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François Mitterrand

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Wer hätte gedacht, dass zwei so unterschiedliche Persönlichkeiten, ein auf den ersten Blick so gegensätzliches „Paar“ wie Francois Mitterrand und Helmut Kohl, ein Tandem und in gewisser Weise auch Freunde werden sollten, die verantwortlich waren für den späteren europäischen Aufschwung und die Europa immer wieder auf das richtige Gleis setzten.

Ich habe diese Beziehung oft als „europäische Komplizenschaft“ („complicité européenne“) bezeichnet, ein Wort, das in der Sprache unseres Nachbarn nicht nur den negativen Beigeschmack wie in der deutschen Sprache, sondern vor allem auch positiv im Sinne einer „gemeinsamen Verschwörung“ für eine gute Sache verstanden werden kann.

Oft genügte bei Europäischen Räten ein Satz, ein Stichwort, das der andere – auch wenn er wie Mitterrand gerade dabei war, seine legendären Ansichtskarten zu schreiben – dann aufnahm und den Faden fortspann, die politische Idee weiterentwickelte. Es gab aber auch immer wieder Rücksichtnahme des einen auf die politischen Grenzen oder Sensibilitäten des Partners.

Regelmäßig machte die Geschichte auch nicht halt vor seinen Gesprächen mit anderen Staats- und Regierungschefs, vor allem mit Präsident Mitterrand. Die beiden redeten ausgesprochen gern über Geschichte, ob es um den Widerstand während der Besetzung Frankreichs ging oder über den Algerienkrieg, um nur einige Themen zu nennen.

Zu vorgerückter Stunde konnte es dann passieren, dass Hubert Védrine auf die Uhr schauen musste und vorsichtig bekannte: „Herr Bundeskanzler, Herr Präsident, in einer Stunde (oder in einer guten halben Stunde) wird die Presse auf Sie warten“.

Daraufhin kam dann der Kommentar, zumeist von Mitterrand: „Ach ja, schon? Das Gespräch war jetzt viel interessanter als Euer Technokraten-Zeug“. Na gut – wir trugen dann vor, was wir vorbereitet hatten. Dann haben wir zusammen mit den beiden Chefs konzentriert die Tagesordnung durchgearbeitet. Das war nicht weiter schlimm, da sich die beiden gut kannten, ergänzten und wussten, wo evtl. Probleme und Fallen lauern könnten. Die beiden gingen raus vor die Presse und haben in Kurzform über die wesentlichen Sachthemen berichtet frei nach dem unausgesprochenen Motto: „Für weitere Fragen stehen die Herren Védrine und Bitterlich zur Verfügung.“ Das gute war, Hubert Védrine und ich, wir verstanden uns ausgezeichnet. Und an solchen Abenden haben wir Geschichte, auch vieles persönliches über unsere Chefs und ihren Lebensweg gelernt.

Eines dieser Beispiele war der Algerien-Krieg, die ausstehende Aussöhnung Algerien-Frankreich. Auf Bitten von Helmut Kohl berichtete Mitterrand ohne Umschweife über das schwierige Verhältnis zum „früheren Departement“, seine Hintergründe und unerledigten Probleme. Unter Hinweis auf die Aussöhnung mit Frankreich und Polen bot der Bundeskanzler offen seine Mithilfe in Bezug auf Algerien an, wenn Frankreich dies wünsche. François Mitterrand schien nicht abgeneigt, doch die politische Klasse Frankreichs mochte von einer solchen Hilfestellung nichts wissen, und der Präsident war in der letzten Phase seiner zweiten Präsidentschaft zu geschwächt und durch seine Krankheit gezeichnet, um diesen Widerstand zu überwinden. Helmut Kohl interessierte sich als Politiker und Historiker für dieses hoch sensible, schwierige Kapitel französischer Geschichte und Gegenwart – und so stand dieses Thema zum Beispiel im Mittelpunkt eines faszinierenden Meinungsaustauschs mit dem marokkanischen König Hassan II Anfang Juni 1996 in Rabat. Hassan II war sich mit Helmut Kohl darin wohl einig, dass die Hilfe von Freunden zur Überwindung der inneren Blockaden in Frankreich nützlich sein könnte.

Bei den Gesprächen sprach Mitterrand auch offen seine Jugend an, er, der aus einer rechten, katholisch geprägten Familie stammte, in Vichy mitgemacht hat und dann in den Widerstand ging. Védrine und ich hatten das Vergnügen, das bekannte Buch von Pierre Péan ein halbes Jahr vor Erscheinen kennen zu lernen. Kohl und Mitterrand diskutierten über ihre Jugendzeit, über Familiengeschichte und Mitterrand über seine Flucht aus Deutschland.

Die Legendenbildung um die Feierlichkeiten anlässlich der 50. Wiederkehr der Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1994 sind ein anderes typisches Beispiel für die Sensibilitäten im deutsch-französischen Verhältnis, aber auch für das persönliche Verhältnis Kohl-Mitterrand. Um die Nicht-Teilnahme des Bundeskanzlers haben sich – bis heute – eine Reihe von Legenden gerankt. Eine SPIEGEL-Anfrage anlässlich des runden Feiertages 2004 – an dem Bundeskanzler Gerhard Schröder teilnahm – hat mir dies eindrucksvoll vor Augen geführt.

Ich erinnerte mich in den groben Zügen an jene Umstände. Klar war mir, dass es eine echte Einladung nicht gegeben hatte. Hubert Védrine hatte bei mir vorsondiert, ob der Bundeskanzler eventuell an einer Einladung interessiert sein könnte. Und der französische Präsident stellte dem Bundeskanzler direkt die gleiche Frage, die der Bundeskanzler in etwas wie folgt beantwortete, er sei sich der Bedeutung einer solchen Geste seitens des Präsidenten mehr als bewusst, frage sich aber, ob diese dem Präsidenten nicht Schwierigkeiten bereiten könne, zumindest noch gegenüber einzelnen Verbänden und Ländern. Aus der Sicht vieler seien die Wunden noch nicht vollständig verheilt.

Und es sei angemerkt, die Normandie war mit Verdun nicht vergleichbar! Noch 1966 anlässlich der 50-Jahrfeier der Schlacht von Verdun, auf dem Höhepunkt der Freundschaft zwischen de Gaulle und Adenauer dachte de Gaulle nicht daran, Adenauer einzuladen. 1984 erst schien die Zeit für eine solche Einladung reifer. Genau wie man bis hin zu gemeinsamen Forschungsvorhaben nochmals 30 Jahre brauchte! Damit war das Thema aber nicht erledigt! Mitterrand antwortete dem Bundeskanzler, er danke ihm für seine offene Antwort, er wolle jenen Tag daher gerne mit einer besonderen Geste an das deutsche Volk verbinden – und so entstand die Idee eines großen deutsch-französischen Jugendtreffens zwei Tage später in Heidelberg!

Interessant genug, dass der SPIEGEL-Redakteur mir dann bedeutete, dies alles stimme mit seinen Recherchen überein. Die „Story“ wurde dann aber in der Ausgabe des SPIEGELS nur am Rande erwähnt, sie passte halt nicht ganz in das Bild der Hamburger Redaktion. Noch erstaunter war ich, als der Redakteur mir dann die „Materialien“ seiner Recherchen überließ: Ich fand darin Papiere aus verschiedenen Häusern der Bundesregierung, die den Kern der Frage des Journalisten nicht beantworteten, aber auf einer bestimmten Perzeption – eine Einladung muss wohl erfolgt sein – aufbauten! Wir waren damals wohl zu diskret bei der Behandlung dieser Frage.

Hinzufügen muss man, dass sich dieses deutsch-französische „Paar“ damals auf ein zweites Tandem innerhalb der Regierungen stützen konnte, das nicht weniger unterschiedlich war als die beiden Chefs selbst, auf die beiden Außenminister Roland Dumas und Hans-Dietrich Genscher. Beide waren keine „gewöhnlichen“ Kabinettsmitglieder, sondern hatten jeder auf seine Weise eine besondere Stellung und eine „eigene Agenda“. In den ersten Jahren habe ich in Paris, soweit irgend möglich, auch regelmäßig im Kabinett von Roland Dumas vorbeigeschaut und mit seinem Kabinettsdirektor, Bernard Kessedjan, den ich in Brüssel kennen und schätzen gelernt hatte, gesprochen. Nicht selten kam Roland Dumas für einen Café dazu.

Ein anderes Beispiel ist der in Frankreich wohl kaum hinreichend bekannte 20. Juli 1944. Mitterrand war einmal zu den regelmäßigen offiziellen Konsultationen in Bonn und Helmut Kohl erzählte ihm, er habe eben einen Gast bei sich gehabt. „Vielleicht interessiert Sie dieser Gast. Er ist der letzte Überlebende des 20. Juli 1944, Ewald von Kleist. Würde es Sie interessieren, ihn zu treffen?“ – „Gerne!“

Daraufhin wurde Ewald von Kleist gesucht, er war zuvor beim Bundeskanzler und verließ gerade das Kanzleramt – er wurde an der Wache vom Bundesgrenzschutz gestoppt. Er möge bitte sofort zurück zum Kanzler kommen. Ewald von Kleist hat dann zunächst im Beisein von Kohl, die Mitarbeiter gingen raus, in der Folge mit Mitterrand alleine gesprochen, der sich die Geschichte des Ewald von Kleist und des Widerstands des 20. Juli angehört hat.

