Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 2: Telos Malakin. Prüfung - J.H. Praßl - Страница 13
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Criochdag, 2. Trideade im Draugmond/318 nGF
Al’Jebal
„Über die frühe Lebensgeschichte von Al’Jebal ist nichts bekannt. Erste Erwähnungen eines Mannes mit dem Namen stammen aus dem Reich Hayam (Aschran). Ein gewisser Al’Jebal soll bereits 101 nGF die Oase Hadiy mit Hilfe von Orks beansprucht haben. Bis 129 nGF werden immer wieder Versuche des Reichs Hayam geschildert, die Oase Hadiy unter seine Kontrolle zu bringen. Diese Versuche scheiterten alle an den großen Scharen von Orks und den überlegenen Zauberkünsten eines gewissen Al’Jebal, der als alter Mann beschriben wird.
Erst 172 nGF wird der Name Al’Jebal wieder erwähnt, als er die kleine aschranische Küstenstadt Billus mit Hilfe von Orks und seiner Magie erobert. Dabei dürfte es sich allerdings um eine andere Person gehandelt haben, da der vom Reich Hayam erwähnte Al’Jebal mittlerweile über 130 Jahre hätte alt sein müssen.
Ab ca. 190 nGF tauchen immer wieder Assassinen, zuerst in Aschran und später auch im Valianischen Imperium, den Küstenstaaten und Chryseia auf, die angeblich von einem gewissen Al’Jebal ausgeschickt worden sein sollen. Ihre Aufträge reichten dabei von Mord über Diebstahl, Entführung, Erpressung und Spionage bis zu Botengängen. In vielen Fällen wurde besonders darauf geachtet, den Namen Al’Jebal zu hinterlassen. Durch die so verbreitete Furcht etablierte sich die Macht Al’Jebals in Aschran.
Erst im Jahr 335 nGF tritt Al’Jebal wieder selbst auf, als eine große Armee aus unterschiedlichen Truppenverbänden seine Festung Mon Asul in der Oase Hadiy angreift. Die Armee, angeblich unter der Führung von Thanatanen, bestand aus aschranischen, valianischen, ahanitischen und chryseischen Söldnern, unterstützt von Küstenstaatlern und verstärkt durch unzählige Zauberkundige. Trotz der großen zahlen- und kräftemäßigen Überlegenheit wurde diese Armee von Al’Jebal mit Hilfe seiner Orkscharen, seiner Assassinen und einer Truppe von todesmutigen Söldnern vernichtend geschlagen. Kurz danach wurden in halb Amalea unzählige einflussreiche Persönlichkeiten durch Attentate getötet. Die meisten dieser Attentate sollen von Assassinen Al’Jebals ausgeführt worden sein. Im Jahr 336 nGF erobert der in Al’Jebals Diensten stehende Admiral Herkul Polonius Schroeder mit nur sieben Schiffen die aschranische Stadt Baida Sulash im Handstreich, tötet den Piratenkönig und übernimmt damit im Namen Al’Jebals die Herrschaft über die Piraten auf den Inseln westlich vor Aschran. Mit dieser Piratenflotte kontrolliert Al’Jebal nun auch einen großen Teil des Meeres der Ruhe.
Viele aschranische und valianische Gelehrte nehmen an, dass Al’ebal nur eine Art Titel ist und sich dahinter im Laufe der rund 240 Jahre seines Wirkens eigentlich mehrere Personen verbergen. Begründet wird diese Annahme damit, dass es über diesen langen Zeitraum kaum Beschreibungen über sein Aussehen und sein Auftreten gibt sowie dass kein Mensch auch mittels Magie so lange lebt. Andererseits gibt es Gerüchte, dass es sich bei Al’Jebal um keinen Menschen handeln soll.“
(Abschrift aus einem Geschichtsbuch der Bibliothek in Kresopolis)
Chara klappte ihr kleines, schwarzes Buch zusammen und befestigte es an ihrem Gürtel. Sie wusste nicht, wie oft sie diesen Bericht über Al’Jebal bereits gelesen hatte. Jedes Mal, wenn sie über diese Zeilen flog, hoffte sie, sie würden ihr eine Antwort darauf geben, wer Al’Jebal war und warum er eine derartige Wirkung auf sie ausübte. Ein leerer Wahn!
Seufzend erhob sie sich von dem moosbewachsenen Baumstumpf, auf dem sie kurz Rast gemacht hatte, wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah sich um. Es war eine Sache, genießbare Pflanzen und Getier aufzuspüren, doch eine andere, sich in dem dichten Gewirr aus Ästen und Blättern zurechtzufinden, die das Licht stellenweise zur Gänze abschirmten. In den Städten fand sich Chara zurecht – egal wie verwinkelt, dicht und unüberschaubar das Gassengewirr war. Doch hier, tief inmitten dieser sonderbaren Vegetation fühlte sie sich restlos überfordert.
Die Natur hatte ihre eigenen Gesetze. Egal wie mächtig die intelligenten Lebensformen Amaleas auch waren, sie waren ihren Kräften schon immer unterlegen gewesen, ja bisweilen hoffnungslos ausgeliefert.
Während Chara da stand und wartete, entschied sie, dass sie die natürliche Umgebung nur sehr bedingt schätzte.
Sie hatten zusammen mit der Besatzung der Aphrodia den Tag zur Jagd und zum Sammeln von Vorräten und Wasser genutzt. Bereits am späten Nachmittag waren die Wasservorräte aufgestockt und eine beträchtliche Menge an Fleisch, genießbaren Früchten und Kräutern an Bord gebracht worden. Während der Schiffsarzt alle Hände voll damit zu tun hatte, sich um jene Matrosen zu kümmern, die bei der Suche nach essbaren Früchten etwas vorschnell gewesen waren und in das falsche Obst gebissen hatten und Telos sich um die Seelsorge kümmerte, hatte sich Thorn hingebungsvoll der Jagd gewidmet. Chara war nichts anderes übrig geblieben, als sich daran zu beteiligen. Nicht etwa, weil ihre Unterstützung nötig gewesen wäre, sondern weil sie unter allen Umständen der Langeweile an Bord der Aphrodia entgehen wollte, die ihr auf See ohnehin nicht erspart blieb. Sie war zusammen mit Thorn losgezogen und hatte sich irgendwann auf die Spur der kleinen, pelzigen Tiere begeben, die sie an behaarte Kinder mit hässlich runzligen Gesichtern erinnerten, und die sie da und dort im Dickicht erspäht hatten. Dabei hatte sie sich allmählich von dem Waldläufer entfernt.
Die Sonnenstrahlen brachen flach und ohne Kraft durch die unendliche Flut von Bäumen. Die Nacht wartete geduldig darauf, Dunkelheit über das grüne Blätterdach zu stülpen und das sirrende, schwirrende, kriechende und schleichende Leben in einen tiefen, stillen Schlaf zu zwingen. Chara hatte sich auf der Suche nach den fremdartigen Tieren vergessen. Sie befürchtete, sich zu weit von der Lichtung entfernt zu haben, von wo aus sie die Spur aufgenommen hatte. Vor ihr reihte sich ein Baum an den anderen. Die Stämme verflochten sich mit den Schlingund Kletterpflanzen zu einem undurchsichtigen Gewirr aus braunen und grünen Fasern und Flecken.
Ein Blick zurück offenbarte ihr exakt das gleiche Bild. Wo sie auch hinsah, es wirkte alles ganz und gar homogen. Da gab es keinen Orientierungspunkt, wie sie es aus den Städten kannte – eine eigentümlich gestaltete Fassade, eine schräg einfallende Gasse, eine schmaler werdende Häuserflucht … Hier sah ein Baum wie der andere aus.
Chara biss sich auf die Lippen und ließ ihre Augen noch einmal in alle Richtungen wandern. Umsonst! Sie hatte keine Vorstellung davon, wo sie hergekommen war und wo sich die Lichtung oder der Strand befanden.
„Keine Panik“, flüsterte sie in die langsam verstummende Welt aus Pflanzen und Tieren. „Alles kein Problem. Wir suchen uns einen geeigneten Baum zum Klettern und orientieren uns am Sonnenstand.“
Mit wenigen Griffen hatte sie sich ihres Mantels entledigt und ging vor einem breiten, glatten Stamm in die Knie. Ihre kräftigen Beine schleuderten sie hoch genug, um den ersten Ast des Baumes zu greifen. Eine Weile blieb sie schaukelnd hängen. Dann zog sie sich hoch, bis ihr Kinn über den Ast hinausragte und schwang ihre Beine von unten nach oben, sodass sie schließlich mit dem Bauch zuerst landete. Schnaufend stemmte sie sich hoch, balancierte über den Ast bis zum Stamm, wo sie sich festhielt und nach oben stierte. Zufrieden stellte sie fest, dass die Distanz zwischen den weiteren Ästen klein genug war, um sich einfach weiter hangeln zu können.
Das Klettern beruhigte sie. Es fühlte sich gut an, die Muskeln in Armen und Beinen zu spüren – den sanften Wind in den Haaren und auf der Haut. Es war ein befreiender Gedanke, dem dichten Gestrüpp auf dem Boden zu entkommen und sich in den offenen Himmel aufzuschwingen, wo sich nichts ihrem Blick in den Weg stellte. Außerdem war sie hier alleine. Noch ein Umstand, der ihr gefiel. In letzter Zeit gab es viel zu wenige Augenblicke, in denen sie sich ungestört wähnte und das würde sich so schnell nicht ändern.
Charas Augen maßen den restlichen Abstand bis zum Baumwipfel. Breitbeinig schob sie sich den dicken Ast entlang, auf dem sie stand, um das Geäst über sich zu erreichen. Es kostete sie kaum Kraft, sich daran hochzustemmen. Zwei Sprünge noch, dann einmal hochgezogen und jetzt … Chara erschrak. Ihr linker Fuß rutschte ab und stieg ins Leere. Ihr Körper wankte einmal, ihre Arme begannen zu rudern und sie fiel.
Panisch griff sie nach dem Ast, von dem sie abgerutscht war und bekam ihn auch zu fassen. Doch irgendein glitschiges Etwas verhinderte, dass ihre Hand Halt fand. Einen verschwindenden Augenblick lang erschien es ihr, als würde sie in der Luft erstarren. Dann wurde ihr Körper endgültig von der Schwerkraft gepackt und nach unten gerissen. Chara spürte, wie ihr Herz aussetzte, wie plötzlich alles um sie an Schärfe gewann, als ob ihr Blick von einer Art Schleier verhangen gewesen war, der das Auge trübte. Obwohl ihr bewusst war, dass alles rasend schnell ging, hatte sie das Gefühl, als würde die Zeit kriechen. Sie nahm alles um sich herum wahr – jeden Zweig, der unter dem Gewicht ihres Körpers zerbrach, jeden Ast, der nicht brechen wollte und stattdessen hart und brutal gegen ihre Brust prallte, ihren Bauch, ihre Beine – der sie im Fall bremste, drehte und weiter fallen ließ. Rudernd kämpfte sie darum, irgendwo Halt zu finden und den Sturz abzufangen, doch keiner der Äste war dort, wo er hätte sein sollen. Dann ging plötzlich alles ganz schnell. Sie sah entsetzt, wie der Boden auf sie zuraste. Ein dumpfer Schlag folgte, ein betäubender Schmerz und dann … Stille.
