Читать книгу Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa - Joachim Bitterlich - Страница 30
II. Kapitel
Helmut Kohls „rote Fäden“ – Determinanten deutscher Außenpolitik 1. Ausgangspunkte und Grundlagen
ОглавлениеAusgangspunkt meiner Beobachtungen und Betrachtungen als „Zeitzeuge“ der Ära Kohl müssen die Determinanten, die Grundlagen und Ziele deutscher Außenpolitik darstellen. Ich möchte dabei auch vor allem der Frage nachgehen, inwieweit diese sich mit der deutschen Wiedervereinigung und dem Ende des Ost-West-Konflikts verändert haben.
Es mag kaum jemanden, der mich kennt, verwundern, dass ich das deutsch-französische Verhältnis und seine Zukunft quasi „vor die Klammer“ ziehe und ihm besondere Aufmerksamkeit widme.
Darauf aufbauend folgen die Entwicklung der deutschen Europapolitik in jenen Jahren als dem zentralen Baustein deutscher Politik sowie die Fragen nach der deutschen Außenpolitik, insbesondere das Verhältnis zu Nordamerika, ehemals Eckpfeiler unserer Außenpolitik, heute in der Gefahr des Auseinanderdriftens, sowie zu Asien und den anderen Kontinenten. Sie zeigen auf, wie sehr die heutigen Fragen, Krisen, Konflikte doch in Wahrheit bereits in jener Zeit „angelegt“ waren und nicht gelöst werden konnten bzw. sich anders als gedacht entwickelt haben. Dem schließen sich aufbauend auf der Rückschau Überlegungen zur Zukunft und Zukunftsfähigkeit Deutschlands und Europas an.
Deutschlands Geschichte, seine geopolitische Lage, seine innere politische und wirtschaftliche Statur bestimmen seine Außenpolitik – ein banal klingender Satz, dessen Ausbuchstabierung jedoch alle Probleme und Fallstricke offenlegt.
Deutschland war und ist in Europa das Land mit den meisten Grenzen, wir haben mehr unmittelbare Nachbarn als alle anderen Partner – insgesamt neun. Deutschland liegt mitten auf dem Kontinent, ein Durchgangs-, heute würde man sagen Transitland an der Schnittstelle von Ost und West, Nord und Süd, ein offenes Land, nur zu einem geringen Teil mit natürlichen Grenzen. Über Autobahngebühren, Grenz- oder Immigrationskontrollen – heute über Flüchtlinge – bei uns zu sprechen und eine entsprechende Politik zu praktizieren, ist ein gutes Stück komplizierter als für viele unserer Partner in Europa.
Es kommt hinzu, Deutschland ist heute mit seinen gut 80 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land und zugleich die stärkste Wirtschaftskraft Europas. Dies macht unsere Lage schwieriger, zudem gibt es uns eine größere Verantwortung nach innen wie nach außen.
Wesentlich ist auch, dass wir ein Land mit einer schwierigen Geschichte sind. Es ist hier nicht der Raum, dies im Einzelnen auszuführen und zu bewerten. Wir haben mit die kürzeste Geschichte als Nation, wir müssen uns der Verantwortung für die durch die Nazis im deutschen Namen geschehenen Verbrechen an den Juden, aber auch anderen europäischen Nationen stellen. Wir können sie nicht einfach in das Buch der Geschichte ablegen, sondern müssen wissen, wie wir damit umgehen.
Mir ging diese Frage immer wieder durch den Kopf, als sich im Jahre 2000 in einer mir bis heute kaum verständlichen Aktion die Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder zusammen mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac an die Spitze der Bewegung setzte, um den Nachbarn Österreich angesichts des Eintritts des liberal-radikalen Jörg Haider in die Regierung unter Bundeskanzler Wolfgang Schüssel auf die europäische Anklagebank zu setzen. Ziel war es, im Vorgriff auf die neuen, noch gar nicht in Kraft getretenen europäischen Vorschriften des Vertrages von Nizza Österreich unter Quarantäne bzw. Kuratel zu stellen. Ich dachte mit Schaudern an mögliche andere Fälle, an größere Länder wie Frankreich oder Italien, aber auch an uns selbst.
