Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 2: Telos Malakin. Prüfung - J.H. Praßl - Страница 12
ОглавлениеDie Huat
Der schwarze Himmel schloss sich um eine blasse Scheibe, deren Licht wie Milch durch die Dunkelheit floss und den Nachthimmel mit zarten Adern durchwob. Es stand kein Stern dort oben. Das blasse Rund des Mondes prangte am Firmament wie eine einsame Fackel an Billus Mauern.
Chara schritt den Strand entlang und spürte, wie der nasse Sand durch ihre Zehen quoll – kühl und angenehm. Als sie an sich hinabblickte, stellte sie überrascht fest, dass sie nackt war.
Seltsam, eigentlich fühlte sie sich gut dabei, nackt zu sein – irgendwie stark, ja, unbesiegbar, auch ohne ihre Lederrüstung, ohne ihre Waffen. Doch dann erschrak sie und blieb abrupt stehen.
Wo waren ihre Kleider? Wo ihre Stiefel, die soliden, rutschfesten Stiefel? Wo waren ihre Dolche? Wo ihre Peitsche? Verwirrt wandte sie sich um und begann den Weg, den sie gekommen war, zurückzulaufen. Ohne Rüstung, ohne Waffen war sie wehrlos! Wehrlos, nutzlos und unfähig.
Das Platschen ihrer Füße im nassen Sand begleitete ihre immer schneller werdenden Schritte. Als hätte ihr Körper das Entsetzen in ihrem Inneren vernommen und aufgegriffen, überzog er sich mit einer Gänsehaut und plötzlich war das kühle Nass, das sie gerade noch als angenehm empfunden hatte, eisig kalt. Ihre Zehen fühlten sich schnell wie kleine Eisklumpen an und ihre Hände begannen unkontrolliert zu zittern.
Sie war zu weit weg! Viel zu weit weg! Allmählich dämmerte ihr, dass sie nicht hätte gehen dürfen. Sie hätte bleiben müssen – in Billus. Sie hätte bei ihm bleiben müssen. Hier war sie am falschen Ort.
„Ich bin nicht frei, diese Entscheidung zu treffen“, hörte Chara ihre eigene Stimme, als käme sie von weit her. „Ich bin jemandem verpflichtet.“
Dann hörte sie eine andere Stimme, tief, samtig und von einzigartiger Prägnanz. „Ich weiß“, lautete die schlichte Antwort. „Der Bettlerkönig hat all Eure Botschaften erhalten. Er weiß, dass Ihr hier seid. Von nun an gehören Eure Dienste mir.“
Chara lief noch schneller. Sie hastete den Strand entlang, rannte in die Richtung, aus der sie gekommen war. Ihre Augen suchten in der Ferne nach den dunklen Umrissen der Stadt, suchten nach dem Ort, der ihr Zuhause war.
„Von nun an gehören Eure Dienste mir … von nun an gehören Eure Dienste mir …“ Die Worte hallten wieder und wieder durch ihren Kopf, während eine unbekannte Sehnsucht sie vorantrieb.
Lichter tauchten vor ihr auf, tanzten wie Funken in der Nacht. Chara frohlockte innerlich. Sie war kurz vor ihrem Ziel. Die Sehnsucht wurde stärker. Unbarmherzig zerrte sie an ihrer Seele und drängte sie dazu, noch schneller zu laufen.
Nicht weit vor ihr ging der Sand in rauen Felsen über. Dahinter erkannte sie die schwarzen Konturen der in den Berg gebauten Stadt. Über den Dächern thronte die mächtige Piratenfestung.
Chara wurde langsamer und blieb stehen. Schwer atmend starrte sie auf das massive Sandsteingebäude. Ihre Hände bebten noch immer, aber langsam kroch Wärme durch ihren Körper.
Als sie den Blick senkte, gewahrte sie in etwa zehn Schritt Entfernung eine Gestalt. Sie trug eine Robe aus dünnem Stoff, der in der Dunkelheit wie schwarzes Wasser an ihrem Körper nach unten floss.
Etwas regte sich in ihr, etwas, das unheimlich war, weil es fremd war, beängstigend, weil es von ihrem Herzen aus über ihren Verstand herfiel und damit begann, ihn zu beherrschen. Und es war heimtückisch, weil sie ihm keinen Namen geben konnte. Erneut wurde Chara sich ihrer Nacktheit bewusst.
Sie kannte die Gestalt, kannte diese geschmeidigen Bewegungen, die aufrechte Haltung, den schlanken aber starken Körper, an dem der Stoff der tiefroten Robe entlangfloss. Al’Jebal bewegte sich auf sie zu. Dann stand er vor ihr.
Chara spürte, wie eine plötzliche Hitze durch ihren Körper züngelte.
„Zieht Euch an“, sagte Al’Jebal leise aber bestimmt und da sah sie das Bündel, das vor ihren Füßen im Sand lag. Nur war sie weder fähig, nach dem Bündel zu greifen, noch ein Wort über ihre Lippen zu bringen. Sie konnte ihn nur anstarren, konnte nur fühlen, was sie fühlte – dieses unbekannte, furchteinflößende Gefühl.
Die stahlgrauen Augen blitzten auf. Chara senkte instinktiv ihren Blick.
