Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 2: Telos Malakin. Prüfung - J.H. Praßl - Страница 9

Оглавление

Auf See

Telos ließ seinen Finger über den in silbernen Lettern gehaltenen Titel des Buchs gleiten, das auf seinem Schreibtisch lag – Über die Götter. Es stammte aus der Bibliothek des Monoch-Tempels, den er in den letzten sieben Monden regelmäßig besucht hatte, während unter seiner Anleitung ein Tempel zu Ehren Agramons in Billus errichtet worden war.

Hohepriester …, echote sein neuer Titel durch seinen Kopf. Und hätte er diesen auf üblichem Wege erhalten, würde er sich vermutlich besser fühlen. Es war nicht so, dass er an seiner Entscheidung zweifelte. Sie war richtig und notwendig, und davon abgesehen hatte er sich von Agramon dazu berufen gefühlt. Er übte sein Amt nicht länger in der Obhut der Chryseischen Priesterschaften aus, sondern in Billus – allein und auf sich gestellt. Da war es durchaus rechtens, sich selbst zum Hohepriester zu ernennen, zumal er hier das Oberhaupt der Agramonpriesterschaft stellte und einer Eingebung Agramons folgte.

Er war nicht mehr der einzige Vertreter Agramons in Al’Jebals Gebiet. Er hatte missioniert und sich eine recht stattliche Gefolgschaft aufgebaut. Er hatte versucht, es dem Oberhohepriester mit dem klingenden Namen Freon Eisfaust gleichzutun, der schon seit geraumer Zeit zu Al’Jebals Leuten zählte. Leider hatte er den obersten Monoch-Priester nur ab und an zu Gesicht bekommen. Er war eine eindrucksvolle Gestalt und trug den Namen Eisfaust nicht umsonst. Die Haut seines linken Unterarms war bis zu seinen Fingerspitzen von eisblauer Farbe, und Telos zweifelte keinen Augenblick daran, dass er dies einem Wunder seines Gottes zu verdanken hatte. Eisfaust war ihm sympathisch. Er war eine respekteinflößende Erscheinung von knapper Freundlichkeit und unverblümter Direktheit. Dabei galt er als unerbittlicher Repräsentant Monochs. Telos wusste nicht viel über den Gott des Todes und des Eises, abgesehen davon, dass er selbstverständlich ein Gott der Ordnung war. Damit war Monoch neben Agramon die zweite Lichtgestalt göttlicher Macht, die Al’Jebals Einfluss auf Amalea zu begrüßen schien. Die Konklusio daraus war nicht allzu schwer zu finden: Al’Jebal war, wider allen Mythen und Legenden, unmöglich ein Chaosanhänger! Zumindest für Telos’ Dafürhalten. Umso bestätigter fühlte er sich in seiner Entscheidung, in Al’Jebals Gebiet einen Agramon-Kult zu begründen. Er hatte einige Veränderungen vornehmen müssen, bestimmte, zum Teil ohnehin längst überholte Gebete zu Gunsten des Verständnisses der Aschraner neu interpretiert, gewisse Riten umgestaltet. Er hatte einen Teil der Bevölkerung von Billus für sich gewinnen können und das war eine beachtliche Leistung. Dafür war es aber auch erforderlich gewesen, seinen Status aufzuwerten. Einem Oberpriester hätte man nicht den nötigen Respekt entgegengebracht. Mag sein, dass er damit ein Gesetz des chryseischen Pantheons gebrochen hatte, wonach nur ein höherer Priester das Recht hatte, einen ihm Unterstehenden einen Titel zu verleihen. Aber er war nicht in Chryseia und hier lagen die Dinge eben anders.