Chara stieß die Luft aus. Ein ersticktes Gurgeln drang aus ihrer Kehle. Krampfhaft versuchte sie einzuatmen, doch ihre Lunge sperrte sich. Bunte Farben tanzten vor ihren Augen – ein pfeifender Laut drang durch ihren Kopf, bis sie dachte, sie würde ohnmächtig werden. Doch schließlich brach ein Keuchen die Barriere, die sich zwischen ihre Luftröhre und ihre Lunge gelegt hatte und sie sog panisch Luft ein. Ein stechender Schmerz folgte, der von ihrer Brust aus durch den Körper jagte und ihr die Tränen in die Augen trieb. Chara presste ihre Hand gegen den Brustkorb, an die Stelle knapp unter ihrem Herzen.
„Verflucht“, keuchte sie und versuchte krampfhaft, ihren Atem zu beruhigen. „Scheiße, verdammt!“ Mit geschlossenen Augen kämpfte sie um ihre Beherrschung. Erst nach einer Weile ließ das Stechen allmählich nach.
Gut, alles Bestens. Ich werde ganz langsam aufstehen und einen Weg aus dieser beschissenen grünen Hölle finden.
Als sie sich, den Kragen ihres auf dem Boden liegenden Mantels greifend, aufrichtete, ließ sie der Schmerz fast in die Bewusstlosigkeit kippen. Erst jetzt realisierte Chara, dass nicht nur ihre Rippen gebrochen waren, sondern auch ihr rechtes Fußgelenk. Schweißperlen traten ihr auf die Stirn, als sie mit dem Fuß auf dem Boden auftrat. Ihre Linke, die sie fest gegen die stechende Brust drückte, zitterte so heftig, dass die Vibration durch den ganzen Oberkörper ging und das Stechen unterhalb ihres Herzens verschlimmerte. Keuchend lehnte sie sich gegen den Baum und schloss die Augen.
Komm schon, Chara, reiß dich zusammen! Geh jetzt! Los doch!
Doch ihre Beine wollten nicht gehorchen.
Los jetzt – beweg dich!
Endlich folgte ihr Körper ihren Befehlen. Mit zusammengebissenen Zähnen schob sie sich vom Baumstamm weg und tat einen zittrigen Schritt. Ein reißendes Stechen in der Brust und ein heftiges Pochen im Sprunggelenk war die Strafe, die auf dem Fuß folgte. Chara atmete pfeifend ein. Verbissen versuchte sie, auf einem Bein zu stehen, um das gebrochene zu entlasten, doch auf dem unsteten Waldboden konnte sie das Gleichgewicht nicht halten. Ihr Fuß musste zurück auf die Erde, was erneut ein grässliches Pochen durch ihr Bein jagte.
Sie gab sich die Zeit, sich zu sammeln. Schließlich hob sie den Kopf und griff nach einem dicken Ast, den sie im Sturz mitgerissen hatte und der nun am Baumstamm lehnte. Sie klemmte ihn unter die rechte Achsel.
Ausatmen, einatmen und weiter! Wieder tat sie einen Schritt – diesmal verlagerte sie ihr Gewicht auf die provisorische Krücke, doch ganz konnte sie den gebrochenen Fuß nicht entlasten. Erneut musste sie anhalten und darauf warten, dass die Schmerzen nachließen und sie Luft holen konnte. Chara hörte nicht damit auf, ihrem Körper zu befehlen und ihren Willen anzustacheln. Ein paar gebrochene Rippen – das hält sogar Thorn aus!
So schleppte sie sich mühsam voran, tat einen Schritt nach dem anderen, hielt inne, holte Luft und stolperte weiter. Der tückische Waldboden ließ sie mehrmals fast stürzen, doch sie blieb aufrecht und kämpfte sich entschlossen durch das Unterholz. Dabei hoffte sie inständig, dass die Intuition ihr den richtigen Weg wies. Entweder führte sie diese zum Strand zurück oder sie war hier in diesem endlosen, dunklen Pflanzenmeer verloren.
Mittlerweile war die Nacht über dem Wald hereingebrochen und die Finsternis unterhalb der Baumkronen nahm Chara beinahe gänzlich die Sicht.
***
Telos sah zur Seite und erblickte den kleinen Lichtschimmer der Fackel seines rechten Mannes zwischen den schwarzen Baumstämmen und dem wirren, dunklen Geäst.
„Telos meldet ‚Nichts gefunden‘!“, rief er ins Gestrüpp.
Eine Weile herrschte Stille.
„Thorn Gandir meldet dasselbe!“, kam es schließlich von einem der Piraten.
Müde ließ Telos seine Fackel sinken und blieb stehen. Es hatte keinen Sinn weiterzusuchen. Seit Stunden bewegten sie sich jetzt mit knapp dreißig Mann in einer Kette parallel zu Strand und Lichtung durch das Dickicht, doch von Chara keine Spur. Vielleicht war sie auf der anderen Seite der Lichtung noch tiefer im Dschungel verloren gegangen oder was auch immer. Jedenfalls gingen die Fackeln zur Neige und sie mussten zum Strand zurück.
„Bald keine Fackeln mehr! Alle Mann zurück zum Strand!“, meldete Telos lautstark.
