Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 2: Telos Malakin. Prüfung - J.H. Praßl - Страница 8

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Ein Abkommen

Der samtige Stoff schwerer Roben schwebte über die glattpolierten dunklen Steinfliesen, die sich wie ein Raster bis hin zur Tür am Ende des Ganges zogen. Drei hochgewachsene schlanke Gestalten folgten dem Assassinen bis zu eben dieser Tür.

„Die Priesterinnen der Ianna“, erklärte der Assassine, als er der Aufforderung einzutreten gefolgt war.

Al’Jebal nickte und erhob sich aus dem Stuhl hinter dem schweren Schreibtisch aus schwarzem Holz, der zwischen zwei hohen Kerzenhaltern an der gegenüberliegenden Wand des Eingangs stand – mit Blick zur Tür.

Drei Frauen betraten den Raum und blieben gleich darauf stehen, als würden sie jeden weiteren Schritt als Eingriff in die Privatsphäre betrachten. Während sich hinter ihnen geräuschlos die Tür schloss, wanderten ihre Blicke durch den schummrigen, nur von den beiden dicken Kerzen und einer Öllampe erleuchteten Raum. Sie fanden einen massiven gepolsterten Stuhl, einen Tisch aus schwarz geädertem Stein, der ein wenig das Aussehen eines Altars hatte und auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag, und dahinter ein gewaltiges Regal aus Eichenholz, das voll mit alten Büchern und Schriftrollen war.

Al’Jebal schwieg und ließ sie gewähren.

Schließlich trat eine der Priesterinnen vor.

„Das Zepter“, war alles, was sie sagte.

„Was ist damit?“, antwortete Al’Jebal ruhig, während seine Augen von einer Priesterin zur anderen wanderten, bis er sich von allen dreien ein Bild gemacht hatte. Die Frauen waren von nahezu makelloser Schönheit. Ihre Gesichter, die nun, da sie ihre Kapuzen zurückgeschlagen hatten, vom Licht der brennenden Kerzen erleuchtet wurden, waren ebenmäßig und ohne einen Fehler. Fast wirkten sie marmorn, wie in Stein gehauene Götzen. Nussbraunes, langes Haar fiel ihnen bis auf ihre Hüften hinab und ihre schlanken, hochgewachsenen Gestalten zeugten von edler Herkunft.

Die Priesterin, die gesprochen hatte, schien die anderen beiden wie ein Neutrum zu vereinen. Sie war in eine graue Robe gekleidet, die an den Säumen mit silbern schimmernden Stier- und Löwensymbolen verziert war, und ihr perlweißes Gesicht wirkte glatt und ausdruckslos. Zu ihrer Linken, einen Schritt weiter hinten, stand mit eindringlichem Blick und in moosgrüner Robe ihre Glaubensgenossin. Eine silberne Brosche in Form eines Stierkopfs zierte den Abschluss ihres Kragens. Ihre vollen, weichen Lippen verliehen ihrem Gesicht einen Hauch von Sinnlichkeit. Der Ausdruck der Dritten im Bunde war so hart, als wären ihre Züge in Stein gemeißelt. Ihre Lippen waren schmal und ihre Augen kalt. Sie war in eine golden schimmernde Robe gehüllt – an ihrem Kragenansatz prangte eine Brosche in Form eines Löwenkopfs. Obwohl jede von ihnen eigene Gesichtszüge hatte, glichen sie einander wie Geschwister.

„Valians Zepter befindet sich in Eurem Besitz“, stellte die Priesterin fest, die vorgetreten war. Sie sah Al’Jebal direkt in die Augen und ihr Gesicht zeigte keine Spur von Angst.

„Richtig.“

„Es gehört uns.“

„Es gehört Euch?“ Al’Jebal machte einen Schritt auf sie zu. „Soweit mir bekannt, habt Ihr es aus Valians Grab gestohlen. Es gehört niemandem.“

Die Priesterin wechselte mit den anderen beiden einen Blick, bevor sie sich wieder Al’Jebal zuwandte.

„Valians Zepter ist nicht für Eure Hände bestimmt, Magier. Es ist für niemandes Hände bestimmt. Seine Macht ist zu gewaltig, die Gefahr des Missbrauchs zu groß.“

„Ich verstehe.“ Al’Jebal näherte sich einen weiteren Schritt. „Wenn ich mich nicht täusche, wollt Ihr das Zepter schützen.“

„So ist es.“

„Und wenn ich nicht irre, ist dies für die wenigen, die es von Euch noch gibt, von größter Bedeutung.“

„Auch das ist richtig“, antwortete die Priesterin.

Al’Jebals Blick wurde stechend.

„Dann lasst mich Euch einen Vorschlag unterbreiten.“ Er öffnete seine Hände kaum merklich. „Bleibt hier und erfüllt Euren Zweck.“

Einen verschwindenden Augenblick lang erschien eine Falte auf der Stirn des makellosen Antlitzes. Eine Frage zeichnete sich zwischen den schmalen Augenbrauen der Priesterin ab.

„Wie stellt Ihr Euch das vor?“

„Ianna war einst eine mächtige Gottheit Amaleas. Doch der Glaube an Eure Göttin ist, wie Ianna selbst, fast vergessen. Ist es nicht in Eurem Interesse, nach den langen Jahren im Verborgenen den Menschen wieder von Eurer Göttin und ihren Glaubensinhalten zu berichten? Ich biete Euch an, genau das zu tun – hier.“

„Es ist lange her, dass der Glaube an Ianna Bedeutung hatte. Doch war vorherzusehen, dass sich die Menschen von ihr abwenden. In Ianna sind die Mächte des Chaos und der Ordnung vereint. In unserer Göttin einen sich alle Extreme, die in der Welt der Menschen in Widerstreit stehen. In ihrer Einfältigkeit können die Menschen nicht begreifen, wofür Ianna steht. Doch ihre Macht schwand nie. Ianna ist mächtiger denn je. Und sie ist nicht von dieser Welt.

Ein kurzer eindringlicher Blick der in Gold gekleideten Schwester brachte die Sprecherin der drei Priesterinnen abrupt zum Schweigen. Einen Augenblick schien es, als würde ein Flackern durch Al’Jebals metallische Iris züngeln.

„Wir haben ein gemeinsames Interesse“, sagte er. „Auch ich will das Zepter nicht im Besitz eines fehlgeleiteten Machthabers sehen.“

„Ihr habt es dem Cäsarus abgenommen“, erwiderte die Priesterin. „Seid Ihr denn der geeignete Besitzer für eine solche Waffe?“

„Ich will das Zepter nicht besitzen.“

„Was wollt Ihr dann?“

„Warum habe ich nicht versucht, Valians Zepter an mich zu bringen, bevor Testaceus es tat?“

„Vermutlich, weil Ihr dachtet, es befände sich in Valians Grab in Ahan. Dort aber fandet Ihr nichts als das Grab Valians, zerstört und geplündert und ohne Insignie. Der Cäsarus brachte im Gegensatz zu Euch die Wahrheit über den Aufenthaltsort des Zepters ans Licht.“

Al’Jebals linker Mundwinkel hob sich kaum merklich. „Die Insignie befand sich in einer Heiligenstätte der Ianna in Urutti. Valians Grab in Ahan ist schon seit Jahrhunderten leer. Mag sein, dass Ihr die Welt glauben machen konntet, die Insignie wäre für immer verschollen …“

„Ihr wusstet um den Aufenthaltsort des Zepters?“

Al’Jebal antwortete nicht und machte damit deutlich, dass das Thema für ihn erledigt war.