Jetzt, da Telos den schützenden Mauern seines Tempels entrissen worden war, dämmerte ihm allmählich, dass die Welt um ein Vieles facettenreicher war, als die Priester in ihren Unterrichtsstunden predigten. Die Theorie hinter den Göttern der Ordnung, ihrem Einfluss auf Amalea, ihrem einstigen Krieg gegen das Chaos erklärte nur oberflächlich, was sich in der Welt der Sterblichen tatsächlich im Laufe der zig Jahrhunderte, nein, Jahrtausende abgespielt hatte. Warum hatte man ihn nichts über das Dritte Dunkle Zeitalter gelehrt, als die Götter des Chaos auf dem Vormarsch waren und sich Amalea mit deren Armeen überzogen hatte, abgesehen davon, dass diese Zeit vorüber war und auf keinen Fall wiederkehren durfte? Warum hatte er kaum etwas darüber erfahren, wie die Welt das Chaos zurückschlagen konnte und wie es mit der Gründung von Fiorinde und der damit verbundenen heutigen Zeitrechnung zur ersten Befreiung kam? Warum hatte ihm niemand erklärt, wie man außerhalb des Tempels den Maßstab seiner Moral richtig ansetzte, dort, wo die Grenzen zwischen Gut und Böse auf einmal zu zerfließen schienen? Testaceus, die Al’Shejs, die Targar … keiner von ihnen huldigte dem Chaos, doch keinen von ihnen konnte Telos bedenkenlos als gut bezeichnen. Schön, es war auch keiner von ihnen ein Dämon, ein Nekromant, ein … welche Chaoskreatur auch immer, und keiner von ihnen würde sich einer solchen bedienen, wie es während der Chaoszeit geschehen war. Trotzdem, die Lehren der Priesterschaft des chryseischen Pantheons waren zu einfach, zu abstrakt, um die Realität adäquat wiedergeben zu können. Davon abgesehen vertrat selbst die chryseische Priesterschaft zum Teil fragwürdige moralische Werte. Seine Eltern hatten ihre liebe Mühe damit gehabt, Telos’ Aufnahme als Novizen durchzusetzen. Einer der Hohepriester des Pantheons hatte ihnen in aller Deutlichkeit zu verstehen gegeben, dass Telos’ äußeres Erscheinungsbild ein erhebliches Problem darstellte. Die Götter könnten ein solches Gesicht bei einem ihrer Diener als Beleidigung auffassen. Nur der oberste Agramonpriester hatte zugestimmt, ihn zunächst für zwei Probejahre aufzunehmen. Nach den beiden Jahren musste er, nur aufgrund seines Aussehens, eine zusätzliche Prüfung auf sich nehmen, ein Gottesurteil. Diese Schmach war ihm nicht erspart geblieben. Die Prüfung hatte er bestanden. Agramon hatte ihn für gut befunden. Danach gab es für die Priesterschaft keine Rechtfertigung mehr, ihm die Ausbildung zu verwehren und des Tempels zu verweisen.

Telos spürte, wie er lächelte, wie der Stolz, den Agramons Urteil in ihm ausgelöst hatte, auch jetzt noch Wirkung zeigte. Das Gottesurteil war, im Nachhinein betrachtet, ein Gewinn. Es hatte gezeigt, dass für Agramon nur die wahren Werte zählten.

In Al’Jebals Reihen spielte es keine Rolle, wie jemand aussah. Hier legte niemand einen Wert auf Äußerlichkeiten. Hier galt, wer man war, was man leistete, wofür man stand und kämpfte. So schwer es ihm auch fiel, Telos musste sich eingestehen, dass er sich hier wohl fühlte, besser sogar als in seiner Heimat. Ihm ging es bei allem, was er tat, ausschließlich darum, Agramon zu dienen. Wo er dies tat, war nicht von Bedeutung.

Seit er das erste Mal die heiligen Hallen des Agramontempels in Kroisos betreten hatte, wollte er ein Agramonpriester sein. Seine Kindheit war von unliebsamen Erinnerungen geprägt. Sein abnormes Aussehen und die Armut seiner Familie hatten ihn zum Außenseiter gemacht. Die anderen Kinder hänselten ihn mit Namen wie Orknase, Narbengesicht, Schwächling und ähnlich charmanten Titeln, an die er sich nicht mehr erinnern konnte oder wollte. Es kam nicht selten vor, dass er verprügelt oder mit Steinen beworfen wurde. Einige seiner heutigen Narben waren ihm als Erinnerung an damals geblieben. Irgendwann begann er die Menschen zu meiden und sich zu Hause zu verbarrikadieren. Als er die Ausbildung zum Agramonpriester antreten durfte, schienen all seine Wünsche in Erfüllung gegangen. Er studierte die Schriften der Priester und verlor sich in den Geschichten über göttliche Wunder und heroische Taten im Namen des Kriegsgottes. Nun, da er seinen eigenen Agramontempel errichtet hatte, schien sich seine Bestimmung zu erfüllen. In Billus würde er all das verkörpern, wofür ein Diener des Kriegsgottes stand – den Kampf für die Ordnung, ohne sich in einem Tempel zu verkriechen und Floskeln zu wälzen, und Führung für jene, die den Glauben verloren hatten.

Telos schob das Buch an den Rand des Tisches, sodass seine Kanten exakt mit jenen der Arbeitsfläche abschlossen, massierte seine Schläfen und streckte sich ächzend.

Wir folgen den Göttern, weil nur der Götter Weisheit die Wahrheit erkennt, waberte eine der ihm bekannten Floskeln durch seinen Kopf.

Agramon hatte ihm seinen Weg gewiesen. Und die Weisheit der Priester Chryseias konnte an die seines Gottes nicht heranreichen. Sein Gott war hier, bei ihm. Damit war alles gut, alles fraglos und klar.