Wie würden dann die Mitgliedsländer der EU und ihre Institutionen reagieren? Und, wenn meine Informationen richtig sind, hatte wie so oft eine menschliche Reaktion am Anfang dieses politische Erdbeben ausgelöst: Jacques Chirac hatte vergeblich versucht, dem österreichischen Bundeskanzler klar zu machen, er müsse auf eine Koalition mit den Freiheitlichen verzichten, dies vor einem rein französischen Hintergrund. Er befürchtete, dass dadurch der Front National hoffähig, regierungsfähig werden könnte. Schüssel musste der Bannstrahl daher doppelt hart treffen! Sein Ziel war es doch, die Freiheitlichen durch die Einbeziehung in Regierungsverantwortung zu zerreiben. Und Gerhard Schröder, ihm schien dies gut in die Abgrenzung zur CDU zu passen.
Was bedeutet dies für den Umgang mit Geschichte? Kann dies die richtige Antwort auf das Entstehen populistischer Bewegungen in einzelnen Ländern sein? Muss nicht die Politik selbst durch Inhalte auf solche Gefahren reagieren? Muss Europa insoweit nicht politisch helfen anstatt abzustrafen?
Denken wir nur an die aktuelleren Fälle in der EU – Ungarn und Polen, Fälle, in denen sehr leichtfertig mit einer halbwegs objektiven Betrachtung umgegangen wird, ohne den geschichtlich-politischen Hintergrund dieser Länder zu bedenken – und ohne die Frage zu stellen, ob wir, der frühere Westen genug getan haben, um die junge Demokratie in diesen Ländern zu fördern. Messen wir nicht allzu leicht mit zweierlei Maß, wie jüngst mein AA-Crew Kollege Rudolf Adam in einem Cicero-Beitrag sehr eindrucksvoll und durchaus berechtigt herausgearbeitet hat.1 Und versuchen wir bitte nicht, alle Vorgänge und Entwicklungen unbedingt juristisch zu erfassen! In Wahrheit denken wir doch in Europa in den verschiedenen Staaten über die Grundlagen von „Demokratie“ und „Rechtsstaat“ bis heute recht unterschiedlich.
Das europäische politische Gefüge, seine Maschinerie sind insofern noch nicht hinreichend gefestigt, sie sind abhängig von politischen Strömungen, ja Stimmungen in den einzelnen Mitgliedstaaten, sie werden leicht zu bequemen Zielscheibe, ja zum Sündenbock!
Die genannten kritischen Beispiele stammen aus der Zeit „nach Helmut Kohl“, seine Ära war genauso wenig frei von Gratwanderungen dieser Art – und damit Themen, über die wir oft, und nicht nur beiläufig, diskutiert haben.
Die jüngere Geschichte hinterlässt verständlicherweise bei uns Narben, Ängste, Schuld- bzw. Verantwortungskomplexe, zum Teil auch eine gewisse Verklemmtheit, wie französische Freunde durchaus berechtigt häufig feststellen.
Die Wiedervereinigung hat diese Komplexität unserer Lage noch verstärkt. Wir standen und stehen nicht nur vor der Herausforderung die neuen Bundesländer zu integrieren, unseren Landsleuten zum gleichen „Standard“ wie im Westen zu verhelfen. Wir haben diese Aufgabe in ihrer Tragweite meiner Auffassung nach am Anfang unterschätzt, wir wussten einfach zu wenig, haben manches auch buchstäblich verdrängt. Zu Anfang lag dies vielleicht auch daran, dass alles schnell gehen sollte und musste. Hinzu kommt, dass die Mehrheit der Deutschen letztlich nicht mehr an das Zustandekommen der Wiedervereinigung geglaubt hat bzw. sich mit ihr abgefunden hatte.
Wenn sich schon im November 1989 eine Minderheit im Führungskreis des Kanzleramts auf Beamtenebene – nämlich die klassischen „Deutschland-Politiker“ – gegen die „Zehn Punkte“ des Bundeskanzlers aussprach, um die bisherige Entspannungspolitik nicht zu gefährden, wie sollte dann die Mehrheit in der Bevölkerung denken?
