Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 2: Telos Malakin. Prüfung - J.H. Praßl - Страница 11
ОглавлениеSturm
Die Sonne stand hoch am Himmel und strahlte wärmend auf das Deck der Aphrodia herab. Es war der siebzehnte Tag auf See und die Vorboten des Winters waren selbst in diesen warmen Gefilden spürbar. Die Hitze der Sommermonde hatte sich in angenehm laue Temperaturen gewandelt. Die Matrosen, die im Augenblick keiner Arbeit nachzugehen hatten, lungerten mit halb geöffneten Augen an der Reling, den Masten und in den zusammengerollten Tauen, die an Deck herumlagen, und ließen sich die Sonne ins Gesicht und auf die Bäuche scheinen. Allein die sanfte Brise, welche, die Segel liebkosend, zwischen den Masten hindurchstrich, trieb den Männern zeitweilig eine Gänsehaut über die Arme. Manche von ihnen verfolgten zwischen ihren halb geöffneten Lidern hindurch die Manöver der Seekämpfer, die wieder und wieder durchgenommen wurden.
Telos lehnte an der Reling des Achterdecks und ignorierte die gebrüllten Kommandos so gut er konnte. Ebensowenig ließ er die Blicke, mit welchen ihm der eine oder andere Pirat vor Augen führte, dass sein Erscheinungsbild nicht gerade Wohlgefallen auslöste, in sein Herz dringen. Er hatte gelernt, alles von sich fernzuhalten, was seiner Selbswahrnehmung Schaden zufügte. Als Priester konnte er es sich nicht leisten, an sich selbst zu zweifeln. Außerdem hatte er die Erfahrung gemacht, dass die anfängliche Abneigung, die viele bei seinem Anblick empfanden, meist schnell verflog, dann, wenn er Taten sprechen ließ. Und Schönheit wurde allzu oft dazu benutzt, innere Makel zu verbergen. Sogesehen war sie alles andere als erstrebenswert.
Telos’ Augen wanderten über die blank geschrubbten Schiffsböden und prägten sich jedes Detail des Güldenmaidklasse-Seglers ein. Er wusste, dass er, sollten sie auf Gefahren stoßen oder irgendwelche nautischen Maßnahmen treffen müssen, nicht den blassesten Schimmer hatte, was genau zu tun war. In dieser Angelegenheit musste er voll und ganz dem nicht gerade kooperativen Kapitän vertrauen. Das gefiel ihm nicht, doch er hatte keine Wahl. Einzig Bargh würde eine kleine Hilfe sein.
Als hätte der Name des Barbaren ihn aus seinen grüblerischen Gedanken gerissen, vernahm er Barghs sonore Stimme, die schon seit geraumer Zeit für Bewegung auf der Aphrodia sorgte.
„Alle Mann auf Gefechtsstation und zwar zackig!“
Bargh stand mitten am Hauptdeck, brüllte Kommandos und hielt die Seeleute auf Trab. Tarken El’Dakwar lehnte am Poopdeck neben dem Steuermann und beobachtete die Manöver auf seinem Schiff mit finsterem Blick.
„Das muss schneller gehen! Ans Katapult, hab ich gesagt! Ballisten besetzen! … Jaaah, so muss das sein …“
Telos schmunzelte. Bargh war ganz in seinem Element. Das war nicht zu übersehen. Auch Thorn würde seine Sache gut machen und spätestens auf den Kabugna-Inseln seinen Beitrag leisten. Was die Priesterin der Issisa betraf, so musste diese erst mit ihren Glaubenskonflikten zu Rande kommen. Das würde bedauerlicherweise noch so lange dauern, bis sie wieder eine Verbindung zwischen sich und Issisa spürte. Fragte sich nur, ob und wenn ja, wann dies je der Fall sein würde. Die Mahaf in Ahan beschrieb einen Pantheon, der laut Osmosis eine offene Feindschaft Al’Jebal gegenüber hegte. Hätte Telos sich mehr für Politik interessiert, hätte er vielleicht den Grund dafür gewusst.
Chara … Was sie betraf, war er ratlos. Er musste Chara auf den Grund gehen. Er musste sich sicher sein, dass sie, wenn es darauf ankam, hinter ihnen stand. Es war nicht zu übersehen, dass sie außerhalb der Gruppe Position bezog – nachvollziehbarerweise. Nur hatte er lediglich eine vage Vorstellung davon, was genau einen Assassinen charakterisierte. Er musste Charas Beweggründe verstehen, um ihr Handeln vorhersehen zu können, damit sie nicht Gefahr liefen, dass ihre Mission in einer unvorhersehbaren Katastrophe endete. Und er musste dafür sorgen, dass sich Thorn mit Chara arrangierte. Das aber war noch nicht alles. Es gab noch jede Menge anderer Probleme, die es zu lösen galt. Das einzige, das Telos’ Stimmung im Augenblick daran hinderte, in die Tiefen der Unterwelt zu sacken, war die Stütze Agramons.
„Telos!“, riss ihn Thorns Stimme aus den Gedanken. Der Albi betrat das Achterdeck und gesellte sich zu ihm an die Reling. „Hier bist du also und wälzt trübe Gedanken.“
„Wie fühlst du dich?“, fragte Telos sofort. Vielleicht war ja Thorn in der Stimmung für ein klärendes Gespräch.
„Gut.“ Thorn fuhr sich mit den Fingern durch sein vom Wind zerzaustes Haar. „Bestens. Ich denke, wir sollten ein paar Überlegungen anstellen. Zum Beispiel, welche Ursachen für das Verschwinden der Schiffe in Frage kommen könnten.“
Telos stimmte zu, während er einen Weg zu finden versuchte, Thorn auf seinen Konflikt mit Chara anzusprechen. „Ja, das sollten wir. Allerdings habe ich den Eindruck, dass dich irgendetwas beschäftigt und wenn dem so ist, sollten wir zuerst darüber sprechen.“
Thorn zögerte.
„Nun ja … jeder hat so seine Probleme“, versuchte er halbherzig auszuweichen.
„Richtig“, antwortete Telos sanft. „Und meistens fühlt man sich besser, wenn man sie mit einem Freund teilt.“
„Der Auftrag, Al’Jebal, die Eingeborenen, die offenbar nicht das gastfreundlichste Volk sind, Chara …“
„Ja, Chara ist in der Tat ein Problem“, hakte Telos sofort ein, „obwohl ich sie nur ungern als Problem bezeichne. Lass es mich so ausdrücken, du musst lernen, mit ihr ein Einvernehmen zu finden.“
„Das könnte mir schwerfallen.“ Thorn verzog den Mund.
„Ich weiß, Thorn. Doch du wirst nicht daran vorbeikommen. Sie ist ein Teil dieser Gruppe.“
„Hm …“ Ein flüchtiges Lächeln huschte über Thorns Lippen. „Wenn ich Chara als ein Problem betrachte, das im Sinne dieser Mission zu lösen ist, irgendwo zwischen der Sache mit den Inseln, dem mysteriösen Verschwinden der Schiffe, dem Errichten eines Stützpunktes … Dann könnte ich mich eventuell mit ihr arrangieren. Ich betrachte sie einfach als Teil des Auftrags und nicht als ein Mitglied der Expeditionsgruppe.“
Telos war nicht zum Lächeln zumute.
„Wenn es damit leichter für dich wird?“
„Eindeutig“, grinste Thorn.
„Was also könnte deiner Meinung nach für das Verschwinden der Schiffe verantwortlich sein?“, fragte Telos und fand sich damit ab, das Thema Chara vorerst ruhen zu lassen.
Thorn zuckte die Schultern. „Schwer zu sagen. Möglicherweise sind unsere Vorgänger einfach abgehauen. Ich könnte es ihnen nicht verdenken.“
„Ausgeschlossen. Wen auch immer Al’Jebal in seinem Interesse auf eine Mission schickt, er hat zweifelsohne Mittel und Wege, diesen Jemand im Auge zu behalten. Dass sie geflohen sind, kommt meiner Meinung nach nicht in Frage. Entweder schickte er absolut vertrauenswürdige Leute, oder sie wurden infiltriert und kontrolliert.“
„Wieso wählt er dann uns für einen weiteren Versuch?“
„Ich habe Al’Jebal die Treue geschworen und vor, mich an meinen Eid zu halten. Auf Bargh trifft dies gewiss ebenso zu. Osmosis ist die einzige, abgesehen von dir, die Al’Jebal hasst.“
„Das heißt dann wohl, dass der Alte ein Auge auf uns hat, auf welche verfluchte Weise er das auch immer bewerkstelligen mag“, erwiderte Thorn zynisch.