„Haltet Euch bedeckt. Euer Verstand ist es, was zählt. Euer Herz sollte schweigen. Vorerst. Es ist zu früh.“
Schwer atmend kämpfte Chara darum, die Erregung zu unterdrücken, die ihr Herz wild gegen ihre Brust hämmern ließ. Sie griff nach dem Bündel zu ihren Füßen und begann damit, sich anzukleiden. Die ganze Zeit über fühlte sie seinen Blick auf sich. Als sie fertig war, richtete sie sich auf und zwang sich dazu, ihm in die Augen zu sehen. Das Gefühl verebbte allmählich. Ihr Atem wurde ruhiger.
Al’Jebal nickte zufrieden. Ein letztes Mal hörte Chara seine Stimme:
„Alles, was Ihr von nun an tut, tut Ihr in meinem Namen. Vergesst dies nicht!“
Etwas Nasses, Kaltes tropfte auf Charas Lippen. Einen Lidschlag später war sie hellwach und saß aufrecht im Sand. Ein paar Wassertropfen rannen ihren Hals hinab und sammelten sich zwischen ihren Brüsten. Telos’ Gesicht schwebte über ihr.
„Verschwinde“, keuchte sie und ließ sich wieder in den Sand fallen.
„Wird Zeit, dass du hochkommst“, brummte Telos und verschloss die Wasserflasche. „Wir haben einen anstrengenden Tag vor uns.“
„Hau ab!“ Chara legte den Arm über ihre Augen und schirmte das Bild des Priesters ab. Die Wirklichkeit schnitt sich hart und grausam durch das Gefühl in ihrem Inneren. Sie kam ihr vor wie ihr schlimmster Albtraum.
Telos Schritte entfernten sich und Chara stieß aufgebracht ihren Fuß in den Sand.
„Ein verdammter Hinterwäldler-Auftrag ist das!“, fluchte sie leise. „Was zur Hölle soll ich hier?!“
Wütend sprang sie auf die Beine, schüttelte den Sand aus ihrem Mantel und warf ihn sich über. Ein Blick über den Strand sagte ihr, dass sämtliche Matrosen, Telos und die anderen um das gestrandete Schiff herumstanden.
Die haushohen Wellen, die der gewaltige Sturm tags zuvor aufgepeitscht hatte, hatten die Aphrodia wie eine Nussschale hin- und hergeworfen, bis sie dem Schiff überdrüssig waren und es auf irgendeiner Insel abluden.
Sie hatten nach dem Sturm alles von Bord geholt, was sie für ein Lager am Strand benötigten. Nun lag der schwere Schiffsrumpf am sandigen Ufer einer Insel, die voll dichter, fremdartiger Vegetation war.
Telos hatte eine kurze Messe gehalten, in der er Agramon seinen Dank für ihre Rettung aussprach, was Chara dazu veranlasst hatte, schnellstens das Weite zu suchen. Doch dem Rest der Schiffsbesatzung schienen die Worte des Kriegspriesters Mut zu machen und selbst Tarken El’Dakwar hatte an der Messe teilgenommen.
„Also dann, an die Arbeit, Leute!“, hörte sie Telos rufen, als sie träge über den Sand trottete.
Etwa die Hälfte der Matrosen machte sich auf Richtung Bäume – die meisten von ihnen mit einer Axt bewaffnet. Die andere Hälfte begann eifrig mit den Reparaturarbeiten am Schiff.
„Was gibt’s?“, fragte sie teilnahmslos und ließ ihre Augen über den schwer im Sand ruhenden Schiffskörper gleiten, der von der gewaltigen Welle auf den Strand geworfen worden war, als wäre er nichts als ein kleines Spielzeugboot. Vom Heck des Schiffes aus waren es mindestens zehn Schritt bis zum Wasser.
„Wir heben ’nen Graben um die fette Berta aus und fluten das Ganze“, erklärte Bargh munter. „Warum Berta?, hör’ ich dich fragen. Ganz einfach: Ich kannte mal ’n Mädel mit dem Namen, die sah auch genau so aus. Und weil das dicke Luder keine Männer in ihr Bett brachte, braute die sich ein Aphrodisiakum. Na, klingelt’s, Chara? Mich hat sie auch damit erwischt. Sagt dir Walkürenritt was? Iss’n Scheiß dagegen …“
„Bargh!“, unterbrach Chara seinen Sermon, „lass das Seemannsgarn und erklär mir, was hier läuft!“
„Wir bauen einen Damm“, wurde er sachlich. „Wir heben ’nen Graben um diesen wundervollen Güldenmaid-Segler aus und fluten das Ganze, sobald er fertig ist. Und dann lassen wir den Kasten auf die See raus, wo er hingehört.“
„Wozu der Damm?“
„Bis der Graben fertig ist, müssen wir das Wasser auf Abstand halten, sonst wird’s schwierig, den Schiffsrumpf freizuschaufeln. Damit uns die Flut beim Graben nich’ in die Quere kommt, du verstehst?“
Thorn, dessen Laune nicht viel besser als Charas war, fügte knurrend hinzu: „Wie wollen die Jungs Baumstämme von rund zwei Fuß Durchmesser soweit in den Sand schlagen, dass der Damm hält?“
„Könnte ’n Problem werden“, gab Bargh ihm grinsend recht. „Die müsste man schon zehn Fuß tief reinschlagen, wenn man dahinter ’nen Graben ausheben will, der tief genug zum Fluten ist.“
„Ich verstehe nicht“, meinte Telos und fuhr sichtlich genervt über seine Stoppelglatze. Es war überdeutlich, dass sie sich einigermaßen lange beratschlagt hatten, bis der Entschluss festgestanden hatte.
„Nun ja, selbst wenn die Stämme unten zugespitzt sind, benötigt man eine enorme Schlagkraft, um sie tief genug in den Sand zu schlagen“, erklärte Thorn umständlich.
Chara blies sich eine Strähne aus dem Gesicht: „Was der Waldläufer meint ist – je dünner der Stamm, desto besser.“
Telos seufzte laut. Dann hastete er hinter den Matrosen her, die bereits begonnen hatten, die Bäume zu fällen.
„Keine dicken Stämme!“, brüllte er. „Nehmt die schlanken Bäume, die schlanken hab ich gesagt!“
„Er gibt einen hervorragenden Expeditionsleiter ab, meint ihr nicht?“, stellte Chara ernst fest.
Bargh hatte sich bereits nach einer Axt gebückt und marschierte breitbeinig Richtung Wald. „Los, Jungs und Mädchen“, rief er euphorisch zurück. „Packt an!“
Chara stutzte. „Was meint er?“
Thorn griff sich eine der letzten Äxte und hielt sie Chara hin.
„Bäume fällen“, sagte er und freute sich über Charas verdutztes Gesicht.
„Ist nicht dein Ernst.“
„Kannst du bei den Schiffsreparaturen helfen?“
„Nein.“
„Dann ist es mein Ernst.“
Unschlüssig griff Chara nach der Axt. „Den Damm zu bauen ist ja keine große Sache“, murmelte sie verdrossen, „aber für den Graben brauchen wir wahrscheinlich einen ganzen Mond!“
***
Es war am Nachmittag des vierten Tages, als der Damm endlich fertig war und die Männer mit dem Ausheben des Grabens beginnen konnten. Selbst Chara hatte sich dazu herabgelassen, Bäume zu fällen und sich am Bau des Dammes und am Ausheben des Grabens zu beteiligen. Sie stellte sich nicht gerade geschickt an, doch ihre außergewöhnliche Kraft ließ sie recht zügig vorankommen. Thorn und Bargh leisteten hervorragende Arbeit. Nur Osmosis weigerte sich, das Ihrige beizutragen und zog es vor, sich im Schatten einer Palme von ihrer Seekrankheit zu erholen. Die roten Tücher, die sie sich um Hüfte und Brust drapiert hatte, passten hervorragend zu einer sich in der Sonne aalenden Schiffbrüchigen, die sich damit abgefunden hatte, auf der paradiesischen Insel den Rest ihres Lebens zu fristen. Was jetzt noch fehlte, war der Sonnenhut.
Telos seufzte. Wieso strafte Al’Jebal sie mit dieser Last?
Ich habe entschieden, sie mitzunehmen!, brachte er sich zur Raison. Al’Jebal hatte keine Verwendung für sie, gab ihr aber immerhin eine Chance.
„Boote“, hörte Telos plötzlich ein Murmeln an seinem Ohr und fuhr erschrocken herum.
Bargh zeigte auf das Meer hinaus und wiederholte: „Boote …, die nähern sich der Insel. Schätze, wir kriegen Besuch.“
Verdutzt folgte Telos Barghs Fingerzeig.
„Ahoi“, kam es ihm über die Lippen, als er die kleinen Punkte in der Ferne erkannte.
Der Anblick half ihm aber schließlich dabei, sich schnell zu entscheiden. „Arbeit unterbrechen! Alle Mann am Strand sammeln!“
Bargh beugte sich an Telos’ Ohr. „An die Waffen!“, flüsterte er ihm freudestrahlend zu.
„Bewaffnet euch!“, befahl Telos prompt und überquerte dann mit großen Schritten den Strand zum Wasser hin. Seine Hand tastete nach dem Kriegshammer an seinem Gürtel, während die Mythen um die Eingeborenen der Kabugna-Inseln seine Gedanken vereinnahmten und sich eine dumpfe Furcht in seinem Bauch einnistete.
Als er mit den Blicken das Wasser absuchte und nervös die kleinen Punkte anstarrte, die sich langsam näherten, erschien Thorn an seiner Seite. Seine Haare hatte er, wie immer, wenn ein Kampf bevorstand, im Nacken zusammengebunden. Die Hand ruhte auf dem Knauf seines Schwertes.
„Freund oder Feind?“, fragte er leise.
Telos runzelte die Stirn. „Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich weder noch.“
Er stellte fest, dass sich sämtliche Matrosen zusammen mit El’Dakwar am Strand versammelt hatten und beunruhigt auf die herannahenden Boote blickten. Gemurmel setzte sich von einem zum anderen fort. Worte wie „Kannibalen“, „Geisterbeschwörer“, „zurückgeblieben“ wanderten über den Strand. Die Nervosität unter den Piraten zerrte an Telos’ Nerven. Was, wenn es sich wirklich um Eingeborene handelte und die Geschichten über sie wahr waren? Wie sollte er mit den Fremden verfahren und die Seefahrer davon abhalten, beim geringsten Verdacht mit ihren Säbeln über sie herzufallen?
Bargh hatte sich ein paar Schritte vor ihm und Thorn aufgebaut. Er hatte sich in aller Eile sein Kettenhemd übergestreift. Seine Rechte schloss sich um ein gewaltiges Schlachtbeil.