Als er schließlich auf den weißen Sand hinaustrat, dessen Körner im Licht des Mondes wie winzige Diamanten glitzerten, erblickte er Thorn, der sich mit Barghs Hilfe bereits erfolglos darum bemühte, ein Lagerfeuer in Gang zu bringen. Osmosis saß schweigend daneben und rieb das Axtblatt ihrer Waffe hingebungsvoll mit Öl ein.
Mit einem seltsamen Gefühl der Sorge schlenderte Telos auf die drei zu. Er spürte, dass Charas Verschwinden ihn tiefer traf, als er es erwartet hatte. Zwar war sie ohne jeden Zweifel ein Mitglied der Gruppe, das die Harmonie störte, und Thorn wäre womöglich froh, wenn er sie los wäre – er selbst sah sich wiederum in einem selten erlebten Gefühlschaos gefangen, das von Angst über Zorn bis hin zu regelrechten Schmerzen führte. Ihm fiel plötzlich ein, dass Chara nie, kein einziges Mal auch nur den Hauch von Missfallen oder gar Ablehnung angesichts seiner Unansehnlichkeit gezeigt hatte. Es war, als würde sie Äußerlichkeiten gar nicht erst zur Kenntnis nehmen oder als hätten sie für Chara nicht die geringste Bedeutung.
Was würde ihre Abwesenheit in ihm auslösen? Er wusste es nicht. Noch war er zuversichtlich, dass sie Chara finden würden.
„Wie werden wir weiter vorgehen?“, fragte Thorn, als Telos sich neben ihm in den Sand setzte.
Telos überging seine Frage und wandte sich stattdessen der Priesterin zu. „Du hättest dich an der Suche nach Chara beteiligen können“, meinte er ruhig. „Wieso hast du es unterlassen?“
Osmosis schob trotzig ihre Unterlippe vor. „Wozu? Sie ist die Meuchelmörderin eines Chaosanhängers.“
Telos schüttelte verständnislos den Kopf. Aber was hatte er von Osmosis anderes erwartet? Sie war genauso, wie er vor einigen Jahren noch war, als er in den geweihten Hallen der Agramontempel Chryseias seines Amtes waltete – überzeugt von allem, was die Priesterschaft einem irgendwann einmal eingebläut hatte.
„Also, was machen wir jetz’?“, wiederholte Bargh Thorns Frage.
Plötzlich spürte Telos heißen Zorn in sich aufflammen. „Dieses Weib treibt mich noch in den Wahnsinn! Haut einfach ab und kommt nicht zurück!“, fluchte er vor sich hin, während er Thorn dabei zusah, wie er mit Feuerstein und Zunder eine Flamme zustande brachte, die sich knisternd ins trockene Laub fraß.
„So sind Frauen nun mal“, erwiderte Thorn. „Denken, sie könnten sich alleine durchschlagen, haben aber keine Ahnung vom Tuten und Blasen.“
Der Zorn verpuffte so schnell er gekommen war. Wider Erwarten musste Telos grinsen. „Ganz recht, ganz recht“, stimmte er zu und registrierte, wie sich seine Gedanken in Bereiche verirrten, die er schon fast vergessen hatte. Bilder von nackter Haut, weichen Rundungen, sinnlichen Lippen, die drängend seinen Körper erkundeten, schoben sich vor sein inneres Auge. Dann wurde er gewahr, wie Bargh in den schwachen Flammen zu stochern begann.
„Wirst du wohl deinen Ast da herausnehmen!“, fuhr Telos ihn an. „Thorn hat eine ganze Weile dafür gebraucht, das Laub zum Brennen zu bringen!“
Bargh kicherte leise. „Schätze, Thorn braucht generell länger, um irgendwas zum Brennen zu bringen, was? Und mein Ast geht dich überhaupt nichts an!“
„Denk nur nicht, dass ich nicht wüsste, wie man eine Frau zum Lodern bringt“, gab Thorn kühl zurück. „Es ist nur schon eine ganze Weile her.“
Bargh hob entschuldigend die Hände. „’Türlich. Ich wollt dir auch nich’ zu nahe treten. Langsam find’ ich’s ja selbst zum Heulen! Keine Frau im Umkreis von …“
Ein energisches Hüsteln von Osmosis übertönte das Ende des Satzes, doch Bargh reagierte nicht darauf.
„Wie läuft das eigentlich so bei euch Priestern?“, wandte er sich Telos zu.
„Was meine Brüder angeht, so kann ich nicht sagen, wie sie diese Angelegenheit handhaben“, gab Telos freizügig Auskunft. „Aber ich habe durchaus den einen oder anderen Gedanken an, nun ja … Ich frage mich jedenfalls wie du und Thorn, was man hier eigentlich tun muss, um eine anständige Frau zu finden.“
Osmosis hatte ihre Arbeit nun endgültig unterbrochen und ihr Blick blieb an Telos haften.
Bargh nickte bekümmert. „Ich weiß nich’, wie lange es her ist, dass ich das letzte Mal so richtig …“
„Schon gut“, unterbrach ihn Telos mit einem Kopfnicken Richtung Osmosis. Bargh reagierte mit einem Schulterzucken.
„Ja und? Vielleicht will sie ja auch mal wieder ordentlich …“ Er lächelte die Priesterin breit an. „Oder nich’?“
„Wenn ich das Bedürfnis verspüre, einem von euch näher als bis hierher zu kommen, werde ich es euch wissen lassen.“
„Sag ich doch“, brummte Bargh. „Keine willige Frau weit und breit! Ich hatte mal ’n Mädel, die war so willig …“
„Bargh!“, riefen Thorn und Telos synchron.
Bargh nahm den beiseitegelegten Ast und begann wieder in den Flammen zu stochern. „Bin ja schon ruhig“, brummte er beleidigt.