„Davon gehe ich aus, ja.“
„Chara“, murmelte Thorn düster.
„Ich halte es für abwegig, dass die Assassinin in dieser Angelegenheit eine ausreichende Sicherheitsvorkehrung darstellt. Al’Jebal hat sicher bessere Mittel und Wege.“
„Mag sein, doch ich wette, die Assassinin hängt da mit drin.“
„Möglich.“
„Gewisslich.“
„Kommen wir zum Thema zurück.“ Telos fühlte einen leisen Unmut aufkommen. Er mochte nicht, wie Thorn über Chara dachte, unabhängig davon, was sie war oder getan hatte. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er nie über sein eigenes Verhältnis zu Chara nachgedacht hatte. Wie stand er selbst zu ihr? Bedeutete sie ihm etwas, so wie Bargh oder Thorn? Und wenn ja, was? Ignorierte er die Tatsache geflissentlich, dass sie von fragwürdiger Gesinnung war?
Telos spürte, wie sich sein Magen leicht zusammenzog. Nein, Thorn war nicht der einzige, der sein Verhältnis zu Chara klären musste. Das wurde ihm gerade unangenehm bewusst.
***
Als Telos am nächsten Morgen seine Toga anlegte, schleuderte es ihn in seiner Kajüte von einer Wand zur anderen und als er die Tür zum Gang aufstieß, schwang diese plötzlich zurück und krachte hart gegen seine Schulter.
Während er sich wankend durch den schmalen Gang Richtung Luke kämpfte, vernahm er das aufgeregte Brüllen an Deck, das immer wieder vom Heulen des Windes verschluckt wurde: Segel einho… Ma… Takelage …est! Hart …ackbord! …dammte Wellen …!
„Thorn, Chara, Bargh!“, brüllte Telos, während er an den Kajüten vorbeitorkelte. „Macht, dass ihr nach draußen kommt!“
Als er den Deckel über der Luke zurückstieß, kam ihm ein Schwall Wasser entgegen. „Oh Agramon!“, spuckte er und wischte sich mit den Händen über die Augen. „Falls du gerade Zeit hast, sorg dafür, dass Belugos sich entspannt!“
Fluchend kletterte er an Deck und versuchte, trotz des wild schwankenden Schiffs das Gleichgewicht zu halten.
Im ersten Moment sah er gar nichts. Der Sturm peitschte ihm den Regen ins Gesicht und der Himmel war von nachtschwarzen Wolken verhangen, sodass es den Anschein hatte, als wäre der Morgen längst noch nicht angebrochen. Tarkens Befehle schlugen ihm entgegen, das Heulen des Windes dröhnte in seinen Ohren und die hektisch über das Deck stürzende Besatzung machte es ihm unmöglich, sich zu sammeln und zu orientieren.
„Meine Fresse!“, ertönte Barghs Stimme hinter ihm. „Das is’ vielleicht n’ Sturm!“ Als Telos sich umdrehte, sah er Barghs großen Kopf über der Luke auftauchen. Der Wind hatte ihm die langen rotblonden Strähnen über das Gesicht gefegt. Er sah aus, wie ein alter, zerfledderter Besen.
„Hol die anderen!“, brüllte Telos über das Heulen des Sturms hinweg. „Wir werden hier mitanpacken müssen, wenn …“
Mit einem Ruck neigte sich der schwere Schiffsrumpf zur Seite und Telos krachte gegen die Bordwand. Stöhnend zog er sich an der Reling hoch. Als eine weitere Welle das Schiff empor hob und förmlich von ihrem Kamm schleuderte, fuhr ihm dumpfe Angst in die Eingeweide. Dieser Sturm war ein verfluchter Fingerzeig der Götter!