Ich bin davon überzeugt, wir werden für die volle Angleichung der Lebensverhältnisse letztlich mindestens zwei Generationen brauchen. Dies gibt uns einen Eindruck, welcher Herausforderung wir uns in Wahrheit bei der Ost-Erweiterung der Europäischen Union gegenüber standen und stehen.
Hand aufs Herz: wären die Mitgliedstaaten der „alten“ EU bereit, zwei Jahrzehnte jährlich 4% ihres Bruttoinlandsprodukts für die Wiedervereinigung mit einem Teil ihres Landes zu „opfern“? Dies sind die jährlichen Transferleistungen Deutschlands gegenüber den neuen Bundesländern.
Der französische Präsident François Mitterrand hat einmal fast beiläufig – seine eigene Premierministerin Edith Cresson korrigierend – im Rahmen eines deutsch-französischen Gipfels nach der deutschen Einheit 1991 in Lille, natürlich außerhalb des Protokolls, festgestellt, wenn ein Staat dies in Europa könne, dann sei es Deutschland – und dieses Deutschland sei dann stärker als je zuvor.
Nur: diese neue Größe Deutschlands hat das unbewusste Misstrauen, auch Neid und Missgunst unserer Freunde und Partner aufs Neue geweckt. Für manche wird es – verstärkt durch die politisch-wirtschaftliche Schwäche Frankreichs wie anderer Partner, das Auseinanderdriften der Kraft der beiden Länder zum Gefühl der „Erniedrigung“. Dies äußert sich selten offen, ist jedoch latent vorhanden, bricht leicht aus und hat sich heute angesichts des wirtschaftlichen Gewichts noch verstärkt.
Zugleich wird von uns als dem „wirtschaftlichen Hegemon“ jedoch zunehmende Normalität und vor allem auch Solidarität erwartet. Die „Ausrede“ deutsche Teilung steht uns nicht mehr zur Seite. Bundeskanzler Helmut Kohl hat hier zu Recht auf einen vorsichtigen, graduellen Prozess gesetzt und dies vor allem auch im Hinblick auf etwaige Einsätze der Bundeswehr unterstrichen.
Auch wenn man objektiv davon ausgehen muss, dass Deutschland – wie umso stärker seine großen Partner Frankreich oder bisher das Vereinigte Königreich – sich noch erst in seiner neuen Rolle, seinem Platz in Europa zurechtfinden muss, so nehmen uns die Partner diese „Selbstfindung“ mit zunehmendem Abstand von der Wiedervereinigung allenfalls eingeschränkt ab.
Aufgrund unserer geopolitischen Lage sind wir Deutschen, ob wir das so mögen oder nicht, auf Gedeih und Verderb von der Entwicklung um uns herum abhängig, Europa ist die politische und wirtschaftliche Grundlage unseres Wohlergehens, daher ist, so banal dies klingt, die europäische Entwicklung von vitalem Interesse für die Existenz und Zukunft unseres Landes.
Zugleich sorgt die Einbettung in die europäische Integration dafür, Deutschland mit seiner Größe und Geschichte, aber auch ein wenig aufgrund unseres Charakters für die anderen Europäer verkraftbar, „erträglich“ erscheinen zu lassen. Dies bedeutet nicht, dass wir nur schlucken, alles hinnehmen müssen, nein, wir müssen vielmehr alles daran setzen, dass diese Entwicklung mit unserem wohlverstandenem Interesse übereinstimmt. Ein deutsches „Fremdeln“ im Verhältnis zu Europa, eine sichtbare Dominanz trägt unwillkürlich zu einem Abwehrverhalten seitens der Partner, ja zu einer Renationalisierung in Europa bei. Dies setzt ein gesundes Maß an Bescheidenheit, an permanenter Vertrauensbildung und auch an Selbstbewusstsein voraus, wobei es uns Deutschen aufgrund unseres Charakters mitunter nicht leichtfällt, das richtige Maß zu finden. Es wird von uns ein Maß an psychologischem Geschick verlangt, das uns in unserer Geschichte selten gelungen ist.