Thorn schüttelte den Kopf, breitete seinen Umhang aus und ließ sich auf den Rücken fallen. „Lassen wir das Thema Weiber. Bringt ohnehin nichts.“
Telos’ Blick glitt in die Ferne. Und mit der Stille überkam den Priester die Sorge, die er die ganze Zeit über zu verdrängen versucht hatte. Was war mit Chara geschehen?
***
Da war es wieder. Ein leises Rascheln nicht weit von dort, wo sie stand und vor Schmerzen keuchte. Irgendetwas schlich ihr hinterher, unsichtbar und bedrohlich wie die Beschwörungsformel einer todbringenden Magie. Eines der Tiere dieses vermaledeiten Waldes war ihr auf der Spur. Mal hörte sie ein Knacken, als würde ein Zweig brechen, mal ein Rascheln oder Kratzen. Wenn sie stehen blieb, wurde es still. So wie jetzt. Chara erstarrte und hörte in die Nacht hinein.
Das Tier musste angehalten haben. Vermutlich saß es irgendwo im Busch und verfolgte ihre Bewegungen aus berechnenden Augen. Warum wartete es, anstatt anzugreifen? Warum zeigte es sich nicht? Dann wüsste sie wenigstens, womit sie es zu tun hatte.
„Als ob das etwas ändern würde. Ich hätte dem Vieh nichts entgegenzusetzen.“ Es war nur ein leises Murmeln, doch der vertraute Klang ihrer Stimme half ein wenig gegen die klamme Unruhe, die sich in ihrem Inneren breitgemacht hatte.
„Ja, Chara, das hast du schön gemacht! Al’Jebal wird höchst angetan sein, wenn er irgendwann von den anderen erfährt, was für ein unwürdiges Ende es mit seiner Assassinin genommen hat. Er wird sich an Assef El’Chan wenden und sagen: Siehst du, Assef, ich hab’s dir ja gesagt! Die Assassinen des Bettlerkönigs sind zu rein gar nichts zu gebrauchen.“
Plötzlich musste Chara kichern, doch im nächsten Moment stöhnte sie vor Schmerz auf. Trotzdem konnte sie sich das Grinsen beim Gedanken daran, dass der mächtige Al’Jebal derart salopp mit seinem düsteren Vertrauten plauderte, nicht verkneifen. Da fügte sich der Bettlerkönig schon besser in dieses Bild.
Gut, ihr ehemaliger Auftraggeber hatte sich in Chryseia ebenso einen Namen gemacht wie Al’Jebal in Aschran, nur reichte sein Ruf nicht annähernd so weit über die Grenzen seiner Heimat hinaus wie der des Alten vom Berg. Chara hatte sich nie für die Macht ihres alten Meisters interessiert oder dafür, ob seine Überzeugungen und Pläne erstrebenswert waren. Allerdings war die Treue eines Assassinen seinem Herrn gegenüber von einem gewissen Fanatismus abhängig, der genährt werden wollte. Darüber war sie sich durchaus im Klaren, auch darüber, dass die Ausstrahlung des Meisters eine Rolle spielte. Al’Jebal hatte ihr etwas gegeben, das ihr der Bettlerkönig nie hatte geben können – das Bedürfnis nach absoluter Hin- und Selbstaufgabe und den Willen, für die Ziele des Meisters über Leichen zu gehen. Der von bloßem Pragmatismus angetriebene Gehorsam dem Bettlerkönig gegenüber war dem Gefühl gewichen, hier und nur hier am richtigen Ort zu sein – bei Al’Jebal.
Chara hatte gern in der Stadt des Bettlerkönigs gelebt, weil sie ein heimliches Faible für die alten Legenden um das Zauberreich von Thanatos hatte und Kresopolis jene Stadt war, die noch die Zeichen dieser sagenumwobenen Zeit trug. Während ihrer Ausbildung musste Chara unter anderem die Wälzer zur Geschichte ihrer Heimat studieren und seither wusste sie, dass die uralte Stadt Kresupol die letzte von den Thanantanen gehaltene Stadt gewesen war. Sie war nach dem Zerfall des Zauberreichs durch die chryseischen Stadtstaaten als Kresopolis neu aufgebaut worden, bis sie von den Valiani endgültig zerstört und Jahrhunderte später zum Machtzentrum des Bettlerkönigs wurde. In ihren Gassen und an den ruinösen, zum Teil zur Gänze verfallenen Gebäuden schien noch der alte Geist der Thanatanen zu hängen und dem konnte Chara, warum auch immer, etwas abgewinnen. Mit dem Zerfall des Zauberreichs von Thanatos verloren die Thanatanen an Bedeutung. Den Legenden zufolge hatten sie sich auf der Insel Thanatos vom Rest der Menschheit abgeschottet. Warum, darüber gab es nur wilde Spekulationen.
Chara hatte weder für Politik noch für die Geschichte Amaleas irgendetwas übrig, aber ihr Interesse an diesem uralten Volk war aufgeflammt und geblieben. Leider gab es heute keine Möglichkeit mehr, an irgendein Wissen über die Thanatanen heranzukommen. Angeblich gab es nur noch in den Archiven von Than, also bei den Thanatanen selbst, Aufzeichnungen über diese besondere Rasse, die für ihre magische Begabung bekannt und gefürchtet war und einst große Teile Amaleas unter ihrer Kontrolle hatte. Irgendwann, wenn es ihre Pflichten erlaubten, würde sie in der Bibliothek der Assassinenhochburg nach Berichten über jene Zeit vor mehr als tausend Jahren suchen. Allerdings stand zu erwarten, dass ihre Suche ergebnislos bleiben würde.