Mitterrand bekam seine, ihn faszinierende deutsche Geschichtsstunde. Bei dem Gespräch mit Kleist fasste sich nach einer Stunde der Leiter des Kanzlerbüros, Walter Neuer, ein Herz und fragte vorsichtig nach: „Herr Bundeskanzler, die Delegationen, auch der Premierminister werden unruhig. Die haben schon gemeint, es gibt eine Krise zwischen uns. Sie haben jetzt schon eine Stunde überzogen.“

Kern um den Präsidenten und den Bundeskanzler waren die engen Mitarbeiter – eine französische Wochenzeitung bezeichnete uns in jenen Jahren als „Musketiere“ – das waren in den „Mitterrand“-Jahren zunächst Horst Teltschik bzw. Peter Hartmann und Jacques Attali, Jean-Louis Bianco und vor allem Hubert Védrine, die „Conseiller diplomatique“ Pierre Morel, Jean Musitelli, die „Europa-Berater“ Elisabeth Guigou und ihre Nachfolger Sophie-Caroline de Margerie bzw. Thierry Bert, später in der Zeit von Jacques Chirac waren dies Jean-David Levitte, Pierre Ménat und Jean-François Cirelli – auf unserer Seite natürlich Johannes Ludewig und sein Nachfolger Sieghart Nehring, aber auch Walter Neuer, der Leiter des Kanzlerbüros, gehörte genauso zu diesem engeren Kreis.

Die „complicité“ unserer Chefs galt auch für uns. Wir waren angesichts unterschiedlicher Interessen oft unterschiedlicher Auffassung, verfolgten unterschiedliche Ansätze und Methoden, wir diskutierten aber Inhalte, wenn notwendig streitig und intensiv, bis wir Ansätze zu einem gemeinsamen Vorgehen sahen, die zugleich den Partner nicht überforderten. Wir „erduldeten“ manchmal die Spötteleien unserer Chefs über unsere gemeinsame Ausbildung, die ENA – wollten es dann aber den Chefs umso mehr zeigen, dass wir es konnten!

Unvergesslich einer dieser Abende im Vorfeld von Maastricht im Elysée. Wir hatten den Chefs eine der gemeinsamen Initiativen vorgelegt. Und der Bundeskanzler schloss sich launisch dem lakonischen Kommentar des Staatspräsidenten an, dies sei ja alles schön und gut, der Text aber zu technokratisch und politisch viel zu lang. Der Hinweis des Kanzlers „ich lasse Euch den Bitterlich zur Überarbeitung da“ führte zu einer nächtlichen Neufassung. Ende der Arbeit morgens um 4 Uhr – der Elysée hatte ein Hotelbett gefunden und morgens früh ging es mit der ersten Maschine zurück nach Köln-Bonn, direkt mit dem – handgeschriebenen – kürzeren Text zum Bundeskanzler, der ihn sogleich auch billigte: „Warum nicht gleich so?“. Er hatte in der Sache recht, nur wütend – und k.o. – war ich trotzdem!

Und so wussten damals Kanzleramt und Elysée, dass ich am Rande meiner Gespräche regelmäßig eine ältere Dame aufsuchte, zumindest für einen Café. Es war Georgette Rabinowitch, die beste Freundin meiner Schwiegermutter. Sie hatte ihren Mann, einen bekannten Pariser Anwalt durch Denunziation seitens seiner ersten Frau im KZ Auschwitz verloren und während des Krieges in Paris jüdische Kinder betreut, die eines Tages trotz aller Vorsicht von der Gestapo gestellt und verschleppt wurden, sie selbst aber mit Glück und Verstand davonkam. Die Gruppe, die die Kinder betreute, war denunziert worden und die Kinder traf das gleiche Schicksal wie ihren Mann!

Und die Familie meiner künftigen Frau hatte sie bewusst zum ersten Besuch bei meinen Eltern mitgenommen. Ich war für sie der erste Deutsche, mit dem sie sprach, ja sie hatte Vertrauen in mich und wurde für mich zur „tante Georgette“ oder mütterlichen Freundin.

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