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Teil 1 Verteidigung und AusländerrechtII. Verteidigungsstrategien zur Vermeidung der Ausweisung › 4. EU-Ausländer

4. EU-Ausländer

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Das AuslRÄndG sowie die Umsetzung von Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG haben zu einer umfassenden gesetzlichen Neuregelung geführt. Freizügigkeitsberechtigte EU-Ausländer können nicht mehr ausgewiesen werden; eine Anwendung der im Aufenthaltsgesetz geregelten Ausweisungsgründe ist ausdrücklich ausgeschlossen (vgl. § 11 FreizügG/EU). Der „Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt“ ist nunmehr abschließend in § 6 FreizügG/EU geregelt; nur unter der dort genannten Voraussetzung ist eine Aberkennung bestehender Aufenthaltsrechte zulässig[1].

Hinweis

Das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts bedarf der Feststellung durch die Ausländerbehörde, wobei eine Vermutung für das Vorliegen der Freizügigkeit gilt; ist das Nichtbestehen festgestellt, ist das AufenthG insgesamt anwendbar, d.h. auch die Ausweisungssystematik[2] (vgl. 11.2.1 Anwendungshinweise zum FreizügG/EU).

Die Bestimmungen des FreizügG/EU finden in erster Linie auf Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten Anwendung. Darüber hinaus werden aber auch Staatsangehörige der dem EWR-Abkommen beigetretenen EFTA-Staaten[3] erfasst (vgl. § 12 FreizügG/EU); für Staatsangehörige der Schweiz gilt das Freizügigkeitsabkommen Schweiz-EU, wonach diese EU-Ausländern weitgehend gleichgestellt sind (vgl. 12.2 Anwendungshinweise zum FreizügG/EU). Die bislang geltenden Einschränkungen für Staatsangehörige der Tschechischen Republik, Republik Estland, Republik Zypern, Republik Lettland, Republik Litauen, Republik Ungarn, Republik Malta, Republik Polen, Republik Slowenien und der Slowakischen Republik, welche zum 1.5.2004 Mitglieder der Europäischen Union geworden sind (vgl. § 13 FreizügG/EU), sind mit Wirkung zum 1.5.2011 entfallen, so dass diese den übrigen EU-Ausländern gleichstehen[4] (13.0 Anwendungshinweise zum FreizügG/EU); Angehörige von Staaten, die mit der EWG lediglich assoziiert sind, genießen schließlich nur dann die Vorzüge des FreizügG/EU, wenn sie als Familienangehörige eines privilegierten Ausländers in den Anwendungsbereich der Norm fallen[5]. Bei Nicht-EU-Ausländern ist daher stets zu prüfen, ob diese hinsichtlich der Geltung des FreizügG/EU den EU-Ausländern gleichgestellt sind.

a) Verlustgründe

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Hinsichtlich der Geltung und Reichweite der Verlustgründe ist also danach zu differenzieren, ob der betroffene EU-Ausländer ein Aufenthaltsrecht oder ein Daueraufenthaltsrecht genießt, oder sich in den letzten 10 Jahren im Bundesgebiet aufgehalten hat bzw. minderjährig ist.

aa) Freizügigkeitsberechtigte Ausländer

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Einem freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger kann sein Aufenthaltsrecht nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit aberkannt werden.

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Freizügigkeit genießen EU-Ausländer, die

sich als Arbeitnehmer zur Arbeitssuche oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU),
zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit berechtigt sind (niedergelassene selbständige Erwerbstätige) (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU)[6],
ohne sich dort niederzulassen, als selbständige Erwerbstätige Dienstleistungen i.S.d. Art. 50 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft erbringen wollen (Erbringer von Dienstleistungen), wenn sie zur Erbringung der Dienstleistung berechtigt sind (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 FreizügG/EU),
Unionsbürger als Empfänger von Dienstleistungen (§ 2 Abs. 2 Nr. 4 FreizügG/EU),
Verbleibeberechtigte i.S.d. Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 der Kommission vom 29. Juni 1970 über das Recht der Arbeitnehmer nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates zu verbleiben (ABl. EG Nr. L 142 S. 24, 1975 Nr. L 324 S. 31) und der Richtlinie 75/34/EWG des Rates vom 17. Dezember 1974 über das Recht der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates nach der Beendigung der Ausübung einer selbständigen Tätigkeit im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates zu verbleiben (ABl. EG 1975 Nr. L 14 S. 10) (§ 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU),
nichterwerbstätige Unionsbürger und ihre Familienangehörigen unter den Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU (§ 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU).

