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Die vergessene Revolution

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Das Ende der Welt, wie wir sie kannten, kommt aus einem malerischen Landstrich südlich von San Francisco. Er hat die Welt verändert, wie er sich selbst verändert hat. Man nennt ihn Silicon Valley. Aus Silicon, deutsch Silizium, sind die winzigen Mikroprozessoren, genannt Chips, gefertigt, die die moderne Welt am Laufen halten. Das heutige Zentrum der Hightech-Industrie hat mit seinen tausend Firmen die ganze Welt mit einem elektronischen Netz überzogen, aus dem es kein Entrinnen gibt.

Ob Google, Amazon, Apple, Microsoft oder Facebook, sie alle sind hier zuhause. Dabei strahlen sie die kalifornische Entspanntheit aus, die vergessen macht, dass sie die Welt beherrschen. »Dem ganzen Silicon Valley geht es darum«, so verriet ein ehemaliger Facebook-Manager, »etwas Vorhandenes durch etwas Eigenes zu ersetzen«10. Dass mit dem Vorhandenen nichts weniger gemeint war als unsere Welt, brauchte er nicht eigens hinzuzufügen. Ihre neue Ordnung wird durch die Cyberwelt bestimmt. Ihr Betriebssystem heißt Silicon Valley.

Noch vor hundert Jahren breitete sich hier eine paradiesische Landschaft aus. So etwa sah der Kalifornien-Traum der Siedlertrecks aus, die einst durch die Wüste Nevadas und über die Schneeberge der Rocky Mountains ins gelobte Land gezogen waren. Mit seinem Meer aus Blüten und Früchten, über dem sich ein makellos blauer Himmel spannt, nannte man dieses von Pazifik und San Francisco Bay umrahmte Ländchen das »Valley of the Heart’s Delight«. In dem flachen Tal, umrahmt von den Höhenzügen der Santa Cruz Mountains und des Diablo Range, ließ sich tatsächlich »nach Herzenslust« leben. In diesem Garten Eden hat Ende des 19. Jahrhunderts ein Eisenbahn-Tycoon eine Universität errichtet. Zur Erinnerung an seinen jung verstorbenen Sohn nannte er sie Leland Stanford junior University.

Die Stanford Universität, zu der eine prächtige Palmenallee führt, bietet äußerlich ein eindrucksvolles Sammelsurium an Architekturstilen. Von den Adobe-Mauern der indianischen Ureinwohner über europäische Gotik und Renaissance bis zum spanischen Missionsstil und der Bauhaus-Moderne ist alles vertreten. Der Eintretende bemerkt sofort, dass er hier nicht nur an einem privilegierten Ort weilt, sondern sozusagen überall gleichzeitig. Nach dem Prinzip des Eklektizismus ist alles erlaubt, solange es schön ist.

Stanford ist schön. Der Gründer lieferte das Geld, und die Welt lieferte ihre Baustile und ihr Wissen, ihre Kultur und ihr Genie. Dieses blühende Idyll, wie man kein vergleichbares in Europa findet, beherbergt eine der erfolgreichsten Hochschulen Amerikas. Über ihren Kolonnaden, Türmchen, Torwegen und rabattengesäumten Rasenflächen rascheln die Palmblätter im Meerwind, der vom Pazifik oder der San Francisco Bay herüber weht.

Diese üppig mit Geld ausgestattete und mit Nobelpreisträgern gespickte Privathochschule wurde seit den 1960er Jahren zum Magneten für Elektronikwissenschaftler. Damals bahnte sich die entscheidende Wende in der Computertechnologie an. Von den monströsen IBM-Rechnern, deren erste Festplatte 1955 über eine Tonne wog, entwickelte sie sich zu den »Micro-Computern« für den Hausgebrauch. Voraussetzung für die dramatische Verkleinerung war der erste serienmäßige Mikroprozessor, den die Firma Intel 1971 herausbrachte. In Palo Alto hatte sich das elektronische Forschungszentrum Xerox Parc angesiedelt, das zum Pionier der Cyberwelt wurde. Um 1975 war der erste Desktop (Schreibtisch-Rechner) vorgestellt worden. Das kastenartige Gerät verfügte statt einer Tastatur über Kippschalter und kostete 500 Dollar. Dafür musste man es auch selbst zusammenbauen.

Den entscheidenden Schub zur digitalen Welteroberung brachten zwei Hightech-Enthusiasten, Bill Gates und Paul Allan. In dem bescheidenen Bausatz für Tüftler entdeckten sie das gewaltige Zukunftspotenzial. Für das Urmodell schrieben sie das erste Programm. Damit lieferten sie zur Hardware der Rechenmaschine die Software, die den Computer in ein massentaugliches Allround-Instrument mit Bildschirm verwandelte. Und was man schrieb, konnte man auf einer Floppy-Disc speichern. Da die Nachfrage nach Software-Innovationen riesig war, gründeten die Männer, die der Rechenmaschine Flügel verliehen hatten, in Albuquerque/New Mexico eine Firma. Weil man für Micro-Computer die Software entwickelte, nannte man sie »Microsoft«.

Der zukünftige Hauptkonkurrent entstand im Jahr darauf. In einer Garage nicht weit von der Stanford Universität baute der in San Francisco geborene Steve Jobs mit seinem Kollegen Steve Wozniak einen Heimcomputer mit eigenem Programm. Ihre Firma nannten sie »Apple«. Das Logo zeigte im Gegensatz zu dem der gleichnamigen Beatles-Firma einen angebissenen Apfel. Der Firmenname prangte in Regenbogenfarben. Nachdem der legendäre Computerriese IBM 1981 seinen ersten PC (Personal Computer) auf den Markt gebracht hatte, wurde Jobs’ kalifornisches Rechenzentrum weltweit populär. Fünfzehn Jahre später folgte die Innovation der Innovationen: der Durchbruch zur Cyberwelt.

Das Silicon Valley hieß damals noch San Francisco Bay Area. Das Städtchen Palo Alto, an dessen Rand die Stanford University erbaut wurde, war eine mit Palmenalleen und einem Blumenmeer geschmückte Kleinstadt. Statt der heute üblichen Fast-Food-Ketten gab es noch Restaurants und zu Imbissbuden umfunktionierte Speisewagen, die man Diner nennt. Es fanden sich altmodische Metzgerläden, Fischhändler, Bagelbäcker (»Rabbinical Bagels«). In einem Laden konnte man klassische Platten und Bücher tauschen. Und ein kleines Kino namens »Varsity« zeigte spät nachts europäische Kunstfilme von Fellini bis Fassbinder.

Meine Frau und ich lebten 1975/76 in Palo Alto: Carol studierte Jura an der Stanford Law School, während ich in den Katakomben der Universitätsbibliothek an meiner Doktorarbeit schrieb. Das Thema war Friedrich Nietzsches Buch »Die Fröhliche Wissenschaft«, was exakt dem Lebensgefühl in Palo Alto entsprach: Eifrig betrieb man die Wissenschaft, und zugleich genoss man das Leben.

Noch war die Atmosphäre geprägt von der Kulturrevolution, die Amerika in den 1960ern verändert hatte. Überall konnte man den Geist der Flowerpower-Bewegung spüren, die im nahen San Francisco begonnen hatte. Statt Geld und Macht, den Turboladern Amerikas, stand nun die Freiheit an oberster Stelle. Es ging um Freