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20. Kapitel Der erste Abend an Bord der „Berengaria“

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Nach dem „Dinner“ begab ich mich mit Herrn Garfield auf Deck und blieb dort lange mit ihm zusammen. Es war eine Freude, mit ihm zu plaudern, denn Herr Garfield war ein überaus angenehmer Gesellschafter. Er war hochgebildet und hatte eine sehr große Lebenserfahrung. Dabei war er auch noch überaus liebenswürdig und taktvoll.

Wir gingen auf und ab auf Deck, plauderten und betrachteten das emsige Leben auf dem Schiff und um dasselbe herum.

„Hier geht es ja zu wie in einem Ameisenhaufen …“, bemerkte einer der Passagiere im Vorbeigehen so vor sich hin.

Er hatte recht, denn es dauerte wirklich sehr lange, bis die vielen Amerikafahrer endlich ihre Plätze gefunden und ihre Sachen beieinander hatten.

Einige hatten im Zuge oder auf dem Schiffe oder am Kai einen Teil ihrer Koffer verlegt. — Danach mußte dann eifrig gesucht werden. Aber es war keine Angst dabei. Denn wir waren auf der „Berengaria“ wie auf einer Insel. Es konnte ja keiner etwas wegnehmen und damit weggehen. Das Schiff war zwar riesengroß, und man hatte gar nicht den Eindruck, irgendwie abgeschlossen wie auf einer Insel zu sein. Allein es hatte alles seinen Ort. Und da kam es nur darauf an, diesen Ort zu finden und sich an ihn zu halten.

Am schwierigsten war es natürlich dort, wo viele Kinder waren.

Ach diese armen kleinen Kinder! Einige von ihnen waren unwohl oder auch ernstlich krank geworden.

Es war schwer, Ordnung in die Kinderwelt hineinzubringen. Ja, es kostete viel Mühe, und es gab auch Tränen, Wehklagen und Geschrei.

Mein lieber Helfer und Freund, Herr Garfield, zog sich bald in seine Kabine zurück. Ich begleitete ihn bis dahin. Dann aber begab ich mich wieder auf das Deck hinaus.

Dort fand ich einen ruhigen Platz. Ich wurde hier nicht gestört und konnte alles gut beobachten.

Es wurde immer stiller auf Deck, und schließlich saß ich ganz allein dort oben.…

Diese Ruhe gefiel mir. Ich konnte mich nämlich hier ganz meinen Gedanken und Träumereien hingeben.

Meine Gedanken kreisten mit Vorliebe um die bevorstehende Reise, die ich schon am folgenden Tag als Passagier auf dem schwimmenden Palast über das gewaltige Atlantische Meer machen sollte.

Und diese Fahrt von England nach Amerika, was war das schon im Vergleich mit dem, was nachher noch kommen sollte! Das war ja nur ein ganz kleines Stück gegenüber der ungeheuer langen Weltreise, die mir bevorstand. Es hätte einem fast ein wenig grauen können vor dieser Reise. Aber als erfahrener Weltwanderer unterließ ich es, mir das Ganze mit allen Schwierigkeiten vorzustellen; dagegen entschloß ich mich, vorläufig nur an diesen ersten Teil meiner Fahrt zu denken: die Überquerung des großen Atlantischen Meeres. Das war zunächst Sache genug. Ich erwartete viel von dieser Fahrt und versuchte, mir auszumalen, was es dabei etwa zu sehen und zu erleben geben könnte.

Da kam mir aber plötzlich die Erinnerung an eine andere Reise, die ich vor fast siebzig Jahren gemacht hatte …, und zwar als ich nur zwölf Jahre alt war …, die Reise von Island nach Dänemark auf dem kleinen „Valdemar von Rönne“.

In meinem Buch „Nonni“ habe ich versucht, diese Reise zu schildern.…

Ich fing an, diese beiden Reisen miteinander zu vergleichen, die damalige und die jetzige.

Damals war ich der einzige Passagier auf dem Schiff „Valdemar“ — hier aber waren wir ein paar tausend …!

Auf dem „Valdemar von Rönne“ waren im ganzen drei Matrosen — hier waren 850 Matrosen und Dienstleute.

Mein damaliges Schiff war so klein, daß man es fast mit einem Kahn hätte vergleichen können.

Die „Berengaria“ aber war eines der größten Schiffe der Welt …!

Damals dauerte meine Fahrt von Island bis nach Dänemark fünf Wochen …

Jetzt sollte unsere Fahrt auf der vielmal so langen Strecke von England nach Amerika nur fünf Tage dauern …!

Damals auf dem kleinen „Valdemar von Rönne“ hatte ich es zwar gut, aber von Luxus und Bequemlichkeit war keine Rede.

Hier aber auf der königlichen „Berengaria“ entfaltete sich in jeder Beziehung ein Reichtum und eine Bequemlichkeit — fast wie im Schlaraffenland.

So saß ich da, ganz allein, umweht von den lauen Lüften der schönen Sommernacht.

Ich versank immer tiefer ins Reich der Erinnerung und der Träume. Die Weltreise mit der „Berengaria“ und die einstigen Abenteuer auf dem kleinen „Valdemar von Rönne“ kamen immer näher zusammen und waren bald — ich weiß nicht wie! — miteinander verschmolzen.