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Freizügigkeit genießen auch Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 1–5 FreizügG/EU genannten Personen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit[7]; Familienangehörige im Sinne des FreizügG/EU sind

der Ehegatte und die Verwandten in absteigender Linie, die noch nicht 21 Jahre alt sind (§ 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU),
die Verwandten in aufsteigender Linie und in absteigender Linie der in Absatz 1 genannten Personen oder ihrer Ehegatten, denen diese Personen oder ihre Ehegatten Unterhalt gewähren (§ 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU).
Ehegatten, die nicht Unionsbürger sind, behalten bei Scheidung oder Aufhebung der Ehe ein Aufenthaltsrecht, wenn sie die für Unionsbürger geltenden Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 1–3 oder Nr. 5 erfüllen und wenn
die Ehe bis zur Einleitung des gerichtlichen Scheidungs- oder Aufhebungsverfahrens mindestens drei Jahre bestanden hat, davon mindestens ein Jahr im Bundesgebiet (§ 3 Abs. 5 Nr. 1 FreizügG/EU),
ihnen durch Vereinbarung der Ehegatten oder durch gerichtliche Entscheidung die elterliche Sorge für die Kinder des Unionsbürgers übertragen wurde (§ 3 Abs. 5 Nr. 2 FreizügG/EU),
es zur Vermeidung einer besonderen Härte erforderlich ist, insbesondere weil dem Ehegatten wegen der Beeinträchtigung seiner schutzwürdigen Belange ein Festhalten an der Ehe nicht zugemutet werden konnte (§ 3 Abs. 5 Nr. 3 FreizügG/EU) oder
ihnen durch Vereinbarung der Ehegatten oder durch gerichtliche Entscheidung das Recht zum persönlichen Umgang mit dem minderjährigen Kind nur im Bundesgebiet eingeräumt wurde (§ 3 Abs. 5 Nr. 4 FreizügG/EU).

Wird das abgeleitete Aufenthaltsrecht rechtsmissbräuchlich begründet, z.B. im Falle der Scheinehe[8], besteht kein Recht auf Freizügigkeit.

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Freizügigkeit genießen schließlich auch die einem Mitgliedstaat angehörenden Studenten, sofern diesen nicht aufgrund anderer Bestimmungen ein Aufenthaltsrecht zusteht.[9]

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Der Begriff der öffentlichen Ordnung ist als Einschränkung des Rechts der Freizügigkeit eng auszulegen.[10] Hiervon ausgehend sind bei strafrechtlichen Verurteilungen folgende Gesichtspunkte zu beachten:

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Eine strafrechtliche Verurteilung führt – auch bei schweren Straftaten – nicht automatisch zum Rechtsverlust;[11] die Aberkennung erfordert stets eine Abwägung des Einzelfalls sowie eine Zukunftsprognose, d.h. die Feststellung einer Wiederholungsgefahr. Auch insoweit gilt, dass „einschlägige strafrechtliche Entscheidungen“ bei Prüfung der Gefahrenprognose zu berücksichtigten sind;[12] der Wortlaut der Anwendungshinweise sieht insoweit keine Beschränkung vor, so dass auch Entscheidungen nach §§ 57, 57a StGB Beachtung finden müssen. Eine Bindung der Behörde vermag die strafrechtliche Entscheidung jedoch auch hier nicht zu bewirken[13] (vgl. oben Rn. 84).

