die Fenster des Zimmers sind groß und im unteren Drittel mit Eisengitter verziert. Eigentlich eine Light-Version des französischen Balkons. Er verleitet dazu, sich ans Fenster zu stellen und zu vergessen, dass das untere Drittel eben kein Mauerwerk, sondern nur französische Schmiedekunst ist, demzufolge der interessierte Einheimische die Bewohner dieses Eckzimmers in Unterwäsche bewundern kann, wie sie lässig hinausblicken. Die Belegschaft des Rathauses muss schon oft gelacht haben, und dem Pfarrer gegenüber ist wohl auch nichts Weltliches mehr fremd, zumindest was die Schlüpper angeht. Wir sind jedenfalls bestimmt nicht die Ersten, die sich hier nach dem Duschen so der Öffentlichkeit präsentieren …

Diese französischen Städtchen, so unterschiedlich sie auch in ihrer Struktur und Architektur sind, haben eines gemeinsam: Es gibt immer eine gut frequentierte Bäckerei, eine Kirche, die tagsüber geöffnet und deren Fassade nachts stimmungsvoll angestrahlt wird, sowie ein Restaurant oder eine Brasserie, wo sich auch unter der Woche die Menschen zum Essen und Trinken treffen. Fußgängerzonen, wie wir sie aus vergleichbar kleinen deutschen Städtchen kennen und die eine tödliche Entscheidung für jedes Sozialleben darstellen, sind zum Glück fast unbekannt. Hier braust jeder mit dem Auto vor, holt sich seine Baguette, lässt dabei den Motor laufen, auch wenn’s mal länger als zwei Minuten dauert, weil des Bäckers bessere Hälfte noch ein wenig plaudern will, und verschwindet wieder in einer Dieselwolke. Umweltgerecht? Nö, aber es ist eben noch Leben in der Stadt vorhanden, und selbst die Älteren, die kaum laufen können, klettern mühsam aus zerbeulten Peugeots und zerkratzten Renaults, um auf die Schnelle etwas zu erledigen, währenddessen es in Deutschland kaum noch eine Bäckerei gibt, vor der man überhaupt vorfahren könnte. Im Supermarkt ist es doch viel billiger. Hier allerdings kann man aus dem Eckzimmer des Hotels Le Parc am Fenster stehend diesem Treiben stundenlang zuschauen. Viel ist nicht los, aber die letzten Baguette-Käufer fahren im Minutentakt vor. Tatsächlich baut sogar noch ein Pizzabäcker seine Bude auf; auch hier wird es noch für zwei Stunden Kundschaft geben. Wir lassen uns den Apéritif in einem leicht abgeranzten Hinterhof schmecken. Am Nebentisch ein Schwung Köche, die eine Riesenportion Nudeln mit Tomatensauce verdrücken. Schande, aber wenigstens mit Baguette!

Am anderen Morgen, nach fulminantem Mahl im Restaurant mit Blick auf ein gewisses alpaka-farbenes Blechdach, erwachen wir durch Motorenlärm und plätschernde Laute. Der Blick fällt geradeaus durch das gegenüberliegende Fenster Richtung Rathaus. Dort steht ein Mann, fast Auge in Auge mit uns. Drei Fragen tun sich auf: Sind wir geschrumpft? Oder die Bewohner so groß? Und was zum Teufel plätschert da? Er wird doch nicht ... – Die Franzosen sind ja schnell bereit, der Obrigkeit ihren Unmut zu zeigen, aber nein, dieser Mann steht mit Zigarettenstummel im Mundwinkel lässig auf dem Dach seines Traktors und gießt die Geranien auf den Fensterbänken der Mairie. So geht das also! Wir hatten uns schon gefragt, wie man hier regelmäßige Wassergaben an die Pflanzen der öffentlichen Gebäude gibt, auch in Höhenlagen der oberen Etagen. Jetzt wissen wir’s: Es funktioniert, wenn man alle Regulierungen der Arbeitssicherheit ignoriert. Geht doch! Jeder deutsche Hausmeister – pardon: Facility Manager – würde sofort herbeistürzen und der Sache im Dienste der Unfallvermeidung ein Ende bereiten. Dafür würden dann aber auch die Blumen eingehen, aber Blumen an Rathäusern sind in Allemagne ja ohnehin selten. Hingegen wird hier in Arc und anderswo in aller Ruhe gegossen, bei lärmendem Treckermotor und mit Kippe.


Die Blumen werden gegossen …

Tasche packen, Kissen aus dem Fenster werfen (die eigenen), zum Frühstück wandeln und dabei von einer Horde ausgestopfter Hirschköpfe begutachtet zu werden – das ist des Reisenden Schicksal, wenn er in einer Gegend unterkommt, in der regelmäßige Jagdvergnügungen dazugehören.

Welche Reisefreuden könnten schöner sein als die, wenn man ausgeruht und dermaßen satt vor die Türe tritt, sodass man glaubt, von nun an eine Brioche zu sein, um dann ins Auto zu steigen und einem Tag entgegenzublicken, der noch jungfräulich vor einem liegt. Egal wohin man sich wendet, man wird neue Dinge sehen und erleben, alles liegt ausgebreitet und scheint nur darauf zu warten, dass wir um die Ecke kommen. Der heutige Tag soll noch sehr schöne Überraschungen für uns bieten, und wir sind dazu bereit. Wenn wir morgens von einem schönen Platz fortfahren, schwingt manchmal auch Wehmut mit, denn natürlich wissen wir, dass wir nur einen winzigen Bruchteil von dem gesehen haben, was es dort zu entdecken gibt. Beim abendlichen Spaziergang gestern, quasi ein Not-Gang aufgrund sehr gut gefüllter Bäuche, hatten wir in einer Art Hinterhof den Weg entlang eines großes Bachs gefunden, der zunächst eine Mühle antrieb, um sich dann schäumend und wirbelnd in sein gemauertes Bett zu fügen. Rechts und links seines Ufers konnten wir entlanggehen, und eine Art Rialto-Brücke sorgte für einen Übergang. Dann gab es dort noch einen offenen Garten, der aufgrund einer Städtepartnerschaft mit dem italienischen Samone angelegt worden war. Das Ganze versehen mit Resten einer Barockruine als kleine „folie“ und einem Rosarium, tipptopp gepflegt. Der Rasen gemäht, die Blumen blühten, es sah toll aus. Und als Krönung hieß die Komposition „Insel von Samone“. Leider war es dann zu dunkel geworden, um diesen Weg weiter entlangzuschlendern, aber jeder Reisende kennt das Gefühl, dass man eventuell noch etwas verpasst hat, was sich auch nicht wieder einholen lässt. Wenn man nach Jahren wieder vorbeikäme, wäre man doch eine andere Person und an anderen Dingen interessiert.

Genug des Philosophierens, wir schwingen uns auf die Straße, leicht duftet es nach Käse aus dem Picknickkorb und nach Weingummi aus der Ablage, das wegen erhöhter Temperaturen zu einer ungenießbaren Masse zusammengeflossen ist. So werden alle kleinen Sünden umgehend bestraft, sehr beunruhigend. Wir wollen nach Chaumont, der nächstgrößeren Stadt in der Haute-Marne, mit rund 23.000 Einwohnern aber noch überschaubar. Hier soll es eine Eisenbahnbrücke von enormer Größe geben, die zu den schönsten Viadukten Europas zählt. Wir lesen auf einem Schild, dass dieses Bauwerk das schönste seiner Art weltweit sei. Behauptet man hier in Chaumont zumindest. Gut so, denn übertriebene Bescheidenheit ist lästig. Wir fahren durch Wald und Flur, die Gegend ist hügelig, mit Feldern durchwirkt. Ruckzuck sind wir in Chaumont angekommen. Wir fahren talwärts, Kurve um Kurve, und als es wieder bergan geht, da erhebt sich in eindrucksvoller Länge von sechshundert Metern das Eisenbahnviadukt mit 96 Bögen und verbindet eine Hügelflanke mit der anderen. Wir fahren zum Aussichtspunkt und stellen den Renault in bedrohlicher Schieflage ab. Lieber mal die Handbremse betätigen. Leider können wir das Viadukt nicht betreten, gerade jetzt ist es eine Baustelle. Weiter geht’s also ins Stadtinnere. Wir parken in der Nähe einer Kirche und unternehmen einen Stadtrundgang. Grundsätzlich bietet es sich ja jedes Mal an, zunächst die Touristen-Info zu besuchen, um zu erfahren, was es in der noch unbekannten Stadt zu entdecken gibt, doch in Chaumont wird die Suche nach dem Infopoint zu einem Intelligenztest. Nachdem wir zum zehnten Mal per Schild um eine nächste Ecke in eine andere Straße geschickt werden, geben wir auf und suchen erst unser Auto und dann das Weite.


Das Viadukt von Chaumont ist 600 Meter lang und 50 Meter hoch.

