Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 2: Telos Malakin. Prüfung - J.H. Praßl - Страница 14
ОглавлениеEin Versuch
Ein bläulicher Dunst, durchsetzt von dichten grauen Rauchschwaden, hing in der niedrigen Hütte. Der dünne Bastvorhang, der den Blick durch eine schmale Öffnung nach draußen abschirmte, wurde ab und an von einem leichten Windstoß zur Seite gefegt. Dann stieß klare Luft wie eine Faust durch den Nebel und zerstob die dicken Schwaden, woraufhin sie sich erst allmählich wieder zusammenzogen, bis sie den Raum erneut in dem graublauen Dunst ertränkten.
Auf dem Holzboden, rund um einen von kleinen Knochen übersäten Bastteppich, saßen fünf Gestalten. Ihre Gesichter schwebten inmitten dieses undurchsichtigen Qualms wie blasse, körperlose Schemen. Jedes dieser Gesichter neigte sich leicht nach unten, die Augen auf die Knochen am Boden in ihrer Mitte gerichtet, und jedes war von einer Unzahl ähnlicher schwarzer Symbole gezeichnet, die sich über Stirn, Augen, Nasen, Wangen und das Kinn zogen. Kaum eine Stelle war frei von den Tätowierungen. Ledrige, robuste Haut spannte sich bei dreien der Männer bereits in Falten um den Schädel. Während vier der Gestalten schweigend den Rauch ihrer Pfeifen in den Raum bliesen, konzentrierte sich einer von ihnen ausschließlich auf das Bild, das die Position der kleinen Knochen auf dem Boden ergab.
Dieser Mann hatte schlohweißes Haar, das in kurzen Stoppeln nur noch spärlich seinen Schädel bedeckte. Seine Gesichtszüge waren härter, derber als die der anderen und tiefe Furchen gruben sich in die Haut um seine Augen und seinen schmallippigen Mund. Nur ein kleiner Fleck im Zentrum seiner Stirn war frei von Tätowierungen. Über den Rest des Gesichts zogen sich wilde, schwarze Ornamente bis hinunter über seinen Hals und seine nackte Brust. Seine faltigen Ohren waren von langen, gebogenen Zähnen durchstochen, deren Spitzen bis auf seine Schultern reichten.
Vier Augenpaare beobachteten angespannt den alten Mann und warteten auf die Bestätigung jener drei Worte, die er vor sechs Monden das erste Mal ausgesprochen hatte.
Und endlich richtete sich der Mann auf und warf einen langen Blick in die Runde.
„Ei khum“, sagte er leise und ein kaltes Licht schimmerte in seinen blassen, blauen Augen.
Es folgte ein ernstes Nicken der anderen, begleitet von düsteren, unheilvollen Blicken.
„Tis la Siki!“
***
„Telos?“
Als er seinen Namen hörte, spürte er, wie ein Strom der Erleichterung durch seinen Körper floss. Erst da wurde ihm bewusst, wie er sich in den letzten Tagen gemartert hatte und wie sehr ihn der Gedanke, Chara verlieren zu können, aus der Bahn geworfen hatte – ob aus priesterlicher Verantwortung oder aus persönlichem Interesse, darüber hatte er im Augenblick keine Zeit nachzusinnen.
Telos griff nach Charas Hand und antwortete leise: „Ja, ich bin hier.“
Sie schlug die Augen auf, blinzelte kurz und entzog sich sanft seinem Griff.
„Ja“, krächzte sie heiser und versuchte sich aufzurichten, doch Telos drückte sie zurück in das Kissen.
„Geduld, Chara. Du bist noch nicht so weit.“
Mit einem kühlen Blick in sein vernarbtes Gesicht nahm sie seine Hand von ihrer Brust und setzte sich auf.
„Wie du meinst“, gab sich Telos seufzend geschlagen. Was hatte er anderes erwartet?
Vorsichtig schob sich Chara neben ihn an die Bettkante und blickte an sich herab. Ihr Oberkörper war noch immer von einem festen Verband eingehüllt und ihr rechter Fuß steckte in einer Art Holzgestell, um das eine Mullbinde gewickelt war, sodass der Fuß völlig im Verband verschwand.
„Also“, begann sie. „Was ist mit mir geschehen?“
„Das hätte ich gerne von dir gewusst.“ Telos stand auf und setzte sich in den Stuhl gegenüber. Wie erwartet entspannte sich Chara daraufhin sofort.