Telos griff nach dem Agramonsymbol an der Kette um seinen Gürtel, stand auf und schritt zur Tür. Was auch immer diese Mission und seine Dienste für Al’Jebal bereithielten, Agramon war mit ihm und dies reichte aus, um sich seiner Sache sicher zu sein.

***

Die Aphrodia glitt sanft über die kaum bewegten dunklen Wasser. Ein Teil der Besatzung schlief bereits – jener, der um Mitternacht die Wache übernehmen sollte – während in Thorns Kabine noch die Öllampe brannte. Ihr warmer Schein fiel auf ein überdimensionales, ausgerolltes Pergament, das sich unter den sonnengegerbten Händen, die es vergebens glatt zu streifen versuchten, leicht wölbte.

Thorn beugte sich tiefer über die Karte und zeichnete mit akribischer Genauigkeit die Route ein, die sie während des Tages zurückgelegt hatten. Dicht hinter ihm stand mit verschränkten Armen Telos. Er wartete darauf, den angestrebten Kurs an den Kapitän weiterzugeben und konnte sich kaum zur Geduld ermahnen. Vor dem Zu-Bett-Gehen hatte er geplant, noch einen Spaziergang übers Deck zu machen und die kühle Abendluft zu genießen. Da war es nicht gerade hilfreich, dass Thorn eine, seiner Meinung nach, unangebrachte Sorgfalt an den Tag legte.

Als Thorn die Feder zur Seite legte, riss ihm Telos die Karte förmlich unter den Händen weg.

„Was ist?“, fragte Thorn irritiert.

Telos rollte das Pergament zusammen und streifte seine Toga glatt. „Tut mir leid. Ich bin müde und froh, wenn ich allmählich zu Bett komme.“

„Ich denke, ich schlafe heute an Deck“, gab Thorn zurück. „In der stickigen Kajüte halte ich es auf Dauer nicht aus. Und Bargh schnarcht so laut, dass sich die Balken biegen.“

„Ich erinnere mich.“ Telos dachte an ihre Gefangenschaft in den Kerkern der Festung zu Billus und musste trotz der zermürbenden Erinnerung lächeln.

„Wenn es wahr ist, was die Leute über Al’Jebal sagen und er tatsächlich ein Überbleibsel aus der Chaoszeit ist“, riss ihn Thorn aus seinen Gedanken, „dann sind wir zu Dienern der dunklen Mächte geworden.“ Er sah zögernd zu Telos. „Wie kann es sein, dass ein Priester der Ordnung wie du … Wie kannst du nur guten Gewissens für so jemanden arbeiten? Noch dazu, wo du keine Ahnung hast, was Al’Jebal für Pläne verfolgt!“

Telos musterte Thorn mit nachdenklichem Blick. „Die Zeit der Dunkelheit ist vorüber. Die Völker Amaleas sind im Begriff, die Welt von den letzten Chaosanhängern zu befreien und den Göttern der Ordnung zu neuer Macht zu verhelfen …, so steht es in den Geschichtsbüchern“, erwiderte er ruhig. „Agramon ist ein Gott der Ordnung und mit Al’Jebal im Bunde, Thorn. Al’Jebal wiederum gewährt mir, in seinem Gebiet Agramons Einfluss geltend zu machen. Es kann also nicht wahr sein, was die Leute über ihn sagen.“

„Er bedient sich der Hilfe von Orks und Assassinen …“

„Ich habe die Aura der Orks, die ich während meines Aufenthalts in Billus gesehen habe, überprüft.“

„Du bist in Billus einem Ork begegnet?“, fragte Thorn verblüfft.

„Einmal. Ich habe keine Dunkelheit in ihm erkannt, auch kein Licht. Er war … ich weiß es nicht. Vermutlich stehen Al’Jebals Orks irgendwo dazwischen. Aber sie sind keine Kreaturen des Chaos.“

Thorn zuckte die Schultern. „Es sind Orks, Telos“, bemerkte er abschätzig. „Jeder weiß, dass sie Chaoskreaturen sind.“

„Woran macht du diese Überzeugung fest? An ihrer äußeren Erscheinung? Macht sie etwa ihre Hässlichkeit zu Handlangern des Bösen?“ Telos lächelte traurig. „Der Mensch reagiert auf das, was offensichtlich ist, und weil er ein Augentier ist, setzt er das Hässliche mit dem Übel gleich. Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche.“

Thorn blickte in Telos’ vernarbtes Gesicht und plötzlich wurde Telos bewusst, dass Thorn ihn bewunderte, eine Tatsache, die Thorns ohnehin schon schwachem Selbstwert vermutlich nicht eben zugute kam.

„Al’Jebal hat uns keine Wahl gelassen“, sagte Thorn und schien sich dafür zu rechtfertigen, dass er hier war.