Auch das ist ein Test, ein Nerventest. Die Stadtoberen haben – warum auch immer – beschlossen, dass alle Besucher und Bewohner nach Vorbild Nordkoreas permanent mit Musik zu beschallen sind. Die Lautsprecher sind vielerorts angebracht worden und lassen die gängigsten Radiohits in die Straßen rieseln. Wir warten auf eine schnarrende Stimme, die im Kommando-Ton zur gemeinsamen Feldarbeit auffordert. Andererseits ist Chaumont hübsch, zwischen Hügeln gelegen, mit vielen Prunkbauten aus hellem Sandstein und einer quirligen Innenstadt mit Restaurants und Geschäften. Vom oberen Punkt der Stadt blicken wir über eine Brüstung weit ins Land hinein, und wenn nicht gerade beim Betrachten der Naturschönheiten der Partnersender von Pjöngjang eine spanische Jubelarie auf Wein, Weib und Gesang gespielt hätte, wer weiß? Vielleicht wäre das noch etwas geworden mit Chaumont und uns …

Gerade in dieser Gegend gibt es viel zu entdecken, hier wird der köstliche Käse von Langres hergestellt, es gibt Weine und Wildspezialitäten, Trüffel, Abteien wie Sept Fontaines oder de La Crête, Korbflechtereien und Schnapsbrenner. Man kann tagelang herumfahren und sich amüsieren. Auf diese Weise schreitet unsere Entdeckung Frankreichs voran; wir nehmen Fahrt auf in Richtung Nancy. Die Landschaft von dicht bewaldeten Gebieten, durch die die Straße wie unter einem Dach entlangführt, ändert sich überraschend, um plötzlich ein Dorf aus grauen Granitsteinen zu enthüllen. Der Weg schlängelt sich durch Täler und schraubt sich direkt an manchen Haustüren in die Höhe, um dann wieder grandios nach unten abzudrehen. Für einen R4 genau das richtige Terrain. Wie eine Bergziege tuckern die 34 PS jede Steigung nach oben, um dann tollkühn nach unten zu brausen. Die Quatrelle kann also durchaus 130 Stundenkilometer erreichen, wer hatte etwas anderes behauptet?

Langsam steigen die Temperaturen, und ohne dass wir es wirklich bemerken, öffnet sich die Landschaft. Wir sind in den Vogesen angekommen. Plötzlich ist die Straße ein langes, graues Band, das sich endlos vor uns und den schmalen Pneus unseres Gefährts, das längst zu einem Gefährten geworden ist, ausbreitet. Eine kilometerlange und weite Tallandschaft, so scheint es auf den ersten Blick, mit mächtigen Hügeln rechts und links, davor die Felder. Oben auf den Hügeln sind dichte Baumreihen zu sehen. Würden am Horizont noch Tafelberge auftauchen, wären wir nicht verwundert. Es sieht verwunschen und gleichzeitig imposant aus, und während wir uns auf der D674 fortbewegen, finden dort oben in den dunklen Wäldern eventuell Zwergen-Things und Koboldkonferenzen statt. Da wollen wir hin – und tatsächlich: Ein kleines, verbeultes Schild mit Château-Zeichen, unscheinbar, leicht angerostet, weist uns zur nächsten, fernen Erhebung den Weg. Der R4 liebt die leichte Steigung, elegant aus dem vierten in den dritten Gang geschaltet, und schon schnaufen wir dem Château de Lafauche entgegen. Zunächst öffnet sich ein kleiner Ort, eher ein Weiler und dennoch mit obligatorischer Kirche und Gedenkstein. Dahinter wurde aus einem mächtigen Eichenstamm eine Art Häuschen gebaut, und ein kleiner Parkplatz ist auch vorhanden. Gibt man hier zu viel Gas, kann man bei den Anwohnern zwanzig Meter hangabwärts nach dem Rechten sehen.

Burgruine mit Käse und Astmuseum

Stolze Schlösser, von floraler Finesse umgeben, sind ein lohnenswertes Ziel. Doch wenn eine Burgruine wie Château Lafauche am Wegesrand auftaucht, zertrümmert von Jahrhunderten und geheimnisvoll umwittert, dann ist dies Futter für die Fantasie. Besonders viel ist von der einstmals großen, mehrere Türme umfassenden Forteresse nicht übrig geblieben, aber der Blick in die Haute-Marne ist gewaltig. Außerdem gibt es im angeschlossenen Musée du Bois eine witzige Ausstellung des Künstlers Émile Chaudron (1927 bis 2003), der in manchem Zweiglein etwas Außergewöhnliches entdeckte und auf diese Weise den „Zoo du Bois“ eröffnete. Während man durch die Wunderwelt geistert, holt Monsieur Adenot, der sich um Château Lafauche kümmert, noch zwei Käse, die er aus der Milch jener Schafe zubereitet, die rund um die Ruine friedlich grasen. Fertig ist das Glück. (Kontakt: rogeradenot@gmail.com)