„Es liegt an uns“, bemerkte Telos. „Entweder machen wir uns die Fremden zum Feind, oder aber wir schaffen es, ihr Wohlwollen zu erwecken. Lasst eure Waffen stecken!“, rief er laut. „Das gilt auch für dich, Bargh!“
Bargh ließ widerwillig sein Kriegsbeil in die lederne Schlinge auf seinem Rücken gleiten und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Da ergibt sich endlich mal eine Gelegenheit, ein bisschen Spaß zu haben …“, grummelte er. „Is’ doch immer das Gleiche mit den Priestern – Hauptsache geredet wird! Kommt eh nichts dabei raus!“
„Es sind vierzig“, murmelte Thorn.
„Vierzig Boote?“, fragte Telos ungläubig. Der Waldläufer hatte zweifelsohne die schärferen Augen.
„Wenn das Kannibalen sind, schönen Dank!“, ertönte Barghs Murren. „Ich bin nicht unbedingt scharf drauf, als Dörrwurst zu enden!“
„Bargh, wirst du jetzt endlich den Mund halten?!“, stöhnte Telos auf.
Ein leises Grunzen kündigte an, dass sich der Vallander fügte.
„Wo ist eigentlich Chara?“, fragte Thorn.
„Wunderbar“, schnaubte Telos zornig, „kaum droht Gefahr, ist dieses Weib fort!“ Das war eine glatte Lüge, aber er fühlte sich dermaßen angespannt, dass ihm jeder Fluch leicht wie eine Feder über die Lippen tanzte.
Stille legte sich über den Strand. Alle Blicke waren auf die vierzig schmalen Boote gerichtet, die sich lautlos durch das Wasser schnitten. Selbst als sie schon fast das Ufer erreicht hatten, war das Platschen der Ruder kaum zu hören. Mit leisem Knirschen glitten die leichten Gefährte in den Sand. Etwa zweihundert breit gebaute Gestalten erhoben sich und setzten ihre nackten Füße auf den festen Boden. Es bestand kein Zweifel – die Fremden waren Eingeborene. Sie hatten von der Sonne gegerbte, goldbraune Haut, kantige Gesichter, flache Nasen und waren so gut wie nackt.
Ohne Hast kamen sie über den Strand auf Telos und seine gut dreißig Leute zu. Vorne weg schritten zwei Männer, einer von ihnen auffallend geschmückt und mit schwarz umrandeten Augen; der andere war alt und stützte sich auf einen Stab, der mit bunten Federn verziert war.
„Einer von beiden muss das Oberhaupt sein“, mutmaßte Telos angespannt.
Thorns Griff um den Schwertknauf festigte sich. „Was meinst du, sind das solche, die ab und an gerne Menschenfleisch essen?“
Telos zuckte mit den Schultern: „Primitiv sind sie auf jeden Fall. Hast du ihre Waffen gesehen?“
Tatsächlich konnten die Waffen der Fremden schwerlich als kunstvolles Handwerk bezeichnet werden. Vielmehr beschränkten sie sich auf simpel geschnitzte Keulen, Wurfkeulen und schlichte Blasrohre, die sie in ihren geflochtenen Gürteln stecken hatten. Um ihre Hüften trugen sie einen rockähnlichen Schutz aus Leder und geflochtenem Bast. Manche trugen Ketten aus Muscheln, Fischzähnen oder Steinen um Hals, Arme und Fußgelenke.
Die beiden Stammesführer und ein paar der Krieger knapp hinter ihnen hatten einen ungewöhnlichen Gürtelbehang. Nach einer Weile gewahrten Telos und Thorn angewidert die kleinen, eingeschrumpelten Köpfe, die wie Dörrobst an den Leibgurten der Eingeborenen baumelten.
„Menschenköpfe“, knurrte Telos und rümpfte die Nase. „Das zumindest ist keine Mär.“
Es war ein stiller Widerstand, der sich in Gestalt der geschlossenen Formation aller Matrosen am Strand präsentierte. Telos konnte die Nervosität förmlich spüren, die den Piraten im Nacken saß und sie womöglich dazu trieb, vorschnell ihre Waffen zu ziehen.
Er nahm eine aufrechte Haltung an, die Daumen in den breiten, roten Stoffgürtel seiner Priestertoga gehakt. Seinen Blick hielt er unbeirrt auf die heranschreitenden Wilden gerichtet. Thorn stand neben ihm und hatte seinen dunkelgrünen Umhang zurückgeschlagen, sodass sein Langschwert gut sichtbar war. Bargh trat zurück und baute sich breitbeinig auf Telos’ anderer Seite auf. Seine angespannten Armmuskeln drohten den groben Stoff seines Waffenrocks zu sprengen.
Ein dumpfer Aufschlag ließ Thorn und Telos aufblicken.
Chara. Die Assassinin prüfte die Dolchscheide an ihrem Handgelenk und ließ dann den Ärmel ihres Mantels darübergleiten.
„Ich dachte, vielleicht wollen diese Wilden etwas dafür, dass sie uns nicht aufessen.“
„Ist das Gold?“, fragte Thorn mit einem Nicken Richtung Truhe, die Chara vor seinen Füßen fallengelassen hatte.
