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15. Kapitel Eine wundervolle Erscheinung im Himmelsraum
ОглавлениеNachdem wir die Sturmwolke verlassen hatten, war plötzlich alles anders. Die gefährlichen Schwankungen, die uns im Flugzeug hin und her warfen, hörten auf, und der ohrenbetäubende Lärm der auf Volltouren arbeitenden Propeller hatte wesentlich nachgelassen.
Diese „Stille“ kam uns fast unheimlich vor. Aber wir hatten uns bald wieder daran gewöhnt und freuten uns darüber, unsere Unterhaltung fortsetzen zu können, ohne — wie vorher — so laut schreien zu müssen.
„Nun werden wir bald England erreichen“, rief der kleine James mir freudig zu.
Die französische Küste konnten wir tatsächlich nicht mehr sehen. Sie lag schon ziemlich weit hinter uns. Dafür gingen wir einer anderen Überraschung entgegen: wir hatten England vor uns. Sehen konnten wir es noch nicht.
James saß mir gegenüber und schaute zum Fenster hinaus nach diesem wilden Schaukelspiel in der schwarzen Wolkenbank. Das kam mir ein wenig verdächtig vor.
Ich rief darum meinem kleinen Reisekameraden sehr vorsichtig zu: „Wie geht es dir, James?“
„Very well, Sir“, rief er munter zurück.
„Bist du aber nicht etwas luftkrank geworden, als wir soeben in der Sturmwolke waren?“ erforschte ich ein wenig tiefer sein Gewissen.
„O nein! Ich bin überhaupt noch nie luftkrank gewesen, auch noch nie seekrank“, kam die Antwort klar und überzeugend heraus.
„Das freut mich aber sehr“, entgegnete ich, „denn von mir könnte ich nicht dasselbe sagen; ich bin schon oft seekrank gewesen.“
Während wir so plauderten, hatte der kleine James immer häufiger durch das Fenster geschaut. Er zeigte zwar keine Spur von Weichheit — so sehr konnte sich dieser kleine Engländer beherrschen —, aber er wollte offenbar doch den Augenblick nicht versäumen, da sein Heimatland zu sichten wäre. Statt dessen kam aber zunächst etwas ganz anderes.
„O God! What’s that?“ (Guter Gott, was ist denn das?) fuhr er plötzlich zusammen. Dann schaute er mich mit großen Augen an und fuhr fort:
„So etwas habe ich noch nie in meinem Leben gesehen!“
Nun war mein kleiner Freund James erst elf Jahre alt. Es konnte also schon Dinge geben, die er bisher noch nie gesehen hatte. Aber er war doch schon mehrere Male über den Kanal geflogen, und es war — wie gesagt — nicht seine Art, das Herz auf die Zunge zu legen und alles, was ihn bewegte, gleich auszuplaudern. Er mußte also schon etwas außerordentlich Merkwürdiges gesehen haben. Ja das Neue, das sich ihm zeigte, nahm offenbar von Sekunde zu Sekunde noch an Schönheit zu.
„Bitte kommen Sie schnell“, rief er schließlich ganz bestürzt, „Sie werden staunen!“
Ich stand nun, so schnell ich konnte, von meinem Sessel auf und schaute.
„Aber du guter Gott! Was kann denn das sein!“ rief ich nun auch selber in größter Aufregung aus. So etwas Merkwürdiges hatte auch ich in meinem langen Leben noch nie gesehen …
Das Meer, das kurz zuvor noch in den herrlichsten Farben schillerte, war spurlos verschwunden! Die vielen Schiffe, die soeben noch hin und her fuhren und den bunten Teppich woben, ebenso!
An die Stelle der unabsehbaren blauen Fluten mit ihrem Heer von Schiffen war etwas ganz Neues getreten, eine mir bisher ganz unbekannte Welt.
„James! Qu’est-ce que cela peut-être?“ (James, was mag dieses doch sein?) rief ich in französischer Sprache aus.
„I don’t know, Sir“ (Ich weiß es nicht, mein Herr), rief James voll Staunen zurück.
„Moi non plus“ (ich auch nicht), mußte ich bekennen.
„Dort unten ist doch wohl immer noch das Meer mit den vielen Schiffen.“
„Ja, gewiß müssen sie noch da sein.“
„Aber was hat sich denn hier dazwischengeschoben?“
Es war derart neu und ungewöhnlich und so über alle Maßen schön, daß uns zunächst gar nicht der Gedanke kam, es mit irgend etwas Natürlichem zu vergleichen.
James war ebenso ratlos wie ich.
Auf einmal sagte er: „Es sieht ja aus wie blendend weiße Wolle.“
„Oder wie blendend weiße Schneeballen“, korrigierte er sich rasch. „Und welche ungeheure Menge!“
Es dehnte sich nach allen Seiten so unendlich weit, weit hinaus …
Eine himmlische Landschaft, übersät mit Millionen von Perlen und Diamanten, alles überirdisch zart und schimmernd, nichts Hartes oder Kantiges wie im Hochgebirge, nicht zerklüftet oder abgründig, sondern mit sanften Erhebungen und Vertiefungen und immer in Bewegung — hier leicht anschwellend, dort langsam untertauchend, manchmal wild durcheinanderwirbelnd wie spielende Kinder.