„Was ich noch weiß ist, dass ich mich beim Jagen im Wald verirrt habe. Ich bin einen Baum hochgeklettert, um mich am Sonnenstand zu orientieren und fiel.“
Telos schnaubte auf. „Was habt ihr bloß alle mit den Bäumen? Als könnten vom Wipfel eines Baumes aus sämtliche Probleme gelöst werden!“
„Wovon redest du?“
„Bargh dachte wie du. Er wollte von oberhalb der Baumkrone Wasser ausfindig machen.“
„Und?“, lächelte sie schwach.
„Natürlich ohne Erfolg. Aber wenigstens kam er unbeschadet auf den Boden zurück.“
„Ich nicht.“
„Ja, das war nicht zu übersehen, als wir dich gefunden haben.“
Telos war klar, dass Chara einen Alptraum durchlebt haben musste und es war zu erwarten, dass sie ihm die Details darüber ersparte. Vielleicht konnte er sie aber dazu bewegen, ihm einen Teil ihrer Geschichte anzuvertrauen.
„Bei dem Sturz habe ich mir ein paar Rippen und den Knöchel gebrochen und dann …“, Chara brach ab und schien ein Schaudern zu unterdrücken. „… dann versuchte ich den Weg zurück zu finden, was mir nicht gelang.“
„Verwunderlich, dass du überhaupt noch gehen konntest.“
Ein zynisches Lächeln kräuselte ihre Lippen. „Jedenfalls kam ich nicht weit.“
„Verständlich. Was geschah dann?“, tastete er sich vorsichtig weiter.
„Ich brach zusammen. Es war schon dunkel. Ich wusste, dass mich ein Tier verfolgte und wartete darauf, dass es sich zeigte, was nicht lange dauerte.“
Langsam beugte er sich vor. „Ja?“
„Eine Echse – ein etwa sieben Fuß langes Reptil.“
„Sieben Fuß? Das ist gewaltig.“
„Groß genug jedenfalls, um sich einen Menschen als Beute zu wählen.“
Der Gedanke daran, wie sich Chara schwer verletzt und völlig alleine in der Dunkelheit des Waldes gefühlt haben musste, mit der Aussicht darauf, von diesem Reptil angefallen zu werden, erweckte sofort ein Gefühl des Mitleids in ihm und er hätte gerne ihre Hand genommen, ihr irgendwie seine Anteilnahme gezeigt. Doch ihre teilnahmslose Stimme machte ihm mehr als deutlich, dass sie keine Anteilnahme wünschte. Sie war eben Chara und Chara blieb gerne mit sich allein.
Sie schielte zu ihrem Fuß.
„Sag schon! Ist er noch ganz?“
„Äh, nein.“
„Wie viel fehlt?“
„Drei Zehen“, antwortete Telos zerknirscht. „Die drei kleineren.“
„Das ist alles?“ Chara atmete erleichtert aus. „Ich dachte schon, mir fehlt der halbe Fuß, was mich zu einem Krüppel gemacht hätte!“
Telos lächelte schwach. „Vermutlich hatte die Echse gerade gefressen“, sagte er. „Oder wir waren bei unserer Suche schon in unmittelbarer Nähe, ohne uns dessen bewusst zu sein, und haben das Tier mit unseren Fackeln vertrieben, bevor es sein Mahl zu Ende führen konnte. Andernfalls hätte es zweifelsohne auch den Rest von dir verschlungen.“
„Glück für mich“, meinte Chara und zog ihre schmale Nase kraus.
„Die Wunden müssten weitgehend geheilt sein“, erklärte Telos weiter. „Ebenso deine Knochenbrüche, die der Schiffsarzt vorbildhaft eingerichtet und geschient hat.“ Er deutete auf den Verband an ihrem Bein. „Du kannst die Binden jederzeit abnehmen. Ich wollte nur sicher gehen, dass du den Fuß nicht unnötig bewegst, während du schläfst.“
Chara zeigte auf ihre Brust. „Und meine Rippen?“
„Auch sie sind wieder heil.“ Telos zögerte. „Agramon hat mir die Gunst gewährt, den Heilungsprozess zu beschleunigen.“
In ihren dunklen Augen erschien ein schwacher Glanz. Ihr Blick war wohlwollend, dankbar. Vorsichtig stand sie auf, wandte ihm den Rücken zu und löste den Verband um ihre Brust. Telos erhob sich und schritt zur Tür.