„Perlen, Schmuck …“
Telos nickte zustimmend. „Könnte helfen.“
In etwa zehn Schritten Entfernung machte der Mann mit den unseligen Köpfen an seiner Taille und den schwarz umrandeten Augen Halt. Offensichtlich war er das Stammesoberhaupt. Die schon etwas betagtere Gestalt des Mannes mit dem gefiederten Stab schwankte leicht, als sie neben ihm zum Stehen kam. Hinter den beiden hielt nun auch der Rest der Eingeborenen in ungeordneten Reihen.
„Ulah Uah!“ Es war das Oberhaupt, das gesprochen hatte. Neben Telos ertönte ein verhaltenes Glucksen. Bargh kämpfte damit, einen Lachanfall zu unterdrücken.
„Watu!“, antwortete Telos ohne eine Miene zu verziehen.
Der Häuptling und der alte Mann warfen einander unergründliche Blicke zu.
„Khun pfin fina u daga dad?“, sagte der Mann mit den schwarz umränderten Augen.
Es war ganz klar eine Frage, doch Telos hatte nicht die geringste Idee, worum es dabei ging. Er hob seine Hände zu einer hilflosen Geste und hoffte, dass der Eingeborene sein Zeichen richtig deutete. Als ein neuer unverständlicher Wortschwall über ihn hereinbrach, schnaubte er verzweifelt auf.
„Wie, bei Agramon, soll ich diese Wilden davon abhalten, mit uns ihre Boote zu schrubben?!“
„Mach ihnen irgendwie klar, dass wir auf dieser Insel nur gestrandet sind und so schnell wie möglich wieder abreisen werden“, drängte Thorn.
Telos deutete auf die Aphrodia und stammelte:
„Astra … Bullak … versteht ihr?“
„Wie meinen?“, lächelte Chara und Thorn schnaubte genervt auf. „Er sagte, Strand … Boot, versteht ihr?“
„Den letzten Teil hab ich mitbekommen, danke.“
Ein böser Blick von Thorn ließ Charas Lächeln noch breiter werden.
Der Mann mit den schwarzen Augen und den Schrumpfköpfen schüttelte den Kopf und blickte den Priester herausfordernd an. Telos’ entstelltes Äußeres schien ihn nicht zu erschrecken oder zu verunsichern. Der bislang einzig erfreuliche Umstand.
„Was will er?“, fragte Telos leise. Er spürte, wie sein ernster Ausdruck einem unausgereiften Mienenspiel wich.
„Er scheint keine Freude mit deiner Ausführung zu haben“, murmelte Thorn verhalten.
„Was jetz’?“, fragte Bargh unsicher. Seine Hand hob sich wie von selbst Richtung Schlachtbeil, doch bevor er danach greifen konnte, drückte Telos seinen Arm nach unten.
Er musste es auf eine andere Weise versuchen. Vorsichtig deutete er auf sich selbst und sagte: „Telos Malakin.“ Danach legte er seine Hand auf Thorns Schulter. „Thorn Gandir.“ Auf Bargh und Chara zeigend setzte er hinzu: „Bargh Barrowsøn und Chara Viola-Luku…“, er räusperte sich geräuschvoll. „Chara Pasiphae-Opoulos.“ Schließlich nickte er in Richtung des Stammesoberhauptes und hob fragend die Schultern.
„Ulla-Ulla Gnu Kina“, lautete die vielversprechende Antwort. Das konnte ein Name sein oder auch irgendeine böswillige Unterstellung. Der Mann mit dem gefiederten Stab schwankte leicht und legte die Hand auf seine Brust. Mit krächzender Stimme sagte er: „Ulli-Schah Oku.“ Und zu aller Verwunderung ging ein freundliches Lächeln über seine schmalen, faltigen Lippen.
Chara hob die Truhe auf, trat drei Schritte nach vorne und ließ sie wieder in den Sand fallen. Es kümmerte sie nicht, dass die Eingeborenen nach ihren Waffen griffen, sie zum Teil sogar drohend hoben. Mit ihrem Fuß klappte sie den Verschluss hoch und hob den Deckel auf. Danach trat sie wieder zurück neben Thorn.
Der Anführer wechselte einen Blick mit dem Alten an seiner Seite. Beide begutachteten den Inhalt der Truhe und dann Chara. Mit einem kurzen Heben seiner Hand brachte der schwarz geschminkte Wilde seine Leute dazu, die Waffen wieder wegzustecken. Seine Augen ruhten voller Missachtung auf Chara.
„Was denn?“, fragte Chara leise.
„Du gefällst ihm nicht“, stellte Thorn lächelnd fest. Chara zuckte die Schultern. „Ich hab nicht vor, mit ihm intim zu werden.“
Der Mann mit den schwarz geschminkten Augen deutete auf die geöffnete Truhe und nickte.
„Aha“, stellte Telos erfreut fest. „Das scheint ihm zu gefallen!“
Doch zu seiner Verblüffung sah der Eingeborene alles andere als erfreut aus und noch bevor Telos damit beginnen konnte, ihm die Sache schmackhaft zu machen, kam Bewegung in den Mann. Mit wenigen Schritten war er bei Bargh, der so verdattert war, dass er vergaß, sein Schlachtbeil zu ziehen. Stattdessen griff der Wilde danach, zog es heraus und hielt es Telos unter die Nase. Der Priester hatte im nächsten Moment seinen Kriegshammer in der Hand und Thorn zog sirrend sein Schwert.
Der Stammesälteste aber griff Telos nicht an. Er deutete auf Barghs Waffe und schüttelte gut erkennbar seinen Kopf. Dann deutete er auf Thorns Waffe und dann auf die Schwerter und Krummsäbel der nächst stehenden Matrosen. Wieder schüttelte er vehement den Kopf. Telos wurde immer verwirrter.
„Ada khun ilah it Bullak. Khun pfrah nal hiha it Waka.“
Jetzt konnte sich Bargh nicht mehr zurückhalten und prustete laut los. „Ich glaube … haha … die wollen … hi … unsere Waffen … wuhaha!“ Er wischte sich eine Träne aus den Augen und kicherte verkrampft.
„Bargh hat recht“, murmelte Chara. „Die wollen keinen Schmuck oder Gold – warum auch?“
Thorn rempelte Telos an, der innig hoffte, dass Barghs unangemessenes Verhalten keinen Groll bei den Eingeborenen weckte.
„Weißt du was?“, murmelte er, ohne dass er die Augen von dem Wilden ließ, der immer noch abwartend vor ihnen stand. „Wenn sie den Kopf schütteln ist das ein Zeichen ihrer Zustimmung und ein Nicken bedeutet Nein. Das denke ich jedenfalls.“
Telos deutete auf Thorns Waffe und den Wilden, der ihn aufmerksam beobachtete. Danach zeigte er auf sich selbst und hob fragend die Schultern.
Der Fremde wurde langsam ungeduldig. Zum Zeichen seines Frustes nickte er heftig und Telos wurde klar, dass Thorn wahrscheinlich recht hatte. Schließlich zeigte der Mann auf seine Leute, ließ seinen Finger Richtung Aphrodia schwenken und begann vorzugaukeln, im Sand zu graben. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und blickte Telos erneut aus seinen schwarz umrandeten Augen an.
„Die wollen uns helfen!“, platze Bargh heraus. „Die helfen uns und dann nehmen sie uns unsere Waffen weg!“ Sein Grinsen verebbte und wich einem hilflosen Ausdruck.
Thorn seufzte leise. „Unsere Waffen gegen ihren Körpereinsatz. Also verhandeln.“
Telos, der sich wieder gefangen hatte, ließ seinen Finger über mehrere Waffen seiner Mannschaft wandern und wandte sich an das Stammesoberhaupt.
„Go?“, fragte er. Sogar Chara verstand, dass das Wie viele? bedeutete.
Der Fremde schien erleichtert, dass sich endlich ein gewisses Verständnis zwischen ihnen einstellte. Er hob zweimal seine zehn Finger und sagte: „Loh Schi Trah.“
Abwehrend schüttelte Telos den Kopf, besann sich dann aber eines Besseren und nickte heftig. Der Wilde verzog sein Gesicht. „Go la pfrah ilah?!“
Seufzend hob Telos seine zehn Finger nach oben und wischte dann mit beiden Händen über eine imaginäre Tischplatte, womit er deutlich machte, dass er mehr zu geben nicht bereit war.
Der Eingeborene schüttelte lächelnd den Kopf und streckte Telos die Hand hin. Erleichtert schlug Telos ein und Thorn atmete aus.
Fünf Eingeborene machten sich daran, die begehrtesten Waffen auszuwählen. Neugierig untersuchten sie alle Arten von Klingen und wechselten von einem Matrosen zum nächsten. Bargh griff zögernd nach seinem Schlachtbeil, das der Eingeborene immer noch in den Händen hielt und zu seiner Verblüffung gab dieser es ihm widerstandslos zurück. Offenbar hatten die Wilden an den Schwertern mehr Interesse.
Als die fünf Eingeborenen zehn Waffen eingesammelt hatten, befahl Telos seinen Leuten, die Arbeiten an dem Graben wieder aufzunehmen und ging mit gutem Beispiel voran.
Es dauerte nicht lange, da schufteten die beiden ungleichen Menschengruppen, Eingeborene und Matrosen, Schulter an Schulter, um den Schiffsrumpf endlich freizubekommen. Es war ein amüsanter Anblick. Männer in Lendenschurz und mit Muschelketten um Arme, Beine und Hals teilten sich mit den eher derben Gestalten der Matrosen die Arbeit, deren Hemden und Hosen zum Teil von den rauen Umständen auf See schon zerfetzt an ihren kräftigen, sonnengegerbten Körpern hingen. Während Osmosis mit trübem Gesichtsausdruck das Treiben beobachtete und sich mit dem Gedanken quälte, ob sie ihre Göttin wohl erzürnte, wenn sie der Gruppe und damit Al’Jebal zur Hand ging, taten Chara, Thorn und Bargh, was in ihrer Macht stand, um das Ihrige beizutragen – jeder nach seiner Fasson.
***
Telos saß am Lagerfeuer und stierte in die Flammen, während die anderen längst schliefen. Es war am Abend des sechsten Tages nach dem Auftauchen der Huat. Die Eingeborenen hatten die Insel nach Beendigung der Arbeit am Graben verlassen und der Tag der Abreise stand unmittelbar bevor.
Telos Gedanken kreisten um Agramon und Al’Jebal – der eine ein Gott, der andere … ein Mensch? Telos konnte nicht damit aufhören, über die Tatsache nachzudenken, dass sich ein Gott mit einem Sterblichen wie Al’Jebal verbündet hatte. Götter verbündeten sich nicht mit Sterblichen! Die Macht eines Gottes war eine Macht der Ausschließlichkeit. Sie mochten sich dazu herablassen, durch die Sterblichen ihre Wunder zu vollbringen, aber sie standen stets und unwiderruflich weit über allen diesseitigen Wesen.
Ja, es gab einige wenige Augenblicke, in denen Telos’ Überzeugung wankte, in denen sein unerschütterlicher Glaube an Agramon vom Zweifel an den Motiven Al’Jebals, der nur ein sterbliches Wesen war, überschattet wurde. Andererseits hatte er etwas gesehen, das, abgesehen von Agramons Zustimmung selbst, jedweden Zweifel in ihm verpuffen ließ, sobald dieser versuchte, sich in seinen Verstand zu fressen. Er hatte gesehen, wie ein Sterblicher einem Gott Auge in Auge gegenübergestanden hatte, um mit diesem ein Bündnis zu schließen. Telos hatte mit niemandem darüber gesprochen und hatte auch nicht vor, das zu ändern.
„Kannst du nicht schlafen?“, vernahm er eine rauchige Stimme neben sich und schreckte aus seinen Gedanken. Charas dunkle Gestalt ließ sich neben ihn in den Sand gleiten.
„Oh … nun ja, ich bin nicht müde.“
Chara überkreuzte die Beine und zog einen dürren Zweig zu sich heran, mit dem sie im Lagerfeuer zu stochern begann. „Hast du aus diesem Ulla-Ulla Gnu herausbekommen, wo die Insel der Goygoa zu finden ist?“, fragte sie.
Telos nickte gedankenverloren. „Von hier aus müssen wir Richtung Norden.“
„Gut.“ Sie warf den Zweig ins Feuer und stützte sich auf ihren Knien ab. „Und worüber hast du nachgedacht?“
Telos linste zu ihr hin.
„Über nichts Besonderes. Ich glaube …“, begann er, unterbrach sich dann aber. Wie viel konnte er Chara anvertrauen?
„Diese Mission könnte uns an die Grenzen unserer Belastbarkeit führen …“, setzte Chara neu an.
Telos zögerte. „Du weißt doch, was Al’Jebal mit diesem Auftrag bezweckt, oder?“
„Danach frage ich nicht, darüber spreche ich nicht.“
Telos suchte nach den richtigen Worten. „Er expandiert, wenn man so will, und noch vor einem Jahr hätte ich alles getan, um einen Mann wie Al’Jebal daran zu hindern.“
„Und warum hast du deine Meinung geändert?“ Chara sah im forsch ins Gesicht.
„Das … kann ich dir nicht sagen. Du würdest es nicht verstehen.“ Telos war sich sogar sicher, dass sie es nicht verstehen würde. Sie würde sich nur lustig darüber machen.
„Es fällt mir schwer zu verstehen, warum Al’Jebal jemanden wie uns auf diese Mission schickt“, fuhr Telos fort. Ihm war nicht klar, warum er ausgerechnet mit Chara über seine Sorgen sprach. Er hatte sich damit auf gefährliches Terrain gewagt. Jeder Zweifel an Al’Jebal konnte eine Assassinin wie Chara dazu veranlassen, ihn eines möglichen Wortbruchs zu verdächtigen. Trotzdem fuhr er fort:
„Einen Kriegspriester wie mich, der eigentlich dafür gemacht ist, an der Spitze von Ordenskriegern gegen das Übel dieser Welt zu kämpfen und die Menschen zum richtigen Glauben zu bekehren, einen Krieger wie Bargh, einen Streuner wie Thorn, der weit davon entfernt ist, ein treuer Anhänger zu sein, Osmosis, ebenfalls Priesterin und alles andere als eine Befürworterin seiner Sache und …“ Er stockte.
„Mich“, half ihm Chara aus und ein schiefes Lächeln hob ihren Mundwinkel.
„Ja dich, Chara. Eine jener Anhänger, die Al’Jebal so treu ergeben sind wie ein Hund seinem Herrn. Warum bist du hier? Bist du die, die das Geschwür entfernen soll, sobald es damit beginnt aufzukeimen und die Gruppe von innen her aufzufressen? Hat er dich geschickt, um Zweifler wie Thorn zu beseitigen, sofern sie die Mission gefährden? Bist du der Wachhund, der uns hechelnd hinterher geifert?“
„Ich spreche nicht über meine Befehle“, antwortete Chara kühl.
„Richtig.“ Plötzlich musste er lächeln. „Du weißt es selbst nicht, hab ich recht?“
Ein eisiger Blick folgte. Chara stand ruckartig auf.
„Setz dich, Chara!“
Es klang wie ein Befehl und Telos erschrak über sich selbst.
„Ich habe dir noch etwas zu sagen“, milderte er die Schärfe seines Tonfalls. Chara setzte sich nicht, wartete aber ab.
„Ich bin hier, weil ich es so entschieden habe“, fuhr er mit ruhiger Stimme fort. „Ich bin weder dein, noch Al’Jebals Feind! Ich will, dass du das weißt! Agramon hat sich Al’Jebal angeschlossen und der Wille meines Gottes ist mir Befehl. Solange es ein Bündnis zwischen Agramon und Al’Jebal gibt, bin ich Al’Jebals Gefolgsmann. Dein Meister hat mir die Erlaubnis erteilt, im Namen meines Gottes in seinem Gebiet zu missionieren. Das kam überraschend für mich, zumal die Gerüchte besagen, Al’Jebal sei ein Feind der Götter. Nun, wir wissen, dass dieses Gerücht nicht zutrifft, denn es hat sich in seinem Gebiet bereits eine andere Priesterschaft der Ordnung etabliert – die Anhänger Monochs. Es liegt also die Vermutung nahe, dass vieles falsch ist, was über den Alten vom Berg geredet wird.
Ich habe lange darüber nachgedacht, lange zu verstehen versucht, was damals passierte, als wir Al’Jebal in der Festung zu Billus das erste Mal begegneten. Es wollte mir nicht in den Kopf, dass Al’Jebal die Macht hat, Agramons Einfluss aus seinem Gebiet fernzuhalten. Ich fragte mich, wie es ein Mensch zustande bringen kann, die Macht eines Gottes zu kontrollieren. Ich habe die falsche Frage gestellt.“
„Ja?“, war alles, was Chara dazu einfiel.
„So ist es. Die eigentliche Frage lautet nämlich – Weshalb hat Al’Jebal sich letztlich dazu entschieden, Agramons Macht in seinem Gebiet zuzulassen? Die Antwort darauf liegt auf der Hand, nicht wahr?“
Chara hob eine ihrer spitzen Augenbrauen.
„Nun, in der Toleranz Al’Jebals Agramons Gegenwart gegenüber offenbart sich Agramons wahre Macht. Tatsache ist, dass mein Gott Al’Jebal von sich und seinen Lehren überzeugen konnte. Tatsache ist, dass Agramon Al’Jebal zu einem Verbündeten machte, nicht umgekehrt. Zwar ist es mir noch immer ein Rätsel, wie Al’Jebal die Macht eines Gottes abzuschotten vermag, aber ich denke, es ist unerheblich. Wirklich essentiell ist, dass Al’Jebal und Agramon heute zusammenarbeiten. Und in dieser bizarren Übereinkunft offenbart sich die eigentliche Größe Agramons.“
Chara hatte Telos schweigend angehört. Jetzt lachte sie auf und Telos blickte irritiert zu ihr hoch.
„Dein Agramon ist in der Tat ein Hammer, Priester! So wie du, wenn du denkst, die einzige Lösung für das Dilemma Gott gegen Mensch ist, dass der Gott am Ende siegen muss, weil er eben ein Gott ist. Ist es dir nie in den Sinn gekommen, dass es Al’Jebal war, der deinen Gott, sofern er denn existiert, von seiner Größe überzeugen konnte und nicht umgekehrt? Dann, Telos, offenbart sich in dieser absurden Übereinkunft nämlich nicht die Macht deines Gottes, sondern die Macht meines Herrn.“
Es folgte Stille. Die kleine Flamme, die noch eine Weile einsam vor sich hingezüngelt hatte, erlosch. Eigentlich hatte Telos beabsichtigt, Chara näher zu kommen, ihr ein, zwei geheime Gedanken zu entlocken. Es hatte sich genau umgekehrt zugetragen.
„Wir sind von zu konträrem Wesen, als dass wir einander verstehen könnten“, sagte er mit einem Anflug von Enttäuschung.
„Da könntest du recht haben, Telos, aber wir werden einen Weg finden, dennoch miteinander klar zu kommen.“
„Das müssen wir.“
„Das werden wir.“ Chara wandte sich ab.
„Ich wünsche dir angenehme Träume, Telos“, murmelte sie und entfernte sich langsam.
Telos nickte müde. „Schlaf gut, Chara.“
Die Nacht war weit fortgeschritten, als Telos immer noch wach auf seinem Lager lag und in den schwarzen, von kleinen Lichtern durchsetzten Himmel starrte. Wieder und wieder gingen ihm Charas Worte durch den Kopf und dabei wollte sich ein Gedanke nicht abschütteln lassen. Al’Jebal stand in Agramons Gunst. Er wusste das. Er wusste, dass Agramon den Magier nicht besiegt oder bekehrt hatte. Und er wusste es deshalb, weil er etwas gesehen hatte, das er bis dahin für völlig unmöglich gehalten hatte.
Eine schwache Ahnung begann sich in ihm breitzumachen, die seine wirren Gedanken allmählich auf Kurs brachte. Wie durch einen grauen Dunst waberte Charas Name auf ihn zu und auf einmal wurde ihm klar, warum er hier war.
Chara war eine Ungläubige, skrupellos und ohne hehre Ideale.
Er, Telos Malakin, war nicht nur zur Missionierung der Ungläubigen nach Billus geschickt worden. Ihm wurde darüber hinaus eine ganz bestimmte Aufgabe zuteil und erst jetzt wurde ihm die Tragweite derselben bewusst. Er war hier, um eine ganz bestimmte verlorene Seele zu bekehren und ans Licht zu führen. Warum, wusste er nicht. Doch er fühlte die Schicksalhaftigkeit, die diesem Gedanken vorauseilte und ihm einen Schauer der Aufregung über den Rücken jagte. Chara war nur ein Instrument Al’Jebals und er sah keinen wie auch immer gearteten Grund, warum gerade sie Agramons Licht schauen sollte. Doch er fühlte, dass genau diese Aufgabe ihn an ihre Seite geführt hatte.
Was für ein unerreichbares Ziel du für mich erwählt hast, dachte er und das Kribbeln in seinem Nacken verstärkte sich. Was für eine Herausforderung!