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16. Kapitel In London

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Nun war ich also nach London gekommen. London war die zweite Haltestelle auf meiner Weltreise.

Paris war die erste gewesen. Paris, die glänzende Hauptstadt Frankreichs — welche gewöhnlich als eine der allerglänzendsten und elegantesten Städte der Welt angesehen wird. Habe viele Jahre meines Lebens in Paris zugebracht und muß sagen: das ist wahr! Aber London ist größer. London ist eine Welt für sich, eine Welt von Größe und Macht, wie kaum eine andere Stadt auf Erden.

Ich habe London früher mehrere Male besucht und einige der dortigen Sehenswürdigkeiten angeschaut.

Zum ersten Male war ich in London vor fünfzig Jahren, also vor einem halben Jahrhundert. Schon damals machte die Großartigkeit dieser wundervollen Weltmetropole einen unvergeßlichen Eindruck auf mich. Ich wohnte bei Freunden in Mountstreet neben dem Hydepark.

Am ersten Tag meines Aufenthaltes hatte ich ein sonderbares kleines Erlebnis.

Ich will es hier kurz und nur zum Spaß erzählen:

Ich war an diesem Tage frei und wollte zum erstenmal einen kleinen Gang in die Stadt machen. Daher wandte ich mich an einen meiner englischen Freunde dort im Hause und sagte zu ihm:

„Ich will heute nachmittag in die Stadt hinausgehen. Bitte, geben Sie mir einen Rat: Was soll ich mir da ansehen?“

Mein Freund, ein heiterer Mann, der gerne Späße machte, antwortete mir:

„Da Sie noch nichts in London gesehen haben, möchte ich Ihnen raten: Gehen Sie hin und schauen Sie sich mal den Zentralpostkasten von London an. Er ist nicht sehr weit von hier …“

„Den Zentralpostkasten!? … Einen Postkasten!? — Habe ich Sie richtig verstanden …?“

Ich war nämlich überzeugt, daß mein Freund einen Spaß, einen schlechten Witz machen wollte.

Ihm war es aber bitter ernst.

Ja, ja, —den Zentralpostkasten von London“, wiederholte mein Freund mit echter englischer Ruhe und Gelassenheit. „Gehen Sie nur hin. Sie werden sich wundern.“

Ich meinte aber immer noch, er wolle nur einen Spaß machen, und erwiderte: „Ich habe wenigstens bis jetzt noch nie ein besonderes Interesse für Postkästen gehabt. Dazu kommt, daß ich schon oft verschiedene solche Kästen gesehen haben in vielen anderen Städten, wo ich gewesen bin. Gibt es nicht hier in London noch andere Sehenswürdigkeiten, die vielleicht noch interessanter wären als dieser Postkasten?“

„Gewiß gibt es noch andere. Aber da wir nun einmal bei dem Postkasten sind, rate ich Ihnen als guter Freund, daß wir dabei bleiben. Ich bin sicher, daß Sie mir dafür dankbar sein werden, wenn Sie ihn einmal gesehen haben. Die anderen Sehenswürdigkeiten werden Sie dann um so besser begreifen.“

Da war also nichts zu machen. Ich mußte nachgeben.

Ich fuhr am Nachmittag, und zwar mit meinem Freund, der mir Gesellschaft leisten wollte, und um sicher zu sein, daß ich mein Ziel erreiche. Ich wunderte mich nicht wenig über diese seine eigenartige Sorge bezüglich der Besichtigung des Londoner Postkastens.

In meinem stillen Sinn vermutete ich, daß dieser Postkasten möglicherweise ein berühmter Prachtbau sei, dem man vielleicht diesen sonderbaren Namen gegeben habe.

Doch nein, so erstaunlich es auch lauten mag, der Postkasten, den mein englischer Freund immer im Sinne hatte, sei schlecht und recht ein wirklicher Postkasten, so versicherte er mir wiederholt.

Das Merkwürdige aber an diesem Postkasten sei zunächst seine Größe.

Mein Freund sagte mir, daß täglich viele Wagen voll von Briefen und Paketen hineingeworfen würden.

Aber jetzt kommt das Allermerkwürdigste:

Dieser Postkasten sei bewohnt! Es wohnten Menschen drinnen …! Und nicht nur ein Mensch oder zwei, sondern eine ganze Menge Menschen …!

Das alles erzählte mir mein Freund auf dem Wege.

Endlich kamen wir an. Der Wagen hielt, wir stiegen aus.