„Also, dann gehe ich jetzt besser.“
Chara ließ die Mullbinde fallen. „Nein, bleib noch hier.“
Überrascht hielt Telos inne. „Du willst dich bestimmt in Ruhe ankleiden.“
„Du kannst ja wegsehen“, antwortete Chara ungerührt, während sie nach dem schwarzen Hemd griff, das über der Bettlehne hing. „Ich muss dir noch eine andere Sache sagen.“
Telos wandte sich ihr wieder zu, just in dem Moment, als Chara sich mit offenem Hemd umdrehte. Erschrocken senkte er seinen Blick auf den Boden.
Ich hab nichts gesehen, redete er sich ein, während er angespannt seine Hände vor der Brust verschränkte und seine Augen auf Charas Füße heftete. Rein gar nichts!
Chara ließ sich wieder auf das Bett fallen, während sie die letzten Messingknöpfe durch die Schlaufen quetschte.
„Worum geht es?“
„Ich …“, Chara brach ab und hob ihren verletzten Fuß auf die Matratze, um auch diesen Verband abzunehmen. „Ich weiß nicht so recht, wie ich es erklären soll.“ Ungeduldig nestelte sie an dem Knoten, mit dessen Hilfe der Stoff am Holzgestell befestigt war. „Mann, ich hatte keine Ahnung, dass es mir so schwerfallen würde, darüber zu reden.“
Telos wurde neugierig. Er beobachtete Chara, die sich den Verband regelrecht vom Bein riss und dann krachend die hölzerne Schiene zerbrach, die ihr Thorn angelegt hatte, bevor sie diese in eine Ecke schleuderte.
„Ich habe geträumt“, begann sie und ihre Stimme wurde leise. „Oder auch nicht … ich weiß es nicht genau. Vermutlich war ich aufgrund meines Zustandes nicht bei Sinnen.“
„Was hast du gesehen?“, fragte Telos sofort.
„Gesehen ist das falsche Wort. Gespürt trifft es besser.“ Sie rieb sich angespannt die Augen. „Also“, versuchte sie eine neutrale Einleitung, „da waren zwei Eindrücke. Zuerst war da dieses Gewicht auf meinem Körper, das immer erdrückender wurde, begleitet von einer grausigen Dunkelheit. Es war, als würde mich jemand mit überdimensionalen Händen in den Boden drücken, zusammenquetschen, mir die Luft aus den Lungen pressen. Es ging alles sehr, sehr langsam. Zuerst fand ich es noch erträglich, doch dann wurde es schlimmer und schlimmer, bis ich dachte, der Erstickungstod wäre noch das Beste, was mir passieren könnte. Ich wollte sterben. Aber genau in dem Moment, als ich dachte, das war’s jetzt, änderte sich alles.“
Telos beugte sich noch weiter vor.
„Was genau änderte sich?“
„Alles, was ich danach erlebte, war das genaue Gegenteil dieser erdrückenden Schwere und Dunkelheit. Plötzlich wurde es hell. Plötzlich verschwand die Last auf meinem Körper und mir wurde leicht zumute. Es fühlte sich an, als würde jemand meine Muskeln und Glieder lockern, mich auf zärtliche Weise …“ Chara machte eine wegwerfende Handbewegung. „… na, du weißt schon.“
Er nickte verstehend. Das Wort zärtlich auch nur auszusprechen, war für Chara eine Tortur.
„Jedenfalls hatte ich ein Hochgefühl dabei, von dem ich nicht einmal wusste, dass es so etwas gibt. Ich fühlte mich gerettet – wenn man das so sagen kann.“
„Und dann?“
„Dann fing alles wieder von vorne an. Es wurde dunkel und die Schwere kam zurück. Wieder dachte ich, es würde mich zerquetschen, und wieder hoffte ich darauf, dass der Tod mich endlich zu sich holt. Und dann, als ich es nicht mehr ertragen konnte, kehrte das Licht zurück und mir wurde leicht ums Herz.