Dies gilt zum Beispiel ganz besonders für das Verhältnis zu den kleineren Mitgliedstaaten. Eine der großen Stärken von Helmut Kohl im europäischen Konzert war die Pflege des Verhältnisses zu dieser Mehrheit der Mitgliedstaaten. Er ermahnte uns Mitarbeiter unablässig, bei aller Notwendigkeit der engen Zusammenarbeit mit Paris, London, Madrid, Rom oder zunehmend auch Warschau immer ein offenes Ohr für die Anliegen und Auffassungen der kleineren Mitgliedstaaten zu haben.
So wichtig es sei, mit Frankreich die besten und engsten Beziehungen zu pflegen, so wichtig sei es, mit den anderen Partnern, insbesondere mit den kleineren Ländern eng und vertrauensvoll zusammen zu arbeiten. Die Beispiele „Luxemburg“ oder „Dänemark“ standen insofern für viele andere Partner und schloss aber auch die anderen „Großen“ ein – ob das Vereinigte Königreich, Italien, Spanien oder Polen.
Ein nordischer Politiker, früherer sozialdemokratischer Ministerpräsident eines dieser kleineren Länder, bestätige mir dies mehrfach mit den Worten: „In der Kohl-Ära wussten wir, dass wir bei Euch gut aufgehoben sind. Wir konnten uns auf Helmut Kohl immer verlassen. Er hat uns nie übervorteilt oder im Regen stehen lassen. Wenn ich ein echtes Problem mit Brüssel, anderen Mitgliedstaaten oder selbst zu Hause hatte, konnte ich ihn immer erreichen oder Dich als Überbringer nutzen. Ihr habt uns Kleine nie über den Tisch gezogen, sondern uns geholfen. Leider ist dies vorbei“.
Oder nehmen wir die in Deutschland immer wieder aufkeimende Debatte über den „Zahlmeister Europas“. Es ist richtig, wir haben über die Jahre, gemessen an dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf als der wohl vernünftigsten Messzahl, mehr in die Brüsseler Gemeinschaftskasse gezahlt als wir daraus erhalten haben. Deutschland ist der größte Nettozahler. Heute sind dies jährlich über 13 Mrd. €. Auf der anderen Seite steht Polen mit über 12 Mrd. € als der größte Nettoempfänger 2
Mir scheint indes, dass es diesen Geistern nicht bewusst war und ist, wie sehr Europa zu unserem Wohlstand beiträgt. Ein Gutteil unserer Exporte geht nach EU-Europa, sie bilden trotz aller Globalisierung unverändert das „Rückgrat“ der deutschen Wirtschaft. Hätten wir nicht offene Grenzen und den europäischen Binnenmarkt, so wäre ein solches Maß an Wohlstand nie möglich gewesen. Natürlich müssen die Wirtschaft selbst wie auch die Politik bei der Setzung der Rahmenbedingungen darauf achten, dass weder daraus noch aus den Exporten in andere Weltregionen zu grosse Abhängigkeiten entstehen.
Und es steht auf einem anderen Blatt, dass es selbstverständlich ist, für einen gerechten oder zumindest zu rechtfertigenden Beitrag einzutreten. Wir sind mit der europäischen Ausrichtung, die von allen bisherigen Bundesregierungen mit unterschiedlicher Intensität mitgetragen wurde, in Wahrheit gut gefahren.
Heute ist Deutschland zum ersten Male in seiner Geschichte nur von Ländern umgeben, mit denen es in Frieden und Partnerschaft lebt. Wie anders hätte bei uns wie in Europa über die Jahre ein solches Maß an Wohlstand, an sozialer Sicherheit entstehen können, wie anders könnten wir heute auf über ein halbes Jahrhundert Frieden, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat zurückblicken. Darauf können und sollten wir Deutschen und Europäer stolz sein.
Aus all diesen Prämissen folgen ganz natürlich die grundlegenden Prioritäten der Außenpolitik Deutschlands, vor und erst recht seit der deutschen Wiedervereinigung: Frieden und Freundschaft mit allen Nachbarn und vor allem die europäische Integration, aufbauend auf dem deutsch-französischen Verhältnis.