Charas Gesicht und Haare waren nass vom Schweiß, den ihr die Anstrengung auf die Haut getrieben hatte. Eine permanente Übelkeit verursachte ihr immer wieder einen Brechreiz, den sie nur schwer in den Griff bekam. Trotzdem schleppte sie sich weiter durch diese schwarze Finsternis, in der sie sich im Endeffekt auf gut Glück orientierte. Langsam wurde ihr immer klarer, dass sie keine Aussicht auf Rettung hatte. Ihre Kraft war fast versiegt. Sie stolperte ziellos und blind durch eine phänomenale Wucherwelt, der sie rein gar nichts Hilfreiches entnehmen konnte. Dabei schaffte sie es kaum, sich aufrecht zu halten, geschweige denn, ein brauchbares Stück Weg zurückzulegen.
Dicht hinter sich hörte Chara erneut ein Geräusch. Diesmal klang es, als würden Zweige über einen nicht unbeträchtlichen Körper streichen. Chara schauderte. Trotzdem fühlte sie keine Angst, nur Abneigung. Unbekanntes verschaffte ihr eine Art Ekelgefühl – das war schon immer so.
Während sie schwer atmend stehen blieb und sich gegen einen Baumstamm stützte, fragte sie sich, wann sie, abgesehen von den Jahren ihrer Kindheit, je Angst gehabt hatte. Zunächst erinnerte sie sich an keine derartige Situation, doch dann fiel es ihr wieder ein. Das erste Mal, abgesehen von ihren Kindheitstagen, dass sie ein Gefühl der Angst verspürt hatte, war, als ihr bewusst wurde, dass sie Eigentum des Bettlerkönigs war und keine Aussicht darauf hatte, in Al’Jebals Besitz überzugehen. Sie hatte gedacht, Al’Jebal würde sie zurückschicken, doch stattdessen nahm er ihr diese Angst, indem er ihr klarmachte, dass sie von ihren Pflichten ihrem alten Herrn gegenüber entbunden war. Danach bemächtigte sich ihrer eine andere Angst – eine, deren Ursache sie nicht verstand. Sie erwachte jedes Mal aufs Neue, wenn ihr Al’Jebal gegenübertrat. Und diese Angst blieb.
Jetzt fühlte sie sich lediglich hilflos, am Rande ihrer körperlichen Kraft und das machte sie zornig.
Die unheilvolle Stille ignorierend stemmte sie ihre Krücke in den feuchten Boden und wollte einen neuen, qualvollen Schritt tun, doch da verfing sich ihr schmerzender Fuß in einer Schlingpflanze und Chara verlor das Gleichgewicht. Im nächsten Augenblick lag sie, sich in Krämpfen windend, auf dem Waldboden und presste ihre Faust gegen die stechende Brust. Ihr Atem ging stoßweise und nur mit Mühe konnte sie davon Abstand nehmen, den Zorn über ihre Schmerzen und ihre Hilflosigkeit laut in die Nacht zu brüllen.
Schließlich fiel die geballte Hand schlaff zur Seite und Chara atmete zitternd ein. Es war vorbei. Der Schmerz ließ nach, aber auch der letzte Rest ihrer Kraft war versiegt. Sie konnte nur noch hier liegen bleiben und darauf warten, in den Schlaf zu gleiten, der ihr Ende bedeutete. Die Bewohner dieser hässlichen Gegend würden sich über die leichte Beute freuen – ein zerschmetterter, aber noch lebender Körper, wohlschmeckend und keine Gefahr für das eigene Leben. Ein Fest für jedes Raubtier. Chara lächelte zynisch, ließ den Stock aus ihrer Hand rollen und zog sich ihren Mantel über Beine und Brust.
Da sah sie es: Zwei schmale, blassgelbe Augen, die nicht weit von ihr aus dem Dickicht blitzten. Chara starrte auf die beiden Lichter in der Dunkelheit, die nur einen Fußbreit über dem Boden zu schweben schienen. Eine Raubkatze war es nicht, so viel stand fest. Der Kopf war zu knapp über der Erde. Eine Schlange?
Die beiden Lichter kamen langam näher, pendelnd und begleitet von einem schlurfenden Tapsen. Keine Schlange!
Die unbekannte Kreatur trat aus dem Dickicht und näherte sich ihr. Abwartend musterte Chara den starrenden Blick, der kalt und berechnend auf ihrem bewegungsunfähigen Körper ruhte. Ein schwarzer, breiter Umriss zeichnete sich ab und ließ den Kopf des Tieres erahnen.
Chara sog scharf die Luft ein. Der Schädel war gewaltig und mittlerweile so nahe, dass Chara nur ihre Hand heben musste, um ihn zu berühren.
Nicht bewegen! Der Gedanke war hoffnungslos naiv. Trotzdem gab sie keinen Mucks von sich und blieb reglos liegen. Vielleicht zog es dieses Vieh ja vor, zuerst zu jagen und erst dann zu fressen. Doch die Tatsache, dass es sich bei dem schwarzen Schädel unmittelbar über Charas Brust um den Kopf eines Reptils handelte, ließ diese Möglichkeit lächerlich unwahrscheinlich erscheinen.
Chara schloss die Augen, als der zischelnde Atem der Riesenechse ihre Hand streifte, bevor ihr Kopf nach unten zu ihren Füßen glitt. Es folgte ein Ruck! Chara riss die Augen auf und schrie. Ein Zerren an ihrem rechten Fuß jagte einen teuflischen Schmerz durch ihr Bein. Es war als würden mehrere Dolchklingen gleichzeitig in ihr Fleisch eindringen und damit beginnen, ihre Glieder zu zerreißen.