Das Ganze ging ewig so dahin – zumindest erschien es mir wie eine Ewigkeit – und ich dachte nur noch, dass hier irgendjemand ein grausames Spiel mit mir treibt und dass ich machtlos dagegen bin.“
Chara blies sich eine ihrer schwarzen Strähnen aus dem Gesicht. „Tja, und dann hörte ich deine Stimme.“
Telos Augen wurden schmäler. „Ja?“
„Und damit endete das widerwärtige Schauspiel. Das nächste, an das ich mich erinnern kann, ist der Moment, als ich hier erwachte. Ich erzähle dir das nicht, weil ich denke, dass es dafür eine plausible Erklärung gibt, Telos! Es ist nur … In mir drin … Ich bin mir absolut sicher, dass dies keine Folge des Gifts war, das diese Echse in mir hinterlassen hat. Es war eine Erfahrung, die etwas mit mir und nur mit mir zu tun hat. Ich dachte nur, vielleicht hast du bei deinen Seelsorgen mal eine ähnliche Erfahrung zu hören bekommen.“
Einen winzigen Augenblick machte Chara den Eindruck, noch etwas hinzufügen zu wollen, doch es kam nichts. Telos lehnte sich zurück und betrachtete sie grübelnd. Äußerlich wirkte er, wie er wusste, ruhig und klar. In seinem Kopf aber fand ein regelrechter Krieg der Gedanken statt.
Da war die Chance, auf die er gewartet hatte – eine Gelegenheit, Chara mit dem Glauben an die Götter zu konfrontieren. Charas Erlebnis war exakt die eine Erfahrung, die sie gebraucht hatte, um die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Sie hatte dem Tod ins Auge geblickt. Nun, das war nichts Neues, aber darüber hinaus schien sie die Macht der Götter gespürt zu haben. Das war Agramons Zeichen. Was Chara erlebt hatte, war Agramons Werk. Und damit hatte sein Gott ihm, Telos, den Schlüssel in die Hand gegeben, um Chara zum Umdenken zu bewegen. Sein Gott hatte ihm den Weg zu einer Ungläubigen geebnet. Er hatte Chara fühlen gemacht, dass ihr Leben in den Händen der Götter lag und dass sie, falls sie sich dagegen auflehnte, in die Dunkelheit fallen würde.
Andererseits gab es vielleicht noch eine andere Erklärung für ihr seltsames Erlebnis. Das Gift in ihrem Körper … Delirium …
„Was denkst du, Priester?“
Telos fühlte sich dazu getrieben, Antworten zu geben. Und dass sie ihn gerade jetzt Priester nannte, zerstreute jeden Zweifel in ihm. Er würde sich auch so verhalten – wie ein Priester.
„Chara“, begann er sanft, „was du erlebt hast ist genau das, wovor ich dich gewarnt hatte.“
Charas Augenbrauen zogen sich über ihrer Nase zusammen. Skepsis spiegelte sich in den Falten wider, die sich um ihre Augen bildeten.
Telos atmete tief ein und wiederholte ihren Namen: „Chara …“
„Komm zum Punkt, Telos!“
„Also gut“, antwortete Telos in einem wesentlich sachlicheren Tonfall. „Was dir passiert ist, kann nur das Werk eines Gottes gewesen sein. Es war ein Gott, der auf deine Seele und Gedanken Zugriff nahm, genau genommen deutet deine Beschreibung auf das Werk Agramons hin. Er hat damit begonnen, deine von Unglauben, Zweifel und Zynismus zersetzten Gedanken zu ordnen und deine Gesinnung zurechtzurücken. Es waren seine Hände, die du gefühlt hast. Sie versuchten dich umzuformen. Sie zeigten dir die Dunkelheit und sie zeigten dir das Licht.“
Chara schlug die Augen zu und ließ sich mit dem Rücken an die Holzwand hinter ihrem Bett gleiten.