Ein Eckhaus beherbergt ein kleines Museum, auf der anderen Seite hat es eine Terrasse mit atemberaubendem Blick ins Land, und als sei das nicht schon genug der Sehenswürdigkeiten, gibt es noch einen Eisenbrunnen mit der heiligen Maria auf der anderen Seite. Direkt gegenüber jedoch befindet sich das, was uns heraufgelockt hat. Gerade mal fünfzehn Schritte vom Museum entfernt beginnt die Auffahrt zum Château de Lafauche. Eigentlich eine Forteresse, ein echtes Schloss war es wohl nie. Gebaut auf den Hügeln im 11. Jahrhundert, wurde es erst im 14. Jahrhundert fertiggestellt. Die Anlage ist groß und liegt strategisch günstig auf der Hügelkuppe; die Mauern waren seinerzeit eineinhalb Meter dick und verbanden nicht weniger als achtzehn Türme. Das alles wurde auch dringend benötigt, denn eigentlich hatte kein Eigentümer mal so richtig Freizeit. Alle naselang wurde er herausgefordert, belagert, beschossen oder kam selbst auf die Idee, dem benachbarten Königreich Lothringen einen Überraschungsbesuch abzustatten. Dadurch änderten sich auch die Besitzverhältnisse der Anlage ständig: Mal gehörte sie einem Grafen, dann wieder den Herzögen von Amboise, dem Gerichtsvollzieher von Chaumont, auch mal dem König von Lothringen und einigen anderen umtriebigen Großgrundbesitzern. Mittlerweile stehen nur noch einige wenige Türme der Verteidigungslinien, und die sind nach all den Jahren auch ziemlich löchrig, aber es ist dennoch ein beeindruckendes Gelände. Wir schreiten zwischen riesigen Steinhaufen umher, die vormals Teile der Verteidigungsanlage waren. Ganz oben befindet sich ein Brunnenschacht, der genauso aussieht wie jener, der im Film über den Herrn der Ringe durch Hereinwerfen einer alten Rüstung das Herannahen der feindlichen Orks ankündigt. Aber so schauderhaft scheint es hier nicht zu kommen: Es ist niemand da auf diesem einsamen Gelände. Nichts als unverbaute Aussicht, Bäume und Brunnen. Was soll’s, hinein mit dem Stein, es kann uns nichts passieren – der Renault steht nur vierhundert Meter entfernt. Stille. Es dauert lange, bis ein dumpfer Ton vom Schachtboden aufsteigt. Dann wieder Stille. Keine Orks. Mitunter lässt man sich wirklich zu den krudesten Gedanken verleiten.


Monsieur Claude Adenot am Modell von Château Lafauche

Nach der ausgiebigen Besichtigung der Burganlage wird es nun Zeit, das Museum zu erkunden, wo eine Überraschung auf uns wartet. Von wegen öde Heimatstube! Hier gibt es eine Ausstellung von Skulpturen aus Ästen und Zweigen, so famos und amüsant herausgearbeitet, dass man am liebsten alles kaufen würde. Das ist leider nicht möglich, nein, nicht ein einziges Stück steht zum Verkauf, und der Monsieur, der diese Kunstwerke schuf, ist schon vor einigen Jahren gestorben. Sein Lebenswerk bleibt, wo es ist. Es wird den paar versprengten Touristen gezeigt, die hierher finden, um Château de Lafauche zu entdecken. Monsieur Claude Adenot, der uns einlässt, erklärt, dass es zwei Organisatoren in diesem Ort gibt, einerseits die, die sich um die Burg und deren Vermarktung mit mittelalterlichen Festen kümmert. Und dann sind da noch die, die sich dem Museum und der Kunst widmen. Zufälligerweise sei er der Vizepräsident der mittelalterlichen Organisation, sein Bruder Roger ist der Präsident. Wieso er denn dann hier im Museum stehe, fragen wir uns und ihn. Monsieur Adenot zuckt mit den Schultern: „Hier muss man alles machen.“ Dazu gehört offensichtlich auch die Produktion von Käse. Le Vizepräsident verkauft uns nämlich einige frische Schafskäselaibe, produziert aus der Milch jener glücklichen Tiere, die rund um diese Burgruine das Gras kurzhalten. Nach einem letzten Blick von der Terrasse über die Dächer des Dorfes verabschieden wir uns von ihm, der Burg und den Schafen. Obwohl … ist da nicht ein dumpfes Klopfen zu hören, so, als käme es tief unter dem Berg hervor? Haben wir die Orks geweckt? Lachend wehrt Monsieur Adenot ab. Hier gebe es außergewöhnlich tiefe Verliese und Keller unter der Anlage, da wären pochende und klopfende Geräusche normal. „Der Stein“, raunt er, „wissen Sie, der Stein lebt.“


Château de Lafauche, eine Festung aus dem 12. bis 16. Jahrhundert

Wahrscheinlich lachen sie immer noch da oben in Lafauche über die beiden Touristen, die sich eilig in ihren R4 setzten und mit Vollgas zurück ins Tal brausten.

Im ersten Gang geht’s immer rauf

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