Als mein Freund den Kutscher abgefertigt hatte, sagte er zu mir:

„Wir sind jetzt am Ziele. Ich überlasse es Ihnen, den Postkasten zu finden.“ Damit ging er fort.

Ich schaute nach allen Seiten hin, sah aber nichts, was mit einem Postkasten irgendeine Ähnlichkeit haben könnte.

Schließlich fragte ich einen Passanten: „I beg your pardon, wo ist der Zentralpostkasten?“

Der Mann deutete mit der Hand nach einer bestimmten Richtung hin, ohne was zu sagen, wie die Engländer meist tun.

Ich dankte und ging nach der angegebenen Stelle hin.

Da war aber kein Postkasten zu sehen!

Ich fragte dann noch einmal einen beliebigen Passanten auf der Straße.

„Dort ist er“, sagte der Mann, und zeigte wie der erste nach beinahe derselben Richtung.

Ich ging hin, entdeckte aber nur eine sehr dicke und breite Mauer, eine schön gebaute steinerne Wand.

An dieser Mauer waren ganze Reihen von eigentümlichen breiten Löchern und Öffnungen angebracht.

Dann auf einmal wurde ich aufmerksam auf eine Menge Leute, die zur steinernen Mauer kamen und dann wieder gingen.

Ich schaute genauer zu und entdeckte nun, daß diese Leute Briefe und Pakete in den Händen trugen. Sobald sie nun an die große steinerne Wand gekommen waren, warfen sie die Briefe und Pakete durch die entsprechenden Öffnungen hindurch.

Jetzt erst fing ich an, die Lage zu verstehen. Und nun näherte auch ich mich der merkwürdigen Mauer.

Ich blieb neben einer der geheimnisvollen Öffnungen stehen und warf einen neugierigen Blick hinein …

Und was sah ich da?

Ich sah einen großen unterirdischen Raum, der sehr tief unten lag, also einen sehr großen und sehr schön eingerichteten Kellerraum …

Ich mußte denken an die wundervollen Märchen von „Tausendundeine Nacht“, die ich in meiner Jugend auf Island gelesen hatte, und an die zauberhaften unterirdischen Grotten, voll von Gold und Silber und Perlen und Edelsteinen, welche arabische Prinzen und Glücksmenschen zuweilen in den Bergen Arabiens fanden.

In dem großen unterirdischen Kellerraum waren zwar keine Perlen, noch Diamanten, noch Gold und Silber zu sehen. Aber was entdeckte ich dort? Ich sah viele Menschen, die hin und her gingen. Es war alles in Bewegung. Eine Menge Männer und Frauen nahmen die Briefe und Pakete, die unablässig durch die Öffnungen in der Zauberwand droben an der Straße geworfen wurden und in diesen gewaltig großen Kellerraum nur so hineinregneten, zur Hand und behandelten sie nach allen Regeln der Kunst. Da sah ich lange, solide Tische, wo unablässig Briefe gestempelt wurden von Männern, die diese Arbeit mit akrobatischer Schnelligkeit besorgten. Das war also der „Zentralpostkasten von London“. Ich habe ihn wie ein Zaubermärchen bewundert.

Und was noch mehr ist: Ich mußte zugeben, daß dieser Kasten mit vollem Recht als eine wirkliche und echte Sehenswürdigkeit der Riesenstadt London gelten konnte.

Dies war vor fünfzig Jahren.

In diesem letzten halben Jahrhundert hat sich vieles in London geändert — und zwar meistens zum Besseren.

Den Zentralriesenpostkasten habe ich diesmal nicht mehr gesehen. Ich weiß daher nicht, was daraus geworden ist.

Die wundervolle Stadt London habe ich bei meinem neuen Besuch wieder, so viel wie ich konnte, angesehen.

Dabei ist mir eines stark aufgefallen: das äußere Stadtbild ist viel schöner geworden in diesen letzten fünfzig Jahren.

Ja, London ist innerhalb dieses Zeitraumes in jeder Beziehung viel schöner und vornehmer geworden, als es damals war. Überall herrscht heute in London die größte Sauberkeit in den Straßen, auf den Plätzen und in den unzähligen öffentlichen Parks und kleineren idyllischen Gärten und Rasenplätzen. Überall, wo es nur irgend möglich ist, werden Blumenbeete angelegt und mit größter Sorgfalt in Ordnung gehalten.

Auch Wagen, Autos und Omnibusse sind peinlichst rein und sauber. Die Polizisten sind fast alle groß und kräftig und vor allem auch den Fremden gegenüber höflich und korrekt.

Nonnis Reise um die Welt

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