„Ich hätte es wissen müssen“, bemerkte sie ernüchtert. „Warum frage ich auch einen Priester, wenn es um unergründliche Phänomene geht? Eines, Telos, weiß ich ganz genau: Da war etwas Fremdes und etwas Vertrautes. Letzteres kam unmittelbar aus mir. Ersteres, naja, vielleicht war es, wie du sagst, ein Gott, vielleicht auch etwas anderes. Aber alles in allem war es nicht das Werk Agramons!“
Telos erhob sich und baute sich vor Charas Bett auf. „Meine Güte, Chara! Wann erkennst du endlich, dass die Götter auf diese Welt Einfluss nehmen und auf alle Seelen, die hier leben?! Auch auf deine! Die Frage ist nur, welchem Gott du dich unterwerfen willst! Dunkel oder Licht? Chaos oder Ordnung?“
„Da war eine Stimme in mir …“, unterbrach ihn Chara. „Und es war keinesfalls die Stimme deines Gottes. Sie drang aus mir, sie war aus meinen Gedanken gemacht! Ich werde mich niemandem unterwerfen, abgesehen von meinem Auftraggeber und schon gar nicht einem Wesen, dessen Existenz zwar laut Meinung aller unanzweifelbar ist, das sich mir aber nicht zu erkennen gibt und von dem ich bislang nicht das Geringste an Leistung zu sehen bekommen habe! Also spar dir deinen Eifer für die kindlichen Gemüter dieser Welt, die sich lieber einer Macht beugen, von der sie nichts wissen, als einer Macht, die als solche erkennbar ist.“
Telos’ Ruhe war wie weggeblasen. Jetzt war es der Zorn des Kriegspriesters, der ihn wie aus dem Nichts heraus überfiel und plötzlich war er bereit, für seinen Gott über Leichen zu gehen. In diesem Augenblick erkannte Telos, dass er im Kampf gescheitert war und möglicherweise auch den nächsten verlieren würde. Aber mehr noch als sein Scheitern, brachte Telos die Blindheit zum Lodern, die Chara immer weiter in die Dunkelheit stieß, ohne dass er etwas daran ändern konnte. Er wollte nicht, dass Chara verloren war. Er war imstande, sie zu retten! Wenn sie das nur begreifen könnte! Dann wäre sie bereit zuzuhören. Dann hätte sie zumindest die Möglichkeit, Agramons Licht zu erkennen!
„Du wirst stolpern, Chara. Du wirst fallen und dann wird es zu spät für Agramon sein, dich wieder aufzurichten. Und ich spreche nicht nur von Agramon. Kein Gott wird dir dann noch seine Gnade erweisen. Die Götter werden dich allesamt mit Mißachtung strafen und das wäre noch ein Segen für jemanden wie dich!“
Er beugte sich über sie. Seine rechte Hand hatte sich zur Faust geballt, ohne dass er es registrierte. „Aber es ist deine Entscheidung. Es ist dein Weg nach unten. Wenn du ihn gehen willst, geh ihn! Doch vergiss eines nicht – wenn du erst in der Tiefe bist, dort, wo die Dunkelheit jedes Licht verschluckt, wirst du dir wünschen, dass dich jemand ins Licht zurückzieht. Und dann, Chara, bin ich nicht mehr hier!“
Chara rührte sich keinen Deut weit.
„Wenn es soweit ist, dann deshalb, weil ich es so wollte“, sagte sie leise. „Wenn es soweit ist, dann habe ich die Dunkelheit als das erkannt, was sie ist und festgestellt, dass ich erst im Dunkeln dort bin, wo ich sein soll. Und dann, Priester, wird niemand mehr in meiner Nähe sein.“
Telos spürte, wie sich eine nüchterne Kälte zwischen ihnen breitmachte, die er nicht akzeptieren konnte. Alles in ihm sträubte sich dagegen, jetzt zu gehen und aufzugeben. Seine Faust hatte sich gelöst. Der Zorn war fort. Was er jetzt noch fühlte war ein leises Verlangen danach, die Frau, die ihn aus diesen berechnenden Augen anstarrte, zu berühren. Nicht, weil er ein Mann war und Chara eine plötzliche und unerklärliche Wirkung auf ihn ausübte, sondern weil er die kalten Augen dazu bringen wollte, einen Funken Leben zu zeigen. Er hatte das untrügliche Verlangen, Charas Seele, auf welche Weise auch immer, in Bewegung zu versetzen. Doch er wusste, dass er dazu nicht fähig war.
Schwer atmend richtete er sich auf und der Bann brach. Auf dem Bett saß Chara – so wie er sie kannte – mit ihrer schmalen, geraden Nase und den so besonders gewölbten Lippen, den schwarzen Haaren und ihren ebenso schwarzen Augen, die zu ihm aufblickten. Jene Frau, die einfach nur Teil ihrer Gruppe war und im Dienste Al’Jebals für etwas kämpfte. Doch jetzt war sie mehr denn je auch eine Aufgabe, die Telos als Kriegspriester Agramons zu erfüllen hatte. Sie war die Herausforderung, der er sich stellen würde und am Ende würde er auch erfolgreich sein.
„Ruh dich aus“, war alles, was er sagte, bevor er zur Tür schritt.
Er spürte ihren Blick im Nacken und als sich die Tür hinter ihm schloss, registrierte er, dass seine Hände zitterten.