Sie spürte, wie die kleinen Knochen ihrer Zehen brachen und das Fleisch rundherum in Fetzen gerissen wurde, spürte, wie Hitzewellen durch ihren Körper jagten und wie ihr Herz wie wild in ihrer Brust hämmerte. Hartnäckig kämpfte sie darum, bei Bewusstsein zu bleiben, doch wusste sie, dass sie die Ohnmacht nicht mehr lange hinauszögern konnte. Und sie hatte recht. Der Schmerz währte nicht lange. Ein Pfeifen erklang in ihren Ohren und Chara fiel in eine grausige Dunkelheit.
***
Es war noch vor Sonnenaufgang, als Telos wutschnaubend durch das Lager am Strand marschierte und die Matrosen mit gottlosen Flüchen dazu antrieb, endlich wach zu werden.
„Ihr nutzloses, faules Pack! Ihr … ihr Schläfer…“ – es wollte ihm kein attraktiveres Schimpfwort einfallen, aber davon ließ er sich nicht die Laune verderben. Mit seinen Füßen stieß er die Männer, die sich zum Teil noch im Tiefschlaf befanden, wach und hielt sie brüllend dazu an, endlich in die Gänge zu kommen.
„Eine von uns ist in Gefahr und ihr habt nichts Besseres im Sinn, als zu träumen! Agramon wird euch alle hämmern, für eure Ignoranz und eure Faulheit!“
Es dauerte nicht lange und alle waren auf den Beinen. Keiner wollte Telos’ unselige Laune noch weiter strapazieren und so verteilten sich an die dreißig halbnackte Männer über den Strand, die sich hastig ihre Hemden überwarfen und sich mit Fackeln bewaffneten.
„Denkst du, wir finden sie heute?“, fragte Thorn, als Telos zurück zur Feuerstelle kam und sich nach seinen Ledertaschen bückte.
„Ich weiß es nicht, Thorn“, antwortete er leise. Er war müde und seine Hoffnung, Chara zu finden, fast erloschen.
„Wenn wir sie heute nicht finden, müssen wir weiter“, erklärte Thorn hart.
Telos warf ihm einen kühlen Blick zu. War das Thorns Ernst? Telos wollte es nicht glauben. Bevor er nicht sicher war, dass Chara tot war, würde er auf keinen Fall aufgeben.
„Wir werden sehen.“ Er blickte über die bewegten Wipfel der Bäume, denen der Wind sanft die Richtung wies.
„Sie lebt noch …“, flüsterte er. „Ich denke, sie lebt noch.“
***
Dunkel, weich und formlos, drückend und schwer senkte sich der schwarze Schatten auf sie nieder, drang in sie ein, machte sich in ihrem Geist breit und hinderte sie daran, einen klaren Gedanken zu fassen. Es war, als würde sie etwas in den Boden drücken und ihr die Luft aus den Lungen pressen. Schwerer, zäher, erstickender wurde der Druck auf ihren Lungen. Lebte sie noch oder war sie schon tot?
Es wurde noch beengender, noch beklemmender. Wie eine Schlange wand sich etwas um ihren Körper, ihre Seele und zog sich langsam zusammen. Dumpf wummerte es in ihrem Kopf, als würde ihr Herz noch schlagen und Blut durch ihre Venen pumpen, doch das tat es nicht. Sie spürte nichts davon, keinen Herzschlag, kein Gefühl auf ihrer Haut, keine Schmerzen, nur diesen unsäglichen Druck auf ihrer Brust. Es wurde immer beengender, als säße sie in einem Kokon fest, der sich langsam aber unaufhaltsam zusammenzog.
Chara sah nichts, hörte nichts, spürte nichts, abgesehen von dieser Schwere, die sie auszulöschen drohte. Tiefe, schwarze Dunkelheit hatte sich um ihren Geist gelegt – ein grausiges, diffuses Nichts. Sie konnte dem Druck kaum noch standhalten. Sie war bereit aufzugeben. Sie wollte sterben, wollte vergessen – was sie war, was sie sein würde, was sie sein sollte.
„Lebe!“
Wild horchte sie in sich hinein. Ihre Gedanken begannen wieder zu arbeiten. Wo war die Stimme hergekommen? Sie hatte sie nie zuvor gehört, und doch war sie ihr vertrauter, als alle Stimmen der Welt.
Hier bin ich! Hilf mir!
Keine Reaktion.
Der Todeswunsch war verflogen. Chara begann darum zu kämpfen, sich aus der tiefen, schwarzen Dunkelheit zu ziehen. Doch der Vorhang wollte sich nicht heben und der Druck nahm nur noch weiter zu. Er war zu schwer, zu erstickend, zu tödlich …
„Lebe!“
Es war ihre eigene Stimme, die sie da hörte! Ihr eigener Befehl! Und doch war es, als würde eine Fremde sie anschreien, oder ein Fremder … ein Jemand oder ein Etwas, aber auf jeden Fall nichts, das sie kontrollieren konnte.
Ich bin hier!, schrie sie zurück.
„Lebe!“
Plötzlich fiel der Druck von ihr ab und ein heftiges Beben erschütterte ihren Körper … Es wurde hell. Sie spürte, wie die Dunkelheit wich und ihr leicht ums Herz wurde.
Jaaah … Das fühlt sich richtig an!
Eine fremde, sanfte Berührung, die zärtlich ihre Gedanken umschmeichelte … Wie reinigendes Licht.
„Atme!“, verlangte die Stimme in ihr.
Charas Gedanken begannen lebendig zu werden, ihre Haut begann zu schmerzen, ihr Herzschlag spürbar zu werden. Es war ein wohltuender Schmerz, das erste richtige Gefühl seit … Chara hatte keine Ahnung.
Heller und klarer wurde das Licht, das ihren Geist umtanzte. Chara ließ sich davon einlullen, ließ es in ihre Seele fließen, in ihren nüchternen Verstand.
Ich lebe!
Doch gerade als sie sich an diesen hoffnungsvollen Gedanken klammern wollte, kam die Schwere zurück, die hässliche, unnachgiebige Dunkelheit. Wieder spürte sie, wie ihr das Gewicht die Luft abschnürte und ihren Körper in den Boden drückte. Wieder rang sie um ihren Atem, kämpfte darum, sich aus der Dunkelheit zu ziehen, sich von der Last zu befreien, doch ohne Erfolg.
„Lebe!“, befahl die Stimme erneut.
Tief aus ihrem Inneren drang sie hervor. Ein fremder und doch so vertrauter Klang. Chara schrie, ohne dass der Schrei ihren Mund verließ.
„Wer auch immer du bist – hilf mir!!! Mach, dass es aufhört!!! Ich ertrage es nicht!!!“
„Lebe!“
„HOL MICH HIER RAUS!!!“
Das Licht kam zurück und mit ihm die zärtliche Berührung, die Leichtigkeit, das unsägliche Glücksgefühl, ein Gefühl, das ihr fremd war.
Gut, ja … besser, viel besser … Nimm mich! Hol mich ins Licht!
Das Glück war von kurzer Dauer. Die Dunkelheit schluckte das Licht und erneut fand sie sich unter dem schweren Gewicht, das sie zu zerquetschen drohte. Ein letztes Röcheln drang aus ihrer Kehle, ein letzter Gedanke bäumte sich auf, um dem Tod oder seinem Lakaien die Stirn zu bieten. Dann war der Gedanke fort und ihr Körper erschlaffte.
„Lebe!“
Der Ruf kam wie aus weiter Ferne. Charas Antwort war nicht mehr als ein letzter, schwacher Atemzug. Es ist vorbei …
„Thorn, wir haben sie! Sie ist hier!“
„Lebe!“
Es ist zu spät …
„Ich weiß nicht, lebt sie noch?“
Es ist zu spät …
„Lebe!“
„Da ist Blut! Verdammt, ich glaube, sie wurde von einem Tier angefallen!“
Vorbei …
„Lebe!“
„Die Hälfte ihrer Zehen ist abgerissen. Meine Güte, Chara, komm schon …“
Telos?
„Wach auf!“
„Ich glaube, sie lebt, Thorn! Ich kann ihren Puls kaum fühlen, aber er ist da!“
„Wach auf!“
„Bei Vana … sie hat jede Menge Schaum vor dem Mund!“
„Wach auf! Jetzt!!!“
Ein würgender Laut drang aus Charas Kehle und ihre Brust hob sich. Die blassen Lippen öffneten sich leicht und ein leises, zischendes Atmen wurde hörbar. Telos stieß die Luft aus und sank erleichtert auf seine Fersen. Zitternd legte er Chara die Hand auf die Brust und schloss die Augen.
„Sie lebt.“
Bargh, der Charas Stiefel in der Hand hielt und vor ihrem blutverschmierten Fuß kniete, stieß ein erleichtertes „Aye“ aus. Er schmetterte den zerfetzten Stiefel in den Wald und reichte Thorn das Verbandszeug aus seinem Rucksack. „Schaffst du das, Thorn?“, fragte er drängend. „Kannst du ihren Fuß in Ordnung bringen?“
Thorn hatte schon damit begonnen, die Wunde zu säubern.
Unterdessen wanderte Telos Hand behutsam über Charas Oberkörper und tastete nach weiteren Verletzungen.
„Zwei oder drei gebrochene Rippen“, kommentierte er seine Untersuchungen. „Und wir müssen sie so schnell wie möglich entgiften. Was auch immer sie angefallen hat, das Tier hat genug Gift in ihrem Blut hinterlassen, um ihr dauerhaften Schaden zuzufügen.“
Thorn, der gewissenhaft die Wunden an Charas Fuß verband, antwortete erst nach einer Weile: „Ich glaube, das rechte Fußgelenk ist auch gebrochen.“
Telos war bereits dabei, einen festen Verband um Charas Brust zu legen, während Bargh und zwei Matrosen damit beschäftigt waren, eine Trage zu bauen.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Chara transportfähig war. Thorn schiente ihr Bein, während sich Telos um ihren Oberkörper kümmerte. Ihr Zustand war besorgniserregend, aber ihr Atem ging regelmäßig. Immer wieder überzeugte sich Telos davon, dass die Assassinin noch lebte und stellte jedes Mal erleichtert fest, dass dem so war.
Schließlich hoben Bargh und Thorn Chara vorsichtig auf die Bahre und brachten sie an Bord der Aphrodia, wo sie in das Bett ihrer Kajüte verfrachtet wurde. Sofort ließ Telos nach dem Schiffsarzt rufen, der sich darum kümmerte, das Gift in Charas Körper zu neutralisieren. Als er fertig war, schickte Telos alle aus der Kajüte.
Er selbst ließ es sich nicht nehmen, in der darauffolgenden Nacht bei Chara zu bleiben. Also siedelte Osmosis vorübergehend in die Kabine des Expeditionsleiters über.
Und weil sich Charas Zustand am folgenden Tag nicht veränderte, blieb es vorerst bei der unüblichen Schlafeinteilung.