„Er hat nie behauptet, dass er uns töten lassen würde, wenn wir uns gegen ihn entscheiden“, gab Telos zu Bedenken. „Das ist lediglich eine Vermutung deinerseits.“

Thorn schnaubte auf. „Ich bitte dich Telos! Al’Jebal hatte ganz klar vor, diejenigen von uns hinzurichten, die den Treueschwur nicht leisten!“

„Nein. Er hat uns nur das Gefühl vermittelt, dass dem so wäre.“

Es stand Thorn so deutlich ins Gesicht geschrieben wie einem schmollenden Kleinkind: Er wollte unter keinen Umständen seine Meinung zu Al’Jebal überdenken oder gar anzweifeln, und diese Einstellung bekümmerte Telos.

Die Tür krachte auf und Chara betrat von Bargh gefolgt die Kajüte.

„Eure Manieren sind schlimmer als die von Huren und Bergarbeitern!“, stieß Thorn hervor.

„Bedauerlich, ja“, gab Chara ihm recht. „Aber Höflichkeiten ziehen alles unnötig in die Länge.“

„Würdet ihr mich entschuldigen?“, fragte Telos, klemmte sich die Karte unter den Arm und quetschte sich an Chara und Bargh vorbei. „Ich muss unseren Kurs an den Kapitän weitergeben.“

„Warte, Telos!“, hielt Thorn ihn zurück, während sich Bargh auf Thorns Bett fallen ließ und die Matratze testete, indem er lächelnd auf- und abwippte. „Quietscht“, stellte er kritisch fest. „Meins quietscht nicht.“

Thorn ignorierte ihn. „Ich möchte noch schnell eine Angelegenheit klären, die uns alle betrifft.“

Telos stöhnte auf, kehrte an den Tisch zurück und setzte sich auf den noch freien Stuhl. Seinen Abendspaziergang betrachtete er damit als hinfällig.

„Möchtest du dich nicht setzen, Chara?“, fragte Thorn.

Chara blickte zuerst auf Barghs und dann auf Thorns Bett. Schließlich schüttelte sie den Kopf und blieb stehen.

„Also gut.“ Thorn heftete seinen Blick auf Chara, die sich gegen den Türrahmen lehnte und ihn erwartungsvoll ansah. „Was weißt du über Al’Jebal?“

Telos horchte auf. Das Thema mit den anderen zu besprechen, insbesondere mit Chara, gefiel ihm nicht. Warum, war ihm selbst noch nicht ganz klar.

„Genauso viel wie du Thorn“, beharrte Chara ruhig.

„Du denkst doch nicht, dass ich dir das glaube. Der Bettlerkönig ist ein Verbündeter des Alten.“

„Wahr. Aber ich weiß über ihn ebensowenig wie über Al’Jebal.“

Thorn stieß ein Seufzen aus und das Quietschen der Matratze unter Bargh setzte erneut ein.

„Na gut, dann versuchen wir es anders. Warum bist du uns nach Aschran gefolgt? Der Bettlerkönig musste doch gewusst haben, dass das Zepter von Al’Jebals Männern gestohlen worden war und damit hätte ihm klar sein müssen, dass es sich auf dem Weg zu einem Verbündeten befand.“

„Mein damaliger Auftraggeber wusste nichts über die Zepterdiebe. Also schickte er mich der Insignie hinterher, um sie ihm zu bringen.“

Telos’ Blick wechselte zwischen Thorn und Chara und er spürte, wie er sich zusehends anspannte. Chara schien sich auf das Frage-Antwort-Spiel einzulassen. Blieb abzuwarten, wie lange.

„Wieso sollte ihm Al’Jebal den Diebstahl verschweigen?“

„Woher soll ich das wissen? Vielleicht schickte er zu spät eine Nachricht nach Kresopolis, vielleicht kam sie nie an, vielleicht war es ihm egal, dass sein Verbündeter einen seiner Leute opferte, um das Zepter zu finden …“

Quietsch, quietsch, quietsch, machte die Matratze unter Barghs Hintern.

„Vielleicht lassen wir dieses Thema und gehen zu Bett“, nahm Telos das Geräusch zum Anlass, sich einzumischen. „Es war ein langer Tag.“

„Nein, Telos!“, widersprach Thorn energisch. „Chara ist Al’Jebals Assassinin. Wer, wenn nicht sie, weiß über den Alten Bescheid? Immerhin hat sie sich dazu entschieden, ihrem bisherigen Auftraggeber zugunsten ihrer Dienste für Al’Jebal den Rücken zu kehren. Dieser Entscheidung muss doch etwas zugrundeliegen!“

„Ich fürchte, da unterliegst du einem Irrtum.“ Ein schiefes Lächeln legte einen ihrer weißen Eckzähne frei. „Ich hatte nie eine Wahl. Der Bettlerkönig reichte mich an Al’Jebal weiter. Es war ein Abkommen zwischen meinem ehemaligen und meinem neuen Meister. Nicht, dass ich ein Problem damit hätte. Al’Jebal ist ein Mann, der sich keiner wie auch immer gearteten Macht beugt. Das macht ihn in meinen Augen zu einem attraktiven Herrn.“

Um Thorns Mundwinkel ging ein alarmierendes Zucken.

