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ОглавлениеInterview mit Roland Emmerich:
Von überraschenden Wendungen und dramaturgischen Kniffen
Wie entwickeln Sie die Idee zu einem neuen Film?
RE: Zuerst erarbeite ich ein grobes Schema des Films und versuche, die Grundidee klar zu formulieren. Das ist die erste Phase. Danach setze ich mich mit verschiedenen Leuten zusammen und versuche, ihnen zu erklären, welche Art von Film ich machen will. Daraufhin schreibe ich ein Treatment, eine dreißigseitige Abhandlung des Films, in der jede Szene beschrieben wird, jedoch ohne Dialoge. Der Film muss hier in seinem Ablauf so spürbar sein, wie er später auf die Leinwand kommen soll. Diese grobe Struktur ermöglicht dem Regisseur verschiedene Figuren und Handlungen umzubauen oder zu entfernen, ohne jedes Mal die Dialoge neu formulieren zu müssen. Es kann Monate dauern, bis man ein Treatment hat, aus dem man eine Drehbuchfassung entwickeln kann.
Wie wichtig ist das Drehbuch für Sie bei der Filmarbeit?
RE: Als ich noch auf der Filmhochschule war, habe ich nicht besonders auf das Drehbuch geachtet. Je erfahrener ich werde, desto deutlicher spüre ich jedoch, dass das Drehbuch 80 Prozent eines Films ausmacht. Wenn das Drehbuch nicht stimmt, funktioniert auch der Film nicht. Ein Script ist etwas wie der Koffer für die Reise. Ohne Koffer kann man nicht verreisen und ohne Drehbuch kann man keinen Film machen. Es gibt zwei wichtige Dinge für mich: erstens die Besetzung und zweitens das Drehbuch.
Wie strukturieren Sie Ihre Geschichten?
RE: Ich habe ein einfaches Rezept. Zuallererst muss ich wissen, welches Ziel ich mit meiner Geschichte verfolge und worauf ich eigentlich hinauswill. Gleichzeitig überlege ich mir, was der Ausgangspunkt und wie der Weg ist, um zum angestrebten Ende zu kommen. Ein Film zerfällt meistens in drei Akte. Im ersten Akt muss alles etabliert werden, die Geschichte, die Charaktere und der Konfliktstoff, alles muss eingeführt und entwickelt werden. Dafür stehen einem in der Regel 30 Filmminuten zur Verfügung. Der zweite Akt ist praktisch der Weg zum Ende. Die Menschen beginnen eine Reise von A nach B. Bei John Fords Westernklassiker Ringo – Höllenfahrt nach Santa Fé kommen die Charaktere im ersten Akt zusammen. Im zweiten begeben sie sich mit einer Postkutsche auf die Reise. Hier wird gleichzeitig in den dritten Akt übergeleitet. In ihm ist das Ziel beinahe erreicht, aber die Protagonisten müssen noch um das Ergebnis kämpfen.
Können Sie den vorher erwähnten Übergang vom ersten in den zweiten Akt erklären?
RE: In einem Film sollte es wenigstens zwei überraschende Wendungen geben. Im ersten Akt ist es der Moment, der die Geschichte überhaupt ins Rollen bringt, im zweiten muss sie den Schluss einleiten. Hier sollte der Zuschauer erkennen, dass es zur Haupt-Konfrontation des Films kommt. Nur durch einen Überraschungseffekt kann man zu etwas Neuem überleiten, sonst langweilt sich das Publikum. Einfaches Beispiel: Der Moment in E.T., in dem der Außerirdische todkrank wird. Das ist der Wendepunkt der Geschichte und die Überleitung zum Schluss. Jetzt kann der Kampf um sein Überleben beginnen. Die Frage, um die sich alles dreht: Schafft es E.T. wieder nach Hause oder stirbt er. Darum geht es im Schlussakt.
Welcher strukturelle Unterschied besteht zwischen Tragödie und Komödie?
