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aa) Spezialpräventive Ausweisungsgründe

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Die Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen setzt die Gefahr voraus, dass der Ausländer durch sein persönliches Verhalten erneut einen Ausweisungsgrund verwirklichen wird. Die Wiederholungsgefahr muss mit hinreichender Wahrscheinlichkeit bestehen. Bei der Prognose ist insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Je schwerer das Ausweisungsinteresse wiegt, desto geringer sind die Anforderungen an das Vorliegen der Wiederholungsgefahr;[69] bei Gewalttaten kann unter Umständen bereits die entfernte Möglichkeit weiterer Verfehlungen genügen.[70]

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Hat das Strafgericht in Erwartung zukünftiger Straffreiheit die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt (§ 56 StGB), muss die Ausländerbehörde dieser sachkundigen strafrichterlichen Prognose wesentliche Bedeutung beimessen und darf von dieser nur ausnahmsweise bei Vorliegen überzeugender Gründe abweichen;[71] die Ausweisung wird daher regelmäßig ausscheiden, wenn das Gericht die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt hat.[72]

Hinweis

Liegt der Verurteilung eine Verständigung zugrunde, sollte das Gericht „gebeten“ werden, das Urteil bzgl. der günstigen Sozialprognose umfassend zu begründen, d.h. von der Möglichkeit eines abgekürzten Urteils (§ 267 Abs. 4 Satz 1 StPO) keinen Gebrauch zu machen; andernfalls besteht die Gefahr, dass die Ausländerbehörde zusätzliche – negative – Feststellungen bzgl. der Sozialprognose trifft, da sie die Urteilsgründe für nicht ausreichend erachtet.

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Hinsichtlich der Aussetzung des Strafrestes[73] (§ 57 StGB, § 88 JGG[74]) ist bislang die Ansicht vertreten worden, dass diese der spezialpräventiv motivierten Ausweisung grundsätzlich nicht entgegensteht. Zwar sei die Aussetzungsentscheidung von tatsächlichem Gewicht;[75] da die Aussetzung des Strafrests jedoch – anders als die Aussetzung gemäß § 56 StGB – den Ausschluss der Wiederholungsgefahr nicht voraussetze, sondern bereits zulässig sei, wenn verantwortet werden könne zu erproben, ob der Verurteilte außerhalb der Strafhaft keine Straftaten mehr begehen wird, könne ihr nicht das gleiche Gewicht beigemessen werden wie einer nach § 56 StGB erfolgten Aussetzungsentscheidung.[76] Vor dem Hintergrund, dass die „Erprobungsklausel“ durch Art. 1 Nr. 2 SexualDelBekG eine erhebliche Einschränkung erfahren hat, erscheint es allerdings fraglich, ob dieser Meinung noch zu folgen ist.[77]

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Die Beantwortung der Frage, ob nach den konkreten Umständen des Einzelfalls die Annahme einer Wiederholungsgefahr gerechtfertigt ist, erfordert nach h.M.[78] nur in Ausnahmefällen – etwa bei Beurteilung psychischer Erkrankungen[79] – die Hinzuziehung eines Sachverständigen (vgl. 53.0.3.1.2 Anwendungshinweise zum AufenthG).

Hinweis

In geeigneten Fällen sollte daher der Verteidiger versuchen, bereits im Strafverfahren ein positives Sachverständigengutachten zu erwirken, um auf diese Weise den Spielraum der Ausländerbehörde zusätzlich einzuschränken.

Ein entsprechendes Vorgehen kann vor allem in Kapitalstrafsachen von Bedeutung sein; lehnt der Sachverständige die Eingangsvoraussetzungen der §§ 20, 21 StGB ab, kann es gleichwohl eine wertvolle Hilfe darstellen, wenn er die Wiederholungsgefahr mit überzeugenden Gründen ausschließt. Hierzu sollte der Sachverständige eingehend befragt werden, um so die Feststellungen im strafrechtlichen Urteil „festschreiben“ zu lassen.

Hinweis

Im Rahmen der Strafvollstreckung gewinnt § 454 Abs. 2 StPO zusätzliche Bedeutung, der unter bestimmten Voraussetzungen die Einholung eines Sachverständigengutachtens zwingend vorschreibt. Ein entsprechender Antrag sollte frühest möglich gestellt werden (vgl. Rn. 536), damit die Begutachtung noch vor einer möglichen Ausweisungsentscheidung vorgelegt werden kann.