104

Aus der Schwere der Tat allein kann nicht auf das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr geschlossen werden;[14] umgekehrt ist es der Behörde allerdings nicht verwehrt die Gefahrenprognose auf die Begehung lediglich einer einzigen schwerwiegenden Tat zu stützen.[15]

105

Sind Vorstrafen aus dem Bundeszentralregister getilgt, bleiben diese bei der Entscheidung unberücksichtigt.[16]

106

Generalpräventive Erwägungen stellen somit keine Einzelfall bezogene Prüfung dar und sind somit ausnahmslos unzulässig.[17]

107

Ordnungswidrigkeiten oder Straftaten „leichter Kriminalität“ sind selbst im Falle wiederholter Begehung nicht geeignet die Aberkennung des Aufenthaltsrechts zu begründen.[18]

Hinweis

Geht das Verhalten des Ausländers auf eine Krankheit zurück, normiert Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 64/221/EWG ein Ausweisungsverbot. Dieses gilt jedoch nicht absolut; gefährdet der Ausländer durch sein persönliches Verhalten die öffentliche Ordnung konkret und hinreichend schwer, kann auch krankheitsbedingtes Handeln die Aberkennung des Aufenthaltsrechts rechtfertigen.[19]

bb) EU-Ausländer mit Daueraufenthaltserlaubnis

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Nach Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts (§ 4a FreizügG/EU) kann das Aufenthaltsrecht nur bei Vorliegen „schwerwiegender Gründe“ aberkannt werden.

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Obwohl § 6 Abs. 4 FreizügG/EU, anders als die Vorgängerregelung (§ 6 Abs. 3 FreizügG/EU a.F.) auf das Wort „besonders“ verzichtet, besteht Einigkeit dahingehend, dass das Schutzniveau durch die Neufassung nicht abgesenkt worden ist.[20]

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Gefordert wird eine gegenüber der ersten Stufe gesteigerte Intensität der Gefährdung, die in der Regel die Verurteilung wegen eines Verbrechens oder besonders schwerwiegender Vergehen voraussetzt;[21] notwendig und ausreichend ist auch insoweit eine konkrete Wiederholungsgefahr.[22]

cc) EU-Ausländer mit langjährigem Aufenthalt

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EU-Ausländer, die sich mehr als 10 Jahre im Bundesgebiet aufhalten, genießen den größten Schutz; diesen kann das Aufenthaltsrecht nur aus „zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit“ aberkannt werden.[23] Gleiches gilt für Minderjährige, vorausgesetzt der Verlust des Aufenthaltsrechts ist nicht zum Wohle des Kindes erforderlich. Im Einzelnen gilt Folgendes:

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Soweit das Gesetz auf eine rechtskräftige Verurteilung zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mind. 5 Jahren abstellt, wird dadurch lediglich eine „Untätigkeitsschwelle“ normiert.[24] Wird das Strafmaß überschritten, ist gleichwohl eine umfassende Prüfung des Einzelfalls erforderlich. Die Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland werden in der Regel nur bei schwersten Straftaten in Verbindung mit einer Wiederholungsgefahr betroffen sein, was – außer bei terroristischen Gefahren – regelmäßig nur dann der Fall sein wird, wenn die Bevölkerung allgemein gefährdet ist, z.B. im Bereich der Drogen[25]– oder Organisierten Kriminalität oder bei Anordnung der Sicherungsverwahrung.[26]

Hinweis

Der Aufenthalt über einen Zeitraum von zehn Jahren muss rechtmäßig gewesen sein.[27]

b) Rechtsfolge

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Vor Änderung der Rechtslage war u.a. zu prüfen, ob der EU-Ausländer erhöhten Ausweisungsschutz gemäß Art. 3 ENA bzw. aus bilateralen Abkommen genießt.[28] Da weder Art. 3 ENA noch entsprechende Abkommen – vgl. Art. 3 Abs. 1 des Niederlassungs- und Schifffahrtsvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik, Art. 2 Abs. 1 des Niederlassungs- und Schifffahrtsvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Griechenland und Art. 2 Abs. 2 des Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Italienischen Republik – einen über § 6 FreizügG/EU hinausgehenden Schutz gewähren, ist dieser indes bedeutungslos geworden.[29]

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