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21. Kapitel Ein kleines Abenteuer in der Kinderstube

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Ich schlief nun in einem Zuge, die ganze Nacht hindurch.

Am folgenden Morgen wurde ich plötzlich wach: Ein starkes Geräusch und ein heftiges Zittern des Schiffskörpers hatten mich geweckt.

Ich blieb zunächst ganz still im Bette liegen und horchte …

Unmittelbar über mir wurde heftig getrampelt und herumgelaufen.

Dazu drangen auch laute Kommandorufe bis zu mir herunter … Was konnte das doch sein?

Ein sehr starkes Brummen und Dröhnen übertönte ab und zu die übrigen Geräusche.

Das war doch zu eigenartig … Ich mußte hinauf, um mit eigenen Augen zu sehen, was da los war …

Bevor ich aus dem Bette sprang, sammelte ich mich schnell und verrichtete ein kurzes Morgengebet.

Das war ja etwas, das ich im Jahre 1870 vor meiner Abreise aus Island nach Dänemark meiner guten Mutter versprochen hatte. Es war mir noch nie eingefallen, diesem Versprechen untreu zu werden. Es war ein Bedürfnis für mich geworden, jeden Morgen, beim Erwachen, ein kurzes, inniges Gebet zu verrichten.

Als ich mit dieser Morgenandacht fertig war, schaute ich auf die Uhr: es war schon sehr spät am Tage geworden. Ich war ja auch sehr spät in der Nacht zu Bett gegangen.

Die anderen Leute auf dem Schiff mußten schon lange aufgestanden sein. Ich war wohl der letzte von allen.

Ich sprang also rasch aus dem Bette, wusch mich und kleidete mich an.

Dann verließ ich meine kleine Kabine und trat hinaus in den unteren Gang, der sich links und rechts an den vielen Kabinentüren vorbei hinstreckte.

Etwa zwanzig Schritt von mir entfernt sah ich die Treppe, welche zum oberen Deck hinaufführte. Sofort ging ich weiter auf die Treppe zu.

Als ich aber ein paar Schritte gemacht hatte, begegnete ich einem Matrosen.

„Verzeihen Sie“, sagte ich zu ihm, „was ist denn das für ein Lärm droben auf dem Deck?“

„Es ist der Aufbruch, mein Herr, wir fahren jetzt ab von England nach Frankreich“, antwortete hastig der Matrose und eilte weiter.

Auch ich setzte meinen Weg fort nach der Treppe hin.

Bevor ich aber die Treppe erreicht hatte, sah ich eine halbgeöffnete Tür, die vom Gang in ein Zimmer führte.

Im Vorbeigehen warf ich einen flüchtigen Blick hinein. Da sah ich, daß es eine niedliche Kinderstube war.

In der Mitte des Zimmers stand ein schöner, runder und rotpolierter Tisch. Um diesen Tisch saßen drei kleine Knaben. Alle drei schwiegen. Sie konnten etwa drei bis vier Jahre alt sein.

Mit gekreuzten Armen vor der Brust lehnten sie sich — der eine genau wie der andere — gegen die Tischplatte und schauten einander im tiefsten Ernst an.

Durch mein Eintreten in das Zimmer ließen sie sich nicht im geringsten stören. Ja sie schauten mich nicht einmal an, sondern blieben unbeweglich immer in derselben Haltung sitzen, die Blicke unentwegt aufeinander gerichtet.

Diese kleine Gesellschaft sah unsäglich putzig aus … aber auch etwas seltsam, ja fast unnatürlich, wie mir schien, für Kinder in diesem Alter.

Ich wunderte mich auch, daß niemand bei ihnen war, um auf sie aufzupassen. Das kam mir alles so rätselhaft vor …

Ihre Ruhe, Gleichgültigkeit und Teilnahmlosigkeit regte mich auf, und ihr Mangel an der gewöhnlichen kindlichen Lebhaftigkeit und Zappelhaftigkeit war mir gänzlich unverständlich.