„Das macht ihn für dich vielleicht auch noch auf eine andere Weise attraktiv, Chara.“

Das war es. Das war das, was Telos Beklemmungen verursacht hatte. Er hatte es kommen sehen.

Noch bevor er sich erheben konnte, hatte Chara die kleine Kabine durchkreuzt, Thorn am Kragen seines Hemdes gepackt und vom Stuhl hochgerissen. Im nächsten Augenblick erklang ein Krachen, das Barghs Gequietsche locker übertönte.

„Agramon verschone mich!“, stöhnte Telos und sprang auf die Beine. „Hat dir jemand den letzten Funken Verstand aus den Kopf geprügelt, Chara?!“

Chara reagierte nicht. Sie presste Thorn gegen die Außenwand der Kabine und hielt ihn eisern dort fest.

„Pass bloß auf, Waldbursche!“, zischte sie. „Wenn du seinen Namen noch einmal aussprichst, ohne dass du ihm dabei den Respekt zollst, der ihm gebührt, könnte diese Reise ziemlich unbequem für dich werden!“

„Alles auf Anfang“, mischte sich unerwartet Bargh ein und erhob sich quietschend von der Matratze. „Würde sagen, ihr zwei beiden habt ein kleines Problem miteinander. Hab’ gelernt, dass man so was am besten in einem netten kleinen Zweikampf bereinigt. Ist lustig und baut Agressionen ab.“

Ein plötzliches Grinsen zuckte um Charas Mundwinkel. Sie ließ Thorn, der völlig überrumpelt war, los, zupfte ihm sein Hemd glatt und trat einen Schritt zurück.

„Bargh hat recht“, sagte sie. „Du bist dran. Wenn du willst, schlag zu!“

Telos stieß ein resigniertes Seufzen aus, während Thorn nur allmählich seinen Zorn in den Griff bekam.

„Und was genau soll das bringen, abgesehen von einem heulenden Weib, das auf den Planken kriechend nach ihren ausgeschlagenen Zähnen sucht? Bist du betrunken, Chara?“

„Ich bin eingeraucht, aber nicht betrunken – Hatschmana. Komm schon, Thorn, hau mir eine rein! Wird dir gut tun und ich lerne vielleicht etwas daraus.“

Jetzt kam Leben in Thorns vereistes Gesicht. Ein Grinsen legte seine Zähne frei. Dann langte er ordentlich zu.

„Na, wie war das?“, fragte er fröhlich und beobachtete voller Genugtuung, wie sich Chara das Kinn rieb.

„Kräftiger Schlag“, gab sie anerkennend zurück.

„Soll ich noch mal?“

„Es reicht!“, sprach Telos ein Machtwort. „Wenn ihr euch unbedingt prügeln wollt, macht das an Deck, aber nicht in meiner Kajüte! Raus hier, und zwar alle!“

„Das ist meine Kajüte, Telos“, korrigierte Thorn ihn.

Telos verzog den Mund. „Ah … Natürlich! Ich gehe!“

Kaum war Telos draußen, nickte Chara zur Tür.

„Auf’s Hauptdeck!“, sagte sie und ging voraus.

„Wer als erster zu Boden geht, hat verloren“, bemerkte Thorn, sobald er und Bargh ihr gefolgt waren. Während er sich die Haare im Nacken zusammenband, lehnte sich Bargh in freudiger Erwartung gegen die Reling.

„Wette auf Chara!“, brüllte er und kurz darauf sammelten sich einige Piraten um das ungleiche Paar und begannen Wetten abzuschließen. Kupferlinge wurden gesammelt und in eine Schöpfkelle geworfen.

Thorns erster Schlag ging ins Leere. Chara wich mit einer knappen Drehung aus. Auch seinem nächsten Faustschlag, der auf ihre Nieren abzielte, entkam sie mit einer Drehung zurück. Und als Thorn versuchte, sie mit einem Tritt gegen die Kniekehle zu Fall zu bringen, sprang sie behände über sein Bein hinweg und landete geräuschlos auf den Holzplanken des Hauptdecks.

„Ist das alles?“, fragte sie gutgelaunt. „Du hast doch noch mehr zu bieten, oder nicht?“

Thorn kam langsam in Fahrt. Er spürte, wie sich seine Laune hob. Grinsend schob er sich seine Hemdärmel nach oben und ballte seine Hände zu Fäusten.

Chara beobachtete ihn wachsam.

Thorn deutete einen Schlag mit seiner rechten Faust an, ließ dann aber seine Linke nach vorne schnellen und verpasste Chara den zweiten Kinnhaken an diesem Abend. Doch als er erneut zuschlagen wollte, schmetterte sie seinen Schlag mit ihrer rechten Hand ab. Während seine Faust in ihrer Hand feststeckte, holte sie mit dem anderen Arm aus und schlug mit voller Wucht in Thorns Magen. Danach ließ sie ihn los und verpasste ihm einen Tritt gegen die Brust, dass er ein leichtes Knacken spürte. Röchelnd taumelte er zurück und fiel auf seinen Hintern.

„Vielen Dank für deinen Einsatz“, bemerkte Chara fröhlich. „Die Drogen scheinen meine Reaktionsfähigkeit nicht zu beeinträchtigen.“

Ein Grölen wurde laut und klimpernd leerte sich die Kelle, die Bargh in Händen hielt.

„Guter Kampf!“, gratulierte einer der Piraten. „Wenn ihr euch wieder mal die Fresse poliert, lasst es uns wissen! Das wollen wir auf keinen Fall verpassen!“ Damit zogen sie lachend ab.

Chara half Thorn auf die Beine.

„Hoffe, deine Rippen sind noch ganz“, sagte sie. Dann zog sie pfeifend von dannen. Noch bevor sich Thorn darüber klar werden konnte, wozu das Ganze eigentlich gut gewesen war, war sie unter Deck verschwunden.

„Närrisches Weib“, fluchte er leise. „Verfluchte selbstgerechte Assassinin …“ Seine Brust schmerzte von dem harten Tritt und sein Magen erholte sich nur allmählich.

Plötzlich musste er lachen.

„Hat Spaß gemacht, was?“, sagte Bargh munter und stieß sich von der Reling ab.

„Irgendwie schon“, gestand Thorn. Doch dann trat ihm Charas Profession und Gesinnung vor Augen und die Erheitung verpuffte schlagartig.

***

Als Thorn am nächsten Morgen in die Offiziersmesse schlenderte, entschied er für sich, dass Seefahrten alles andere als spannend waren. Jeder Tag glich dem Tag davor und sofern das Meer ruhig blieb, der Himmel blau, kein Land in Sicht war und auch keine ungewöhnlichen Meeresbewohner, hatte eine Reise zu Wasser nicht den geringsten Reiz. Warum Bargh das anders sah, war ihm ein Rätsel.

Unter den Piraten herrschte Missmut. Sie spielten sich gegenseitig alle möglichen Schauermärchen über die Einwohner der Kabugna-Inseln zu, wobei sich dieser Herne besonders hervor tat. Er erzählte, dass selbst die Heerscharen des Chaos während ihres Eroberungsfeldzugs die Inseln gemieden hätten. Andererseits betrachteten die Piraten die Eilande als eines Kampfes nicht wert. Was war dort schon zu holen, abgesehen von ein paar Muscheln und Perlen? Thorn war trotzdem nicht wohl in seiner Haut. Die Geschichten beunruhigten ihn, wenn man auch getrost die Hälfte davon als bloße Mär abtun konnte.

In der Messe fand er nur Chara vor, die in ihren üblichen schwarzen Leinenhosen und dem ebenso schwarzen Hemd auf einem der Stühle saß, einen Fuß auf der Sitzfläche. Mit der Linken schaufelte sie Haferbrei in sich hinein, während sie mit der anderen Hand in ein kleines schwarzes Buch kritzelte.

Thorn blieb am Tischende stehen. Sein Blick hing an dem Büchlein unter Charas Feder. Eine Erinnerung blitzte in seinem Kopf auf – eine Diskussion, die er mit Chara und Bargh in seinem Haus in Valianor geführt hatte. Sie hatte sich um den Inhalt dieses Buches gedreht. Chara war Thorns und Barghs Fragen darüber ausgewichen. Jetzt, da er Charas Vergangenheit über den Bettlerkönig kannte, ging ihm diesbezüglich ein Licht auf. Ihre Aufzeichnungen setzten sich mit ziemlicher Sicherheit aus den geheimen Daten zusammen, die sie über den damaligen Senatsvorsitzenden Antonius Virgil Testaceus, das valianische Militär, die valianische Regierung und schließlich über die Helden des valianischen Imperiums sammelte, kurz, über Rosmerta und ihn. In diesem Buch hielt Chara unter anderem seinen Werdegang fest – vom Helden des Imperiums zum Handlanger Al’Jebals. Aber was war es jetzt? Etwa die Schwachstellen innerhalb der Expeditionsgruppe?