RE: Keiner! Nehmen Sie Billy Wilders Komödie Manche mögen’s heiß. Auch sie passt ins Raster. Im ersten Akt geht es darum, dass zwei Männer gezwungen werden, sich als Frauen zu verkleiden. Im zweiten Akt reisen sie in ein Hotel, im dritten kommt es schließlich zum Höhepunkt, denn da treffen sich alle Figuren aus dem ersten Akt. Jeder bekommt den Mann oder die Frau, um die es geht. Erster und letzter Akt sind immer etwas kürzer, schneller und geballter als der Mittelteil, denn der Mittelakt trägt die Handlung und die Konfrontation zwischen den einzelnen Figuren.
Welche Tipps können Sie jemandem geben, der sein erstes Drehbuch schreibt?
RE: Wer sein erstes Drehbuch schreibt, sollte darauf achten, dass dessen Verfilmung keine 20 Millionen Dollar oder mehr kostet. Die Produzenten trauen einem das einfach nicht zu. Kleine, überschaubare Geschichten sind ein guter Anfang. Ein Kammerspiel wäre eine fruchtbare Übung, denn da lernt man sehr gut, mit Figuren umzugehen. Das kann ein Krimi, ein Horrorfilm oder eine Komödie sein. Wichtig ist immer: Man sollte sich gut auskennen in dem Sujet, über das man schreibt.
Ein berühmter Drehbuch-Autor und -Theoretiker, William Goldman, behauptet: Kinogeschichten sollten langsam beginnen.
RE: Darüber lässt sich streiten. Goldman ist ein Verfechter des alten – klassischen – Hollywood-Erzähl-Kinos. Er ist von den 1940er und 1950er Jahren geprägt. Wäre er nicht ein so erstklassiger Drehbuchautor, könnte er für den modernen Film gar keine Scripts mehr schreiben. Heutige Unterhaltungsfilme funktionieren meiner Meinung nach völlig anders als die der 1940er und 1950er Jahre. Der Anfang muss stark, sehr stark sein! Wenn in meinem Drehbuch nach den ersten zehn Seiten nichts Aufregendes, Fesselndes passiert, schmeißt es der Produzent sofort in den Müll. Er weiß, dass das Publikum sich langweilt, wenn in den ersten zehn Filmminuten, das entspricht zehn Drehbuchseiten, nichts Spannendes passiert. Man sollte also darauf achten, dass man nach diesen ersten zehn Minuten weiß, wer die Hauptfigur ist. Es können natürlich auch mehrere Hauptfiguren sein, was jedoch sehr schwierig ist. Aus diesem Grund arbeitet nahezu jeder moderne amerikanische Unterhaltungsfilm mit nur einer Hauptfigur. Man will den Zuschauer nicht überfordern. Ein vollkommener Blödsinn, wie ich finde, weil Filme mit mehreren Hauptfiguren oft die besseren und spannenderen sind. Ein großer Künstler in dieser Hinsicht war Alfred Hitchcock. Er präsentierte meist drei oder vier Hauptfiguren und führte sie gleichzeitig ein. Manchmal stellte er sie auch, wie in Psycho, nacheinander vor. Wobei er gerade in diesem Film extrem experimentierte, denn die eigentliche Hauptfigur dieses Thrillers ist die Mutter von Norman Bates, die jedoch erst am Ende auftaucht.
Manche Kritiker bemängeln an Psycho die Schlusssequenz, in der eine ausführliche Erklärung für Norman Bates’ psychotischen Zustand gegeben wird, als viel zu lang. Sind Sie auch dieser Meinung?