Insoweit verdient auch die Tatsache Beachtung, dass die Entwicklung innerhalb der Strafhaft als nachträglicher Umstand in die Entscheidungsfindung einbezogen werden muss.[80]

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Im Übrigen ist die Frage, ob Wiederholungsgefahr vorliegt, anhand einer umfassenden Beurteilung der Person des Ausländers, seines Verhaltens, seiner Lebensverhältnisse, der Art und des Ausmaßes des Ausweisungsgrundes sowie der dabei zu Tage getretenen Umstände zu entscheiden.[81] Gemäß der bislang nicht angepassten Anwendungshinweise zum AufenthG (vgl. 53.0.3.1.3) sind – wohl auch weiterhin – insbesondere folgende Gesichtspunkte von Bedeutung:

Art, Unrechtsgehalt, Gewicht, Zahl und zeitliche Reihenfolge der vom Ausländer begangenen und verwertbaren[82] Straftaten; liegen weniger gewichtige Straftaten vor, kann deren Häufung ein eigenständiges Gewicht zukommen;
Strafgericht einschließlich Gutachter haben eine Drogenabhängigkeit, einen kriminellen Hang, eine Neigung zum Glücksspiel oder eine niedrige Hemmschwelle vor einschlägigen Straftaten festgestellt;
Frühere Bewährungsstrafen, Widerruf der Strafaussetzung, des Straferlasses oder der Aussetzung des Strafrestes, grobe und beharrliche Verstöße gegen Bewährungsauflagen, Scheitern von Resozialisierungsmaßnahmen, Widerruf von Strafvollzugslockerungen, Jugendverfehlung (Alter zur Tatzeit);
Finanzielle Schwierigkeiten, Alkohol- bzw. Drogenabhängigkeit;
Nichtbeachtung einer ausländerbehördlichen Verwarnung unter Androhung der Ausweisung;
Wesentliche Änderung der Lebensverhältnisse.[83]

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Ist über eine Ausweisung gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG zu entscheiden, sind bei der Abwägung zusätzlich folgende Gesichtspunkte zu beachten:

Von maßgeblicher Bedeutung ist die Gefährlichkeit des Betäubungsmittels. Beim Handel mit Heroin, Kokain und anderen vergleichbaren gefährlichen Betäubungsmitteln in „nicht geringen Mengen“ kann von einer Ausweisung nur in besonderen Ausnahmefällen abgesehen werden (vgl. 54.3.2.1 Anwendungshinweise zum AufenthG).
Die Ausweisung kann aufgrund des Handeltreibens mit diesen Stoffen in nicht geringen Mengen schon bei einer einmaligen Bestrafung erfolgen, insbesondere in Fällen, in denen angesichts der vom Täter gezeigten erheblichen kriminellen Energie eine Wiederholungsgefahr besteht. Dies gilt auch bei Vorliegen besonderer schutzwürdiger persönlicher Belange wie der ehelichen Lebensgemeinschaft mit einem deutschen Staatsangehörigen und dem familiären Zusammenleben mit einem gemeinsamen minderjährigen Kind (vgl. 54.3.2.2 Anwendungshinweise zum AufenthG).
Beim Handeltreiben mit sog. weichen Drogen ist vor allem die Handelsmenge von Bedeutung, da durch den Gebrauch dieser Betäubungsmittel in nicht ganz so folgenschwerer Weise in die körperliche Unversehrtheit eingegriffen wird wie bei den sog. harten Drogen. Handel mit einer „nicht geringen“ Menge sog. weicher Drogen wird, soweit keine Einstellung durch die Staatsanwaltschaft erfolgt, regelmäßig zur Ausweisung führen (vgl. 54.3.2.3 Anwendungshinweise zum AufenthG).
Besondere Bedeutung ist der Motivation des Täters beizumessen. Handelte dieser aus Gewinnsucht, ist die Ausweisung grundsätzlich geboten. Dagegen kann für ein Absehen von einer Ausweisung sprechen, wenn der Handel zur Finanzierung der eigenen Sucht diente und der abhängige Täter sich einer der Rehabilitation dienenden Behandlung bereitwillig unterzieht oder diese bereits erfolgreich abgeschlossen hat[84] (vgl. 54.3.2.4 Anwendungshinweise zum AufenthG).
Die Höhe des Strafmaßes ist ein Indiz für die Gefährlichkeit des Täters (vgl. 54.3.2.5 Anwendungshinweise zum AufenthG).
Auch die im Strafurteil bzw. in der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer oder in vergleichbaren amtlichen Stellungnahmen angestellten Sozialprognosen sind angemessen zu berücksichtigen (vgl. 54.3.2.6 Anwendungshinweise zum AufenthG)[85].

Hinweis

Der Verteidiger sollte stets darum bemüht sein, möglichst viele der vorgenannten – positiven – Strafzumessungserwägungen im Urteil „festschreiben“ zu lassen; dies gilt insbesondere dann, wenn eine Strafaussetzung aufgrund der zu erwartenden Strafhöhe nicht in Betracht kommt. Insoweit können Beweisanträge – z.B. hinsichtlich des Vorliegens eines minderschweren Falles – behilflich sein. Ergeht das Urteil auf Basis einer Verständigung, sollte der Verteidiger auf eine entsprechend positive Urteilsbegründung hinwirken (vgl. Rn. 84).

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