Ruckartig setzte er sich und griff nach einer mit Brei gefüllten Schale. Chara hatte nicht einmal aufgesehen, als er den Raum betreten hatte, geschweige denn zur Kenntnis genommen, dass er sie anstarrte. Und auch jetzt unterbrach sie weder ihr Mahl noch ihre Aufzeichnungen.

Thorn fühlte die Bitterkeit wie Gift in sich hochkriechen. Gleichzeitig verstand er sich selbst nicht. Wieso nervte ihn Charas Heimlichtuerei derartig? Mit leerem Blick starrte er auf die Feder, die nicht zur Ruhe kommen wollte.

Die Tür schwang auf und Telos stiefelte in die Messe. Als er die Stille bemerkte, sah er argwöhnisch von einem zum anderen.

„Habt ihr euch wieder beruhigt?“, fragte er skeptisch.

Chara blätterte um und setzte ihre Schreibarbeit fort. „Sicher.“

„Also gut“, sagte Telos ohne Umschweife, „es wird Zeit, dass wir uns einen Überblick verschaffen. Eine kleine Besprechung wäre angebracht.“

Thorn nickte stumm und legte den Löffel zur Seite. Er hatte keinen Appetit. „Diese substanzlose Pampe ist nicht gerade das, was ich als genießbare Mahlzeit bezeichnen würde“, brummte er.

Telos spähte zu Chara.

„Könntest du die Feder kurz zur Seite legen? Wir müssen uns unterhalten.“

„Wenn Bargh hier ist, ist es doch früh genug“, murmelte sie geistesabwesend.

„Der kommt jeden Moment.“

„Und die Priesterin?“

„Auch sie wird an der Besprechung teilnehmen.“

Die Tür ging auf und Bargh stampfte in die Messe, gefolgt von Osmosis, die eine höchst ungesunde Gesichtsfarbe zur Schau trug. Sie genoss die Seefahrt offenbar ebenso wenig wie Thorn.

„Morgen“, brummte Bargh und setzte sich, nachdem er Osmosis den Stuhl neben sich angeboten hatte. Auch sie nahm Platz, doch es war für jeden ersichtlich, dass sie lieber woanders wäre. Ihre Miene war ausdruckslos und nur einen Hauch davon entfernt, ablehnend zu wirken.

Chara klappte geräuschvoll ihr Buch zusammen und Thorn erspähte die Zahl Fünf auf dem Buchrücken. Danach reinigte sie die Spitze ihrer Feder mit einem Tuch und ließ das Schreibzeug in ihren Gürteltaschen verschwinden.

„Gut“, begann Telos förmlich, „wir haben vor unserem Aufbruch in Billus ein paar Informationen erhalten:

Die Kabugna-Inseln, eine Inselgruppe im Süd-Osten und Osten Nahualeanacas, bestehen aus einer Vielzahl kleiner Inseln, die sich um drei größere Landmassen scharen. Der südwestliche Teil der Inselgruppe, also das Gebiet um die zweitgrößte Insel, nennt sich Huatla. Dieser Bereich ist für uns uninteressant. Alle anderen Inseln sind von Stammesvölkern besiedelt, die unter einfachsten Bedingungen leben und sich mit der Natur verbunden fühlen. Sie sind abergläubisch und vertrauen auf schamanistische Rituale. Wir sind nur an einem dieser Völker interessiert.“

„Den Goygoa“, murmelte Bargh, beugte sich über den Tisch und langte nach den Resten von Thorns Brei. „Und ich finde, es is’ nichts dagegen einzuwenden, wenn man an Schmanismus glaubt.“

Telos sagte nichts dazu und fuhr fort: „Die Goygoa besiedeln die nördlichsten Inseln. Wir wissen, dass die beiden Expeditionsgruppen, die vor uns aufbrachen, irgendwo in dieser Gegend verschwanden. Was wir sonst noch wissen, ist, dass dieses Volk mit den Machtausprägungen im restlichen Amalea nichts zu tun haben will und keinerlei Interesse daran haben wird, eine Geschäftsverbindung mit Al’Jebal einzugehen.“

„Das wird sich ändern“, brachte sich Chara ein.

„Nun ja, wir hoffen, dass wir ihr Interesse an einer solchen Verbindung wecken können“, entschärfte Telos die verborgene Drohung.

„Wie kommunizieren wir mit den Einheimischen?“, fragte Thorn und bemühte sich, Chara aus seinem Blickfeld zu verbannen.

„Leider haben wir diesbezüglich nur äußerst beschränkte Mittel.“ Telos entrollte zwei Bögen Pergament, die er mit einer Kordel an seinen Gürtel gebunden hatte und legte sie auf den Tisch. „Das ist alles, was wir über die Sprache der Goygoa oder der Inselbewohner allgemein wissen.“

Die anderen warfen einen kurzen Blick darauf. Sogar Osmosis ließ sich dazu hinreißen, sich vorzubeugen, um das Pergament kurz in Augenschein zu nehmen.

„Das ist nich’ gerade viel“, brachte Bargh die Meinung aller zum Ausdruck.

Thorn legte die Stirn in Falten. „Zwei Seiten mit Begriffen in einer uns völlig fremden Sprache?“

Rtlpfng“, korrigierte ihn Telos. „So nennt sich die Sprache der Inselbewohner.“

„Klingt vielversprechend“, warf Chara ein.

Thorn zog das Pergament zu sich heran und studierte es.

„Da werden wir nicht weit kommen“, urteilte er nach einer Weile. „So wie ich das sehe, sind viele Worte davon nicht besonders hilfreich. Um genau zu sein, sind die meisten für Verhandlungen völlig wertlos.“

Telos hob die Schultern. „Nun, das war alles, was Agem Ill an Information hatte.“

„Dann werden wir wohl damit auskommen müssen“, stellte Chara nüchtern klar.

„Genau“, bestätigte Bargh, wobei sein Ausdruck keinerlei Grund zur Annahme bot, er habe den letzten Teil des Gesprächs überhaupt mitbekommen. Sein Blick schweifte immer wieder zu Osmosis, deren aschfahles Gesicht eine leichte Röte angenommen hatte. Thorn verdrehte die Augen.

Telos hatte das Schriftstück zu sich herangezogen und brütete nun schwer über den fremdartigen Worten.

„Die Verhandlungen werden in der Tat ein Drahtseilakt“, murmelte er gedankenschwer.

„Was heißt denn Wir sind euer schlimmster Albtraum auf Prtpfing?“, fragte Chara mit einem verwegenen Lächeln.

„Auf Rtlpfng!“, korrigierte sie Telos und versuchte die richtigen Worte zu finden, „Ada … pfin khum … äh … kuhn …“ Plötzlich hob er den Kopf und starrte Chara zornig an. „Euer schlimmster Albtraum? – Es ist wohl kaum eine gute Ausgangssituation für Verhandlungen, wenn man den Verhandlungspartnern von vornherein mit Drohungen kommt.“

„Schon gut“, unterbrach ihn Chara.

Mit einem warnenden Blick vertiefte sich Telos wieder in seine Studie. Bargh schob gähnend die leer gegessene Schüssel beiseite und erhob sich.

„Wenn das alles war, geh ich an Deck“, brummte er und trottete zur Tür, wo er sich noch einmal umdrehte. „Kommst du mit, Osmosis?“

Die Priesterin nahm bei der Erwähnung ihres Namens eine aufrechte Haltung an. „Ich denke, ein wenig frische Luft wird mir gut tun.“

Ihre Gesichtsfarbe hatte wieder einen leichten Grünton angenommen. Wankend folgte sie Bargh aus der Messe. Thorn nutzte die Gelegenheit und stand auf. Es war höchste Zeit, Charas Gesellschaft zu entgehen. Bemüht, ihrem Blick auszuweichen, verschwand er nach draußen und steuerte zielstrebig Richtung Bug, wo er sich ungestört wähnte.

Tatsächlich war niemand am Vordeck zu sehen. Thorn ließ sich an der Reling nach unten gleiten, streckte die Beine von sich und lehnte den Kopf zurück. Er musste lernen, seine Gefühle zu kontrollieren, so wie es ihm Mika Keleton am letzten Tag seines Trainings nahegelegt hatte. Denn eines war gewiss – so wenig ein im Zorn geführtes Schwert sein Ziel traf, so wenig würde es ein im Zorn ertränkter Geist zu Wege bringen, sich unauffällig zu verhalten. Nur, wenn ihm Al’Jebals Anhänger vertrauten, würde er irgendwann eine reelle Chance haben, aus diesem Alptraum zu fliehen.

Aber wohin danach? Er wusste es noch nicht. Er hatte keine Heimat mehr. Nach Albion konnte und wollte er nicht zurück – Kitayscha war tot. Es gab nichts mehr, was ihn mit den Elfen noch verband. Sie lebten in ihren Wäldern und mieden die anderen Rassen, wie sie es seit Menschengedenken getan hatten. Zu Recht – immerhin hatten sich zumindest die Menschen einiges zuschulden kommen lassen. Sie hatten sich rasant vermehrt, sich auf ganz Amalea ausgebreitet und die Elfen bekämpft und allmählich verdrängt. Das Valianische Imperium? Dort hätte er zumindest einen Verbündeten, was Al’Jebal anbelangte. Testaceus war, wie er, ein Feind des Alten. Vielleicht könnte er dem heutigen Cäsarus eine Hilfe im Kampf gegen Al’Jebal sein. Vielleicht galt es dahin zurückzukehren, wo man ihn einst Held genannt hatte.

Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 2: Telos Malakin. Prüfung

Подняться наверх