Читать книгу Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa - Joachim Bitterlich - Страница 36
Valéry Giscard d'Estaing
ОглавлениеErwähnen muss ich in dieser Reihe das Verhältnis von Helmut Kohl zu Valéry Giscard d'Estaing. Man konnte es im Grunde sehr klar als ein „Nicht-Verhältnis“ geprägt durch eine „herzliche gegenseitige Abneigung“ charakterisieren. Für Giscard war Helmut Schmidt alles und umgekehrt hielt Kohl Distanz zu ihm.
Chirac suchte ab Anfang seiner Amtszeit 1995 fast krampfhaft eine Aufgabe für Giscard auf europäischer Ebene. Er wollte um jeden Preis vermeiden, ihm eine besondere Aufgabe in Frankreich zu geben, er mache ihm zu Hause nur Schwierigkeiten. Daher das Ziel einer angemessenen Beschäftigung auf europäischer Ebene – und Helmut Kohl schien eingedenk seines Misstrauens gegenüber Giscard taub auf diesem Ohr. Letztlich war es dann Gerhard Schröder, der den Vorschlag Chiracs, „VGE“ mit dem Vorsitz der „EU-Konvention“ zu betrauen, laufen ließ.
Der Zufall wollte es, dass ich ab 2003 in Paris regelmäßig mit ihm zusammentreffen sollte. Er war der Ehrenpräsident des „Comités France-Chine“, des China-Ausschusses des französischen Arbeitgeberverbandes MEDEF und ich gehörte aufgrund meiner Tätigkeit für Veolia zum Vorstand dieses Ausschusses. Ich habe in jenen Jahren von diesem hochgebildeten Präsidenten nicht nur in Sachen China viel gelernt. Wesentlicher Gegenstand unserer Gespräche war immer wieder Europa, auch und gerade während der Konvention. In jener Zeit wurde ich in gewisser Weise zu seinem regelmäßigen „Sparringspartner“ – und immerhin kam ihm dann von Zeit zu Zeit eine respektvolle Bekundung über Helmut Kohl über die Lippen, natürlich immer nach Helmut Schmidt.
„VGE“ ist am 2. Dezember 2020 im Alter von 94 Jahren verstorben. Er hat Frankreich damals grundlegend verändert, modernisiert – ein tragendes Beispiel waren die Rechte der Frau, er legalisierte die Abtreibung, erlaubte der Frau, ein eigenes Bankkonto ohne die Zustimmung des Ehemannes zu eröffnen. Er war zugleich ein Präsident voller Widersprüche, sein Credo lautete: liberal, sozial, europäisch – wichtig für uns Deutsche war sein Engagement für Europa auf Grundlage der deutsch-französischen Zusammenarbeit – Bundeskanzlerin Angela Merkel hat ihn zu Recht gewürdigt: Frankreich hat einen Staatsmann verloren, Deutschland einen Freund und wir alle einen großen Europäer!
Ich könnte über eine Vielzahl von Begegnungen mit anderen Franzosen berichten. Ich greife bewusst René Monory heraus, der Kohl eine Première verschaffte. Der Bundeskanzler war der erste ausländische Staats- und Regierungschef, der im Senat in Paris gesprochen hat. Die Idee zu diesem Unternehmen hatte sein Kabinettchef, Jean-Dominique Giuliani, seit einigen Jahren Präsident der angesehenen Robert-Schuman-Stiftung in Paris. Er trug mir diese Einladung Monorys, 1992–98 Präsident des Senats, vor, und der Bundeskanzler stimmte zu und sprach am 13. Oktober 1993 im Senat.
Jean-Dominique, der einer meiner und unserer besten Freunde in Paris geworden ist, und ich diskutierten die Risiken, vor allem die mögliche Perzeption auf Seiten Mitterrands, seine Mannschaft erhob keine Einwände.
Ich bin überzeugt, wäre die Einladung vom Präsidenten der Nationalversammlung – damals auch in den Händen der Konservativen, hätte der Präsident vielleicht reagiert, so aber letztlich vor dem Hintergrund der besonderen Stellung des Präsidenten des Senats ließ der Elysée die Einladung „laufen“. Im französischen System ist der Präsident des Senats für bestimmte Fälle die Nummer 2 des Staates, der das Amt des Präsident ad interim im Falle der Vakanz des Amtes des Präsidenten oder im Falle dessen Verhinderung ausübt.