Auf einmal — es mußte etwas mit mir geschehen sein! — fuhr ich zusammen. Es kam jemand die nahe Treppe herauf … Dann hörte ich ganz nahe Schritte … Sie klangen wie in großen Räumen und hatten einen leisen Widerhall.

Vom flachen Deck her, das unabsehbar tief war, bewegte sich eine hohe Gestalt auf mich zu. Ich blieb sitzen und rührte mich nicht. Die Gestalt kam näher und war nur noch wenige Fuß von mir entfernt. Der Nachtwandler kam bis zu mir her und schaute mich an.

Ich war bestürzt und erstaunt, aber mein Erstaunen dauerte nicht lange, denn ich erkannte bald die vermeintliche Spukgestalt … Es war mein Freund Garfield …

„Wie!“ sagte er, indem er mich freundlich grüßte, „Sie wollen wohl die ganze Nacht hier oben bleiben …?“

„Das gerade nicht“, gab ich zur Antwort. „Ich sitze nur hier, um mich ein wenig auszuruhen Dieser Sommerabend ist so schön. Ich muß ihn noch ein wenig genießen“.

„Sie haben recht“ antwortete Herr Garfield.

„Wollen Sie nicht auch einige Augenblicke hier Platz nehmen, Herr Garfield?“

„Gerne, wenn ich Sie nicht störe“, sagte der gute Herr, indem er sich mir gegenüber auf einen Stuhl setzte.

Und jetzt fing zwischen uns ein eigenartiges nächtliches Gespräch an.

Ich weiß nicht mehr genau, was wir sprachen. Ich weiß nur, daß es sich um die beiden Reisen handelte: um die erste, die ich mit zwölf Jahren machte, und um die jetzige, die ich als Achtzigjähriger vor mir habe, und die mich rund um die Erde führen sollte.

Plötzlich stand Herr Garfield auf und sagte: „Ich glaube, daß es nun an der Zeit ist, uns zur Ruhe zu begeben. Es ist bald Mitternacht.“

Herr Garfield zog seine Uhr aus der Tasche und zeigte sie mir …

Ich wollte mich nun von meinem Sitz erheben ..

Da aber — wie merkwürdig! — es ging nicht. Es war mir unmöglich, aufzustehen … Ja, ich konnte nicht einmal die geringste Bewegung machen, so sehr ich mich auch anstrengen mochte.

„Ich will Ihnen helfen“, sagte Herr Garfield. Er faßte mich an den beiden Händen und versuchte mich in die Höhe zu ziehen. Es ging wieder nicht. Nun ließ Herr Garfield meine Hände los; ich fiel .. und öffnete die Augen …

Herr Garfield war spurlos verschwunden …! Statt seiner aber standen zwei kräftige englische Matrosen da …!

Ganz verwirrt und mit wunderndem Blick schaute ich sie an …

Auch sie verloren mich nicht aus den Augen …

In meiner Verwirrung und Hilflosigkeit rief ich wiederholt: „Herr Garfield! Herr Garfield’ Wo sind Sie denn, Herr Garfield?“

Die Matrosen lächelten, als ob sie das, was hier geschah, erwartet hätten.

Dann fragte der eine:

„Wer ist Herr Garfield?“

„Das ist der Herr, der soeben noch hier bei mir war.“

„Sie irren, mein Herr! Kein Mensch ist hier bei Ihnen gewesen, außer uns“, erwiderte der eine Matrose.

„Er saß doch soeben noch dort, mir gegenüber, auf diesem Stuhl Und wir haben bis jetzt miteinander geplaudert … Dann hat er mir helfen wollen, aufzustehen.“

„Das ist — wie gesagt — ein Irrtum, mein Herr. Es ist ganz unmöglich, mein Herr. Nur wir sind hier gewesen, schon seit langer Zeit … Und während dieser ganzen Zeit saßen Sie da auf diesem Stuhl und .. schliefen.“

„Wie! Habe ich hier schon lange gesessen und geschlafen?“

„Gewiß, schon sehr lange. Es ist schon drei Uhr.“

„Du guter Gott!“ sagte ich zu mir selbst. „Dann ist ja das Ganze ein Traum gewesen!“

„Schon seit mehreren Stunden. Sie schliefen aber schon, als wir kamen. Während Sie schliefen, haben Sie öfters laut gesprochen.“

Da war also nichts zu machen. Mein ganzes Gespräch mit Herrn Garfield war nur ein Traum gewesen …!

„Aber, warum habt Ihr mich nicht geweckt?“ fragte ich die beiden Matrosen schließlich.

„Sollten wir denn Ihren Traum zerstören, Herr?“

Ich dankte den Matrosen dafür, daß sie mich so lange auf Deck ließen in der guten Abendluft. Auf dem Schiffe schliefen alle schon lange — mit Ausnahme der wachthabenden Schiffsleute.

Ich ging jetzt hinunter in meine Kabine und verbrachte den Rest dieser ersten Nacht auf der „Berengaria“ in gesundem Schlaf.

Nonnis Reise um die Welt

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