Und wir stürmten vorwärts in unmittelbarer Nähe dieser geheimnisvollen Herrlichkeit …
Allmählich hatte sich unser Auge beruhigt, und wir erkannten, daß es Wolken waren. Dieselben Wolken, in denen wir kurz zuvor noch drinnen staken und die uns so viel Angst und Schrecken brachten.
Unterdessen war auch der junge Flugzeugdiener, dem wir in unserer Aufregung geklingelt hatten, in unsere Kabine eingetreten. Wir nahmen an, daß er solche Naturschauspiele kennen mußte, und wir wußten, daß er nicht nur gefällig, sondern auch recht intelligent war.
„Haben Sie einige Augenblicke Zeit?“ fragte ich ihn.
„Gewiß, mein Herr. Ich stehe zu Ihren Diensten.“
„Können Sie mir zuerst sagen, wo wir uns befinden?“
„Wir haben bereits den Ärmelkanal überquert“, antwortete er, „und fliegen jetzt über England auf London zu.“
„Das hatte ich mir schon gedacht. — Jetzt aber noch etwas: Haben Sie die prachtvolle Lufterscheinung gesehen — ich meine diese herrliche strahlende Fläche, über welche wir soeben geflogen sind?“
Er lächelte und sagte ganz ruhig und sachlich: „Mein Herr, Sie sind heute der neunte, der mich danach fragt. Aber es ist diesmal auch besonders schön! Es ist auch jedesmal anders, muß ich sagen, und eigentlich auch mir immer neu. Aber es sind Regenwolken, nichts anderes, nur mit dem Unterschied, daß wir sie hier von oben, von der Sonne her sehen, und nicht mehr von der Erde her, oder gar drinnen stecken, wie eben noch!“
Jetzt ergriff der kleine James das Wort. Er war noch nicht ganz zur Ruhe gekommen ob der märchenhaften Dinge, die er gesehen hatte, und fragte: „Aber wie können diese Regenwolken so schön glänzen und blendend weiß aussehen?“
„Ganz einfach deswegen, weil die Sonne sie direkt bescheint. Unten, auf der Kehrseite sehen sie dunkel aus, weil dort Schatten ist. Je dichter die Wolken sind, um so dunkler der Schatten.“
Wir dankten dem braven Kellner für seine kurzen und lehrreichen Erklärungen.
Das war also die nüchterne Deutung einer wundervollen atmosphärischen Erscheinung.
Die von der Sonne mit magischem Licht überflutete Oberfläche der mächtigen englischen Regenwolken fuhr — trotz aller Prosa — fort, uns zu erfreuen und zu begeistern …
Diese englische Regenwolke hat uns beiden, James und mir, mehr als jede Predigt auch gezeigt, wie verschieden die Dinge doch sein können, je nachdem wir sie von unten oder von oben sehen oder gar von ihnen gefangen genommen sind. Der junge James hat sich darüber noch keine Gedanken gemacht; es genügte ihm, das zu wissen. Mir selber aber kam bei dieser Gelegenheit ein Kanon in den Sinn, mit dem mich die Freiburger Jugend einmal begrüßte, als ich bei ihr war und ihr erzählte. Dieser Kanon gefiel mir so gut, daß ich ihn mir gemerkt habe. Er lautet:
„Wenn kein’ Nacht nimmer käm’, könnt’ kein’ Tag nit bestehn, wenn’s kein’ Regen nit hätt’, wär’ die Sonn’ auch nit schön, und das Leid ist wohl da, daß wir d’Freud recht verstehn!“
Wir flogen noch eine gute Weile weiter, unter dem Einfluß der unvergleichlichen Poesie der von der Sonne beleuchteten englischen Wolken, bis wir schließlich London erreichten, die mächtige Metropole des britischen Weltreiches.
Die Landung ging glatt vor sich auf dem großen Londoner Flugplatz. Von dort brachte uns ein mächtiger englischer Autobus mitten in das unbeschreibliche Gewühl Londons hinein.
Als wir dort ausstiegen, fiel James, mein kleiner Reisegefährte, munter und gesund in die Hände seiner Verwandten, die auf ihn warteten.
Der kleine Junge stellte mich seiner Familie vor und behauptete, daß wir während der Fahrt gute Freunde geworden seien.
Seine Familie dankte mir vielmals für die Mühe, die ich mit James gehabt, wogegen ich natürlich protestieren mußte, da ich ja im Gegenteil nur Freude mit ihm gehabt hatte.
Dann nahm ich schließlich herzlichen Abschied von meinem kleinen Mitreisenden, wobei ich noch versprechen mußte, vor meiner Abreise aus London einen kleinen Besuch bei ihm zu machen.
Als James mit seinen Verwandten im Menschengewühl Londons verschwunden war, fuhr ich in einem Auto zu englischen Bekannten, die auf mich warteten im Southwell House in der Endsleigh Street.
Dort sollte ich wohnen bis zu meiner Abreise von England nach Newyork.