RE: Ich habe den Film zum ersten Mal mit 15 oder 16 Jahren im Fernsehen gesehen und den Schluss nicht als schlecht empfunden. Im Gegenteil: Mir gefiel es, dass man Norman Bates noch einmal in der Zelle sitzen sieht, wie er mit sich selbst redet. Im Grunde geht es beim Filmemachen immer darum, Bilder und Szenen zu erfinden, die für den Zuschauer unvergesslich bleiben. Dramaturgische Fehler können einem Film natürlich schaden. Bei Psycho jedoch sind sie bedeutungslos, weil die Bilder unbeschreiblich stark sind. Allein die Blicke verbreiten hier blanken Horror. Dramaturgisch gesehen ist Psycho ein klassisches Beispiel dafür, wie man es nicht machen sollte. Zu Beginn wird eine Hauptfigur eingeführt, kurze Zeit später wird sie umgebracht und verschwindet aus dem Film. Weitere Hauptpersonen suchen sie und folgen ihr auf die gleiche Weise. Das ist eigentlich eine ganz untypische Dramaturgie. Erst nach und nach wird dem Zuschauer klar, wer die eigentlichen Hauptpersonen sind. Nämlich Norman Bates, der Hotelbesitzer, und vor allem seine Mutter …
Wenn heute ein Produzent diese Story auf den Tisch bekäme, würde er sagen: „Diese Geschichte funktioniert nicht.“ Einem Erstlings-Regisseur würde er so etwas niemals zutrauen. Er würde ihn dazu bringen, einen Hauptcharakter einzuführen, der nicht umgebracht wird, sondern erlebt, wie um ihn herum Menschen von einem mysteriösen Killer getötet werden.
Wie ausgefeilt sind Ihre Drehbücher?
RE: Ich bin zuallererst Regisseur, deshalb sind meine Drehbücher keine Musterbeispiele. Mir ist die Diskussion um einen Stoff sehr wichtig, weshalb ich meine Scripts gerne anderen Leuten zu lesen gebe. Man sollte ein Drehbuch niemals verfilmen, ohne vorher mit anderen darüber gesprochen zu haben. Da es in Deutschland keine Drehbuch-Kultur wie in Amerika gibt, bin ich einfach dazu verdammt, mich selbst darum zu kümmern. Für mich als Unterhaltungs-Regisseur wäre es besser, mit guten Drehbuchautoren zusammenzuarbeiten. Ich bin eigentlich ein Mann des Bildes, der Umsetzung, der Organisation. Mein Problem ist aber, dass ich einen Film visuell von vornherein im Kopf habe, und das einem Drehbuchschreiber zu vermitteln, ist fast unmöglich. Ich kann schließlich nicht verlangen, dass er das schreibt, was ich im Kopf habe. Bei mir gibt es entweder eine Grundidee oder ein Gefühl, das mich dazu bringt, einen Film zu realisieren. Sollte sich daraus plötzlich etwas anderes entwickeln, weil ein Drehbuchautor das Ganze ändert, gäbe es keinen Grund mehr, diesen Film zu machen.
Besteht die Gefahr, dass ein Filmemacher vor lauter Regeln, die er beachten muss, keine Ideen mehr hat?
RE: Nein. Wer viel über Mathematik weiß, ist nicht unbedingt ein schlechter Mathematiker. Man kann am besten aus seinen eigenen Fehlern lernen. Was mich in diesem Kontext ärgert: Viele Kritiker wollen nicht respektieren, wie schwierig die Herstellung eines Films ist. Es ist erstaunlich, wie gern das übersehen wird. Der Schwierigkeitsgrad wird beim Filmemachen völlig ignoriert. Ich wundere mich manchmal über Fernsehsendungen, in denen Filme besprochen und kritisiert werden. Der Witz ist, dass diese Sendungen die gleichen Fehler begehen, wie die Filme, die sie kritisieren. Nicht selten können Sie eine Filmkritik von sechs Minuten Dauer angucken, ohne am Ende zu wissen, was eigentlich in dieser Zeit besprochen wurde. Ein Film muss in sechs Minuten wahnsinnig viel erzählen, sonst ist er nicht gut. Mir sind spontane Kritiken am liebsten. Wenn jemand nach der Vorstellung aus dem Kino kommt und meint: „Dieses hat mir gefallen, jenes nicht.“ In so einem Falle können Sie als Regisseur fragen: „Warum hat Ihnen das nicht gefallen?“ Und der Zuschauer antwortet: „Weil ich es unglaubwürdig fand.“ Dann können Sie weiter nachforschen, was er unglaubwürdig fand, und die Ursachen ermitteln. Oft sind es übrigens nur Kleinigkeiten, die einen Film in Misskredit bringen.