Nachdem ich sie ein paar Minuten lang betrachtet hatte, verließ ich das Zimmer und ging rasch nach der Treppe, um sobald wie möglich auf das Deck hinaufzukommen.

Als ich die Treppe erreicht hatte, blieb ich auf dem Boden stehen und schaute hinauf.

Einige Stufen höher entdeckte ich einen ganz kleinen Jungen, der genau so aussah wie die drei, die ich soeben in der Kinderstube beobachtet hatte.

Der muß wohl zu jenen gehören, dachte ich. Und wahrscheinlich hat er Reißaus genommen, um auf eigene Faust einen Ausflug zu machen.

Aber was tat er da, auf der Treppe?

Er war eifrig damit beschäftigt, äußerst eigenartige gymnastische Übungen zu machen.

Diese Übungen waren sehr einfach: sie bestanden darin, daß er — immerfort sitzend — auf das eifrigste sich bemühte, die Treppenstufen hinunterzurutschen.

Das ging aber sehr schwer, denn der arme Kleine war noch weit davon entfernt, ein besonders tüchtiger Sportsmann zu sein.

Doch mit größtem Eifer schob er sich von Stufe zu Stufe nach unten …

Leider tat er es aber so ungeschickt, daß er beständig in Gefahr war, umzukippen.

Ich fürchtete daher ernstlich, daß der kleine Junge das Gleichgewicht verlieren und die etwas steile Treppe hinunterfallen könne.

Das wäre lebensgefährlich gewesen.

Ich blieb deshalb einige Stufen tiefer vor ihm stehen, um ihn sofort aufzufangen, für den Fall, daß er das Gleichgewicht plötzlich verlieren sollte. Lange brauchte ich nicht zu warten, denn gerade jetzt geschah das Unglück …

Während er sich aus allen Kräften bemühte, weiterzurutschen, kippte er plötzlich um und rollte wie eine kleine Kugel, die glücklicherweise aus einem Bündel weicher Kleidungsstücke bestand, die Treppe hinunter bis zum Boden …

Dort blieb er zunächst liegen, und zwar ohne einen Laut von sich zu geben. Das war für mich ein Beweis, daß er beim Herunterfallen wenigstens keinen gefährlichen Stoß bekommen hatte.

Da ich mich ja in der Nähe befand, sprang ich in einem Satz zu ihm hin. — Er lag da, ganz still, wie ein Häufchen Elend.

In aller Eile hob ich ihn auf, und in der Hoffnung, daß seine Mutter möglicherweise bald kommen würde, wartete ich dort unten noch einige Augenblicke. — Da aber niemand kam, fragte ich den Kleinen: „Where is your mother?“ (Wo ist deine Mutter?)

Da ich auf diese Frage keine Antwort bekam, versuchte ich es mit anderen Fragen. — Doch alles vergebens …

Es war mir nicht möglich, auch nur einen Laut aus dem Kleinen herauszulocken.

Statt zu antworten, schaute er mich unentwegt und in aller Ruhe mit seinen großen und klaren Kinderaugen an.

Schließlich fragte ich ihn so freundlich, wie ich konnte: „Mama? Where is mama?“ — Diesmal hatte ich Erfolg:

„Mama, mama!“ wiederholte er einige Male. — Mama gehört ja zur allgemeinen Kindersprache. — Jetzt verstanden wir uns.

Nun mußte ich aber auf die Suche nach der lieben Mama gehen …

Den Kleinen trug ich aber zuerst einige Schritte weit durch den unteren Gang in die schon bekannte Kinderstube, wo ich soeben gewesen war.

Die drei Knaben saßen noch immer dort und schauten einander an — genau wie vorher … — Das aber paßte mir sehr gut.

Ich nahm ein viertes kleines Kindersesselchen, schob es an den Tisch heran und setzte meinen kleinen Schützling darauf. Er machte keinen Widerstand, sondern kreuzte die Arme vor der Brust und lehnte die Ellenbogen auf die Tischplatte …

Jetzt war die niedliche kleine Tafelrunde um ein Mitglied größer geworden. Sie hielten sich wieder alle ruhig und betrachteten einander grabesernst und unbeweglich. Auch mein kleiner Schützling tat genau wie die anderen und schien sich sehr wohl in dieser Gesellschaft zu fühlen.

Jetzt verließ ich meine kleinen Freunde in der Kinderstube und eilte wieder nach der Treppe hin. Ich lief rasch die Stufen hinauf. Als ich endlich das Deck erreichte, sah ich dort einige englische und amerikanische junge Damen, welche beisammenstanden und miteinander plauderten.

Ich näherte mich der Gruppe, grüßte und berichtete ihnen mein Abenteuer mit dem kleinen Jungen auf der Treppe …

„Oh …! It was my little boy! Poor little Eddie …!“ (Es war mein kleiner Junge …! Armer kleiner Edward …!) rief die eine Dame aus … —

„I am very thankful to you, Sir!“ (Ich bin Ihnen sehr dankbar, mein Herr), fügte sie hinzu, indem sie sich an mich wandte.

Dann bat sie mich, mit ihr in die Kinderstube zu gehen.

Natürlich nahm ich die Einladung an.

Ich ging also zusammen mit der Mutter meines kleinen Freundes Eddie nach der Kinderstube.

Als wir hineintraten, fanden wir die ganze kleine Gesellschaft ruhig an ihren Plätzen rund um den Tisch.

Die Mutter umarmte zärtlich ihren kleinen Sohn, machte ihm aber auch mütterliche Vorwürfe wegen seines Ausfluges nach der Treppe, denn er hatte ihr vorher versprochen, ruhig mit seinen kleinen Kameraden in der Kinderstube zu bleiben.

Jetzt vergewisserte sie sich auch, ob ihm nach seinem Unfall nichts fehlte.

Dann setzte sie den Kleinen wieder auf seinen Stuhl, indem sie ihm sagte, er solle nur noch eine kurze Zeit dort bleiben. Sie müsse ihn nur einen kleinen Augenblick allein lassen, sehr bald werde sie ihn dann holen und auf das Deck bringen …

Nun aber geschah etwas für mich ganz Unbegreifliches … Es kam ganz unerwartet …

Während ich nämlich dort in der Kinderstube mit der jungen Mutter noch ein paar Worte wechselte, erhob sich plötzlich der Nachbar unseres kleinen Eddie, wandte sich gegen ihn und gab ihm mit seiner kleinen geballten Faust mit voller Kraft — die aber glücklicherweise nicht bedeutend war — einen Schlag mitten ins Gesicht …!

Ein ohrenbetäubendes Geheul war begreiflicherweise die Folge. — Der arme kleine Eddie schrie und weinte ganz verzweifelt …

Blitzschnell — aber doch zu spät — kam die Mutter ihm zu Hilfe.

Sie hob ihn auf, drückte ihn an ihr Herz und suchte, wie nur eine Mutter es kann, ihren Liebling zu trösten.

Inzwischen saß der kleine Übeltäter und ungerechte Angreifer wieder ganz ruhig auf seinem Stuhl und betrachtete genau wie vorher alles, was da um ihn herum vor sich ging.

Endlich hörte das verzweifelte, laute Weinen des kleinen Eddie auf Die Mutter wandte sich dann an den kleinen Angreifer und fragte ihn, warum er ihren Eddie so geschlagen habe …

Er aber blieb stumm und tat, wie wenn nichts geschehen wäre. Es war nichts aus ihm herauszubringen.

Dann jedoch nahm die Mutter ihren kleinen Eddie mit sich und brachte ihn nach ihrer eigenen Kabine.

Auch die anderen Kinder wurden bald von ihren Müttern geholt.

So endete schließlich dieses erste kleine Kinder-Trauerspiel an Bord der „Berengaria‘.

Nonnis Reise um die Welt

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