***
„Der Bericht über Alba“, sagte Agem Ill und legte die versiegelte Schriftrolle auf den Tisch. Al’Jebal warf einen Blick zur Tür und nahm zur Kenntnis, dass sie verschlossen war. Ein weiterer Blick reichte, um zu gewährleisten, dass niemand außerhalb des Raums hören konnte, was nicht für seine Ohren bestimmt war. Schließlich brach er das Siegel und öffnete die Nachricht.
„Setzt Euch. Trinkt“, bot Al’Jebal an, während er über die Zeilen flog.
Agem Ill zog die Handschuhe aus und setzte sich in einen der leeren Stühle. „Assef sagt, Kerrim Ben Yussef hätte alle Informationen bekommen, die Ihr haben wolltet. Wie erwartet plant Marak MacGythrun gegen Adrian vorzugehen.“
„Kerrim bekommt gewöhnlich, was er will. Er hat sich als einer meiner fähigsten Assassinen entpuppt.“ Ungerührt rollte Al’Jebal das Schriftstück zusammen.
„Sobald wir den Stützpunkt auf den Kabugna-Inseln haben, nehmen wir uns der Sache an. In der Zwischenzeit bereitet alles für den Aufbau des Stützpunktes vor.“ Er stand auf und schritt zum Fenster.
Agem beobachtete ihn. „Denkt Ihr, sie werden erfolgreich sein?“
„Zweifelt Ihr daran?“
Ein leises Schnauben war die Antwort. „Es sind Anfänger.“
„Der eine mehr, der andere weniger.“ Al’Jebal rührte sich nicht, während er auf das Meer der Ruhe blickte.
„Es ist eine Prüfung, oder?“
Al’Jebal schwieg und eine Weile herrschte Stille. Nur das leise Rauschen der fernen Wellen störte die Stille im Raum. Agem Ill wartete.
Schließlich drehte sich Al’Jebal um und kam zum Tisch zurück.
„Schickt Ben Yussef zu den MacDragul. Der Clanag soll seinen vertrauenswürdigsten Mann nach Caer Arkum schicken. Einer meiner Leute wird ihm dort ein Angebot überreichen. Er wird noch erfahren, wann.“
„Und wenn der Clanag wissen will, worum genau es geht?“
„Wird er nicht. Mordo Haugan MacDragul wird meiner Bitte auch so nachkommen.“
Agem Ill sah zur Tür. „Habt Ihr noch weitere Instruktionen?“
„Es wird ein Treffen der Gegner Adrians auf der Burg Arkum geben. Ben Yussef soll, wenn er schon in Alba ist, Marak MacGythrun dabei unterstützen, alle Verschwörer an einen Tisch zu bekommen. Im Zuge dessen soll er auch die Sitral der Dendamakur aufsuchen. Ich werde ihm eine Botschaft für sie mitgeben. Er bekommt sie, bevor er abreist.“
„Die Dendamakur …“
„Ja.“
Agem Ill zog einen Becher zu sich heran, füllte ihn mit Wein und nahm einen Schluck. „Ein chryseischer Tropfen. Dafür hab ich eine Schwäche.“
Al’Jebal überging den Einwurf und Agem Ill wurde wieder geschäftlich.
„Gibt es weitere Befehle bezüglich der Neuen? Sollten sie tatsächlich zurückkehren …“
„Behaltet Gandir im Auge. Er wird früher oder später unsere Geheimhaltung gefährden.“
„Warum beseitigen wir ihn dann nicht einfach?“
„Weil ich noch etwas mit ihm geplant habe.“
„Er wird versuchen, sich abzusetzen. Was dann?“
„Das ist nicht das Problem. Er ist nicht allein.“
Agem Ill nickte. „Ich verstehe. Sonst noch etwas?“
„Ansonsten keine weiteren Befehle.“ Al’Jebal trat erneut an das Fenster. „Vorerst sind wir darauf angewiesen, dass die Gruppe den Verteidigungsmechanismus der Goygoa überlebt. Mit etwas Glück wird dieser auch uns eines Tages zur Verfügung stehen. Das hängt ganz davon ab, ob die Goygoa einen aus der Gruppe richtig deuten können.“
Agem Ill fragte nicht nach. Tat er nie. Al’Jebal sagte stets nur das Allernötigste. Und er hatte bereits mehr als genug gesagt.