„Nun ist das Zepter hier und hier ist es sicher“, kam er unumwunden zum eigentlichen Thema zurück. „Beschützt es, gründet einen Tempel, findet Anhänger … Bleibt hier und erfüllt Euren Zweck.“

Eine Weile sagte niemand etwas und eine Stille, die den Eindruck erweckte, als hätte jemand die Zeit angehalten, legte sich über den Raum. In dem Moment, als sich im Gesicht der Sprecherin eine Entscheidung abzeichnete, setzte Al’Jebal hinzu:

„Unter einer Bedingung. Eine von mir ausgewählte Person wird das Zepter in naher Zukunft zum Einsatz bringen – für einen begrenzten Zeitraum.“

„Wozu?“

Al’Jebal drehte sich um und schritt zum Tisch zurück.

„Der Krieg ist nicht vorbei. Die Andere Seite wird sich erheben. Wenn ihre Mitglieder denken, ihre Macht sei groß genug, wenn sie denken, die Welt zu unterwerfen wäre ein Leichtes, werden sie aus dem Verborgenen treten. Dann werden auch wir aus dem Schatten treten. Wir werden sie aufhalten. Dafür brauche ich das Zepter.“

Über die Augen der Priesterin legte sich ein Schatten. Sie zögerte.

„Ihr werdet es nur für einen Krieg nutzen? Für einen begrenzten Zeitraum und nur für den Kampf gegen das Chaos?“

Al’Jebal hielt dem bohrenden Blick der Priesterin ohne Mühe stand. „Ihr habt mein Wort.“

„Ihr wisst, dass es Zeiten gab, in denen ganze Reiche unter die Macht desjenigen fielen, der im Besitz des Zepters war.“

Al’Jebal lächelte. „Valian.“

„Eine solche Macht ist verlockend …“

„Nicht für mich.“

Die Eindringlichkeit ihres Blicks verschärfte sich.

„Wir werden das Zepter nicht aus den Augen lassen.“

„Damit habe ich kein Problem.“

Eine Weile studierte die Priesterin Al’Jebals Gesicht, dann trat sie zwischen ihre beiden Glaubensschwestern, nickte und sagte:

„So sei es.“

***

Die Stadt Billus lag im Dämmerlicht, als Thorn am Morgen des zweiten Tages nach ihrer Begegnung mit Al’Jebal über die schmale Straße von der Festung zum Hafen hinunter marschierte. Über seiner Schulter hing ein Rucksack mit den wenigen Habseligkeiten, von denen er dachte, dass er sie für die kommende Mission brauchen würde. Um seinen Hals baumelte der Elfenanhänger, den er wie immer als Talisman und Erinnerung an Kitayscha trug. Er hatte nur einen Dolch bei sich. Der Rest seiner Sachen, Bogen, Schwert, Lederrüstung und andere Utensilien, die er in seinem Rucksack nicht unterbringen konnte, waren als Teil der Schiffsfracht bereits am Vorabend an Bord des Seglers geschafft worden.

Eine kühle Morgenbrise strich sanft über Thorns Gesicht und kribbelte angenehm auf seiner Haut. Genussvoll sog er die frische Luft ein, die nun, da der Herbst auch im Süden Amaleas Einzug hielt, zumindest eine winzige Abkühlung brachte. Als sich die Straße weitete und die Häuserfronten zurückwichen, erblickte Thorn den Hafen in der kleinen Bucht am Fuße der Stadt Billus. Zwei große Schiffe lagen am Kai. Eines davon wurde gerade beladen.

Thorns Augen wanderten über den Bug hinweg und blieben an den drei Masten hängen, die aus dem Schiffsbauch in den Himmel ragten. Sein Blick fiel auf den Schriftzug, der sich über den Bug zog: Aphrodia. Das war also der Name des Seglers, der sie in unbekanntes, vermutlich tödliches Gebiet bringen sollte. Al’Jebal beliebte wohl zu scherzen.

Das Meer spie kleine, weiße Gischttröpfchen über die niedrige Mauer am Kai, an welcher der Güldenmaidklasse-Segler vertäut war. Am Fuße einer Laufplanke, die von der Reling des Schiffs zum Kai führte, stand, wie eine Statue aus schwarzem Basalt, Chara. Unter ihren rechten Arm hatte sie eine hölzerne Schatulle geklemmt. Die linke Hand ruhte auf dem Griff ihres Dolchs.

Thorn atmete tief durch. Wie sollte er mit der Assassinin künftig umgehen, nun, da er wusste, was sie war? Hatte sich Chara in den letzten sieben Monden verändert? In der aschranischen Wüste war sie zugleich Mitstreiterin und Widersacherin gewesen. Was war sie jetzt? Der Dolch in seinem Nacken? Eine Gefahr, die unberechenbar war, die jederzeit zuschlagen konnte, wenn er einen falschen Schritt machte?

Charas Gesicht war einer Gestalt zugewandt, die Thorn den Rücken kehrte und in einigen Schritten Entfernung mit jemandem in ein Gespräch vertieft war.

„Ihr wisst, was Ihr zu tun habt“, sagte Agem Ill gerade zu dem Fremden, als Thorn in Hörweite kam.

„Ich wurde genauestens instruiert“, antwortete der andere in perfektem Aschranisch. Er war unverkennbar ein Pirat. Nachdem er einen prüfenden Blick auf die Aphrodia geworfen hatte, nickte er Agem Ill zu und schritt zügig an Thorn vorbei Richtung Festung.

„Ihr seid bereit?“, fragte Agem Ill, als Thorn zu ihm stieß.

Thorn hatte sich dazu entschlossen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. „Sind wir.“

„Wer von euch wird die Expedition leiten?“

„Telos“, antwortete er. Sie hatten sich nach längerem Hin und Her für Telos entschieden, weil er im Gegensatz zu Thorn mit jedem in der Gruppe klarkam. Chara und Bargh waren beide nicht in Frage gekommen. Es hatte aber auch keiner der beiden ein Interesse daran geäußert, das Kommando zu übernehmen.

Nachdem sich Agem Ill verabschiedet hatte, schritt Thorn etwas steif auf die Planke zu, wo sich mittlerweile auch Telos eingefunden hatte, und beobachtete die im Wind flatternde Flagge am Hauptmast der Aphrodia. Drei silberne Festungstürme auf schwarzem Grund gestalteten die obere Hälfte des Wappens und thronten über einem Dreimaster mit goldenen Segeln auf blauen Wellen – das Wappen von Billus.

„Was is’?“, drang Barghs aufgeregte Stimme über den Kai. Der Vallander kam mit einem riesenhaften Seesack auf sie zugestapft und trug ein gut gelauntes Grinsen im Gesicht.

„Macht, dass ihr an Bord kommt! Ich will endlich ablegen!“

„Hauptsache einer von uns hat Spaß“, murmelte Thorn und betrat die Planke, bevor Bargh die anderen hinter ihm herbugsierte.

„Komm runter, Bargh!“, stöhnte Chara. „Wir werden noch lange genug in diesem Holzkasten festsitzen.“

An Deck erwartete sie ein Mann mit Stoppelbart und dunkelbraunen, wüst wachsenden Haaren, die in seinem Nacken Locken warfen. Etwas abseits erkannte Thorn die Priesterin Osmosis, die unschlüssig darauf wartete, dass jemand ihr sagte, was weiter passieren sollte. Etwa fünfzehn Matrosen waren damit beschäftigt, das Schiff fahrtauglich zu machen.

„Telos Malakin, Hohepriester Agramons“, stellte sich Telos vor. „Ich nehme an, Ihr seid der Kapitän.“

Der Seefahrer musterte ihn von Kopf bis Fuß. „Sieht so aus“, sagter er und seine Aussprache machte deutlich, dass er ein Aschraner war.

„Ich bin der Expeditionsleiter“, erklärte Telos und zeigte dann auf Thorn, Chara und Bargh.

„Thorn Gandir, Bargh Barrowsøn und Chara Pasiphae-Opoulos“

„Chara tut’s auch für den Anfang“, murmelte Chara und stahl sich zwischen Thorn und Telos hindurch.

„Tarken El’Dakwar“, gab der Kapitän halbherzig Auskunft.

Thorn musterte den Mann unschlüssig. Er schien nicht unbedingt erfreut über den Neuzuwachs innerhalb seiner Besatzung.

Telos nickte. „Gut, Tarken, dann seid so freundlich und zeigt uns unsere Quartiere. Danach ruft Eure Leute zusammen. Ich habe ein paar Worte an sie zu richten.“

Tarken El’Dakwars Gesicht verzog sich zu einem Ausdruck, der schwer zu deuten war. „Folgt mir“, forderte er sie auf und bewegte sich über das Deck auf eine Luke zu, die in den Schiffsbauch führte.

Neugierige aber auch misstrauische Blicke folgten ihnen, als sie hinter ihm übers Deck marschierten. Thorn registrierte, dass die Besatzung besonders Telos und Chara im Blick hatte. Was Telos betraf, lag es auf der Hand, was die Piraten verunsicherte. Der Priester war nicht nur hässlich, sondern auch von beeindruckender Aura. Bei Chara verhielt es sich etwas anders. Es war bekannt, dass die Piraten eine gewisse Skepsis gegen die Assassinen Al’Jebals hegten, woran Admiral Herkuel Polonius Schroeder nicht ganz unschuldig war. Gerüchten zufolge hasste er die Brut regelrecht. Davon abgesehen erweckte wohl Charas ungewöhnliches Äußeres die Neugier und den Argwohn der Matrosen.

Bargh drängte wie ein aufgeregter Junge hinter den anderen her und trat Chara dabei einmal zu oft auf die Fersen.

„Bargh“, murmelte Chara zähneknirschend. „Entspann dich!“

Der Kapitän führte sie durch das erste Unterdeck, das in einem großen Raum mit unzähligen Hängematten begann und sich über einen schmalen Gang Richtung Heck zog. Er stieß die Tür zur ersten Kajüte auf und wies mit dem Kopf in einen winzigen Raum. „Männer“, erklärte er dumpf.

Thorn riskierte einen Blick und nahm die bescheiden eingerichtete Kajüte zur Kenntnis: Zwei schmale Betten, ein kleiner Tisch mit zwei Hockern, alle drei fest im Boden verankert, und zwei an der Wand hängende Spinde.

Tarken war schon bei der nächsten Tür. „Waiber.“

Am Ende des schmalen Korridors öffnete er mit einem leichten Druck seiner Hand den letzten Eingang. „Expeditionslaiter.“

Chara warf einen Blick in ihre Kajüte und begutachtete skeptisch die zwei Betten. Ihr Gesicht verzog sich leicht, als sie Osmosis taxierte, die sich an ihr vorbei in die Kajüte drängte.

„Viel Vergnügen euch beiden“, wünschte Thorn mit einem vielsagenden Grinsen, bevor er hinter Bargh in seiner Kabine verschwand.

Chara spürte, wie die Priesterin sie aus dem Augenwinkel beobachtete, während sie ihre Sachen in einem der Spinde verstaute. Die Blicke ignorierend, stellte sie die hölzerne Schatulle, die ihr Assef El’Chan mitgegeben hatte, auf den niedrigen Tisch, ließ ihren schwarzen Ledermantel von den Schultern gleiten und warf ihn auf das Bett. Aus ihrem Rucksack beförderte sie die aus festem schwarzem Leder gefertigte Peitsche, die sie an einen Nagel über ihr Lager hing. Danach öffnete sie den Deckel der Schatulle mit einem leisen Klicken. Unter Osmosis misstrauischen Blicken brachte sie drei Stofftütchen zutage, ließ sich mitsamt ihren Stiefeln auf das Bett fallen und schüttelte eines der Tütchen vor ihrem Gesicht hin und her. Mit geblähten Nasenflügeln sog sie den herben Geruch des Krauts ein, das sich im Inneren des Beutels befand.

Osmosis versuchte den Anschein zu erwecken, mit dem Verstauen ihrer Habseligkeiten beschäftigt zu sein – ein netter Versuch, aber nicht besonders überzeugend. Chara warf sich auf den Bauch und griff sich eines der anderen Tütchen, die sie auf dem Kissen abgelegt hatte.

Ein energisches Hüsteln folgte, das sie schlicht ignorierte. Wenn Osmosis ein Problem mir ihr hatte, sollte sie den Mund aufmachen. Sie öffnete den nächsten Beutel. Der Geruch war herber als das Aroma des anderen Krauts und stieg ihr scharf in die Nase.

„Hantierst du mit Giften?“, brach es schließlich aus Osmosis heraus.

„Und wenn?“

„Das ist nicht nur taktlos, wenn man bedenkt, dass ich mit dir eine Kajüte teilen und damit um mein Leben bangen muss, sondern ein Affront! Ich bin eine Priesterin Issisas und reiße jemandem wie dir gewöhnlich die Eingeweide raus!“

„Mit deinen Fingernägeln?“, fragte Chara leichthin und warf einen Blick auf die spitz zugefeilten Nägel ihrer Kabinengenossin.

Osmosis strich sich über den Daumennagel und lächelte dünnlippig. „Die Katzengöttin pflegt mit ihren Opfern zu spielen, bevor sie sie erlegt.“

Bevor Chara antworten konnte, näherte sich das Geräusch von Schritten.

„Kann ich reinkommen?“, vernahm Chara Thorns mürrische Stimme.

„Sicher!“

Thorns Gesicht erschien im Türrahmen.

„Telos will euch an Deck sehen. Er hält gleich seine Rede.“

Chara wälzte sich herum und stand auf. Sie hatte keine Lust auf einen Vortrag, wollte Telos aber nicht verärgern. Der Priester war, trotz ihrer konträren Ansichten, ihr stärkster Fürsprecher, und den würde sie auf dieser Mission noch ausgesprochen nötig haben.

An Deck hatte bereits geschäftiges Treiben begonnen. Die Matrosen hatten die Taue gelöst und das leichte Schwanken des Schiffs kündigte an, dass sich die Aphrodia in Bewegung setzte. Noch waren keine Segel gehisst. Das Schiff wurde aus der Bucht gerudert.

Ein Blick zum Heck sagte Chara, dass Telos sich am Achterdeck aufgebaut hatte. Thorn und Bargh traten gerade zu ihm an die Reling. Neben dem einfach gekleideten Waldläufer wirkte Telos wie ein Adeliger – hässlich aber ehrfurchtgebietend. Seine Narben verliehen seiner außergewöhnlichen Erscheinung einen bedrohlichen Anstrich, der seine Ausstrahlung nur noch verstärkte. Bargh war nicht minder eindrucksvoll, wenn auch auf ganz andere Weise. Er war ein Krieger, wie man ihn selten zu Gesicht bekam, von beängstigend muskulöser Statur auf der einen und bestechend herzlicher Ausstrahlung auf der anderen Seite.

„Alle Mann aufs Ħauptdeck!“, dröhnte der Befehl des Kapitäns über das Schiff. Tarken hatte sich am mittleren Mast aufgebaut und warf Chara einen düsteren Blick zu, als sie, zwei Stufen auf einmal nehmend, über die schmale Holztreppe zum Achterdeck hochsprang.

„Mein Name ist Telos Malakin“, begann Telos mit seiner weichen, tiefen Stimme, die in hartem Kontrast zu seinem äußeren Erscheinungsbild stand. Sie war vertrauenserweckend.

„Ich bin Hohepriester des Agramon und Leiter dieser Expedition. Wie ihr alle stehe ich in den Diensten Al’Jebals, der uns mit dieser Mission betraute. Wir haben eine lange Reise vor uns und eine gefahrvolle Aufgabe, doch ich bin mir sicher, dass wir diese meistern werden. Agramon wird uns führen und vor den Tücken des Ozeans und dem Unbekannten, das uns erwartet, schützen!“

Telos’ Hand glitt zu Thorn, der rechts von ihm stand. „Thorn Gandir ist ein erfahrener Kundschafter – er wird uns in fremdem Gebiet den Weg weisen.“ Seine andere Hand umfasste Barghs Schulter. „Bargh Barrowsøn aus Valland, Kind der See und tapferer Krieger! Er wird den Kampf zur See kommandieren!“ Bei Barghs Namen ging ein anerkennendes Kopfnicken durch die Reihen. „Und Chara.“ Telos trat zur Seite. Die Blicke der Männer fielen auf die dunkle Gestalt an der Reling.

„… ist einfach nur Chara“, beendete Chara Telos’ Satz salopp. Telos’ Stirn legte sich in Runzeln des Argwohns, doch er sagte nichts und wandte sich wieder den Matrosen zu.

„Ich hoffe auf euer Vertrauen und baue auf eure Solidarität“, fuhr er mit eindringlicher Stimme fort. „Unser Ziel sind die nördlichen Kabugna-Inseln. Der Kurs, an den wir uns halten, ist Nordwesten. Ich werde jeden Morgen am Hauptdeck eine Messe zu Ehren Agramons halten. Jeder von euch ist eingeladen, gemeinsam mit mir zu meinem Gott zu beten und an den Messen teilzunehmen, auch jene, die sich anderen Göttern zugehörig fühlen.“

Ein Pirat mit dichtem Schnauzbart und Kupferrring in seinem linken Ohrläppchen trat mit verschränkten Armen nach vorne.

„Die Kabugna-Inseln, was?“, rief er unverfroren zu Telos hoch. „Das ist nicht gerade die Gegend, die man unbedingt gesehen haben muss. Nach allem, was ich darüber gehört habe, leben dort Wilde. Die sind so ziemlich das Primitivste, was es an menschlicher Kultur in Amalea gibt. Falls es überhaupt Menschen sind. Es heißt, sie wären brutal, gefährlich – Kannibalen, die sogar ihre eigenen Toten verspeisen und kein Problem damit haben, die Herzen aus ihren besiegten Gegnern zu reißen, um sie sich roh einzuverleiben. Man sagt, sie würden die Schädel ihrer Feinde an ihren Gürteln tragen und, wie mir zur Ohren kam, betrachten sie jeden Fremden als Feind.“ Er gab sich alle Mühe, ein selbstsicheres Grinsen zur Schau zu stellen, was ihm ganz gut gelang. „Wenn Ihr mich fragt, kann ich auf so eine Erfahrung getrost …“

„Bist du fertig, Ħerne?“, unterbrach El’Dakwar den Mann. „Du ħast wohl vergessen, wer ħier das Sagen ħat! Also zuhören und Kħlappe ħalten!“

Der Pirat verstummte augenblicklich und zog sich mit betretenem Gesicht in die Menge zurück.

Telos fühlte sich sichtbar aus dem Konzept gebracht, fing sich aber rasch wieder.

„Man sollte Gerüchten nicht allzu viel Wert beimessen“, ging er nur am Rande auf den störenden Zwischenfall ein. „Ich schlage vor, wir konzentrieren uns zunächst auf die Seereise und sehen uns danach die Eingeborenen an.“

„Komm zum Ende“, flüsterte ihm Thorn zu.

„Gut, soweit wäre alles gesagt. Agramon sei mit uns und hämmere unsere Feinde!“

Kaum. dass Telos das letzte Wort gesprochen hatte, dröhnte Tarken El’Dakwars Stimme über das Deck der Aphrodia: „Segel ħissen! Ruder ainholen!“

Die Mannschaft setzte sich in Bewegung. Sämtliche Matrosen begaben sich an ihre Plätze und machten sich daran, die Befehle ihres Kapitäns auszuführen.

„Kħurs Richtung Nordwesten!“

Danach verschwand Tarken in der Kapitänskajüte, während sich die Segel der Aphrodia im Wind blähten und das Schiff auf den weiten, dunklen Ozean hinauszogen.

Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 2: Telos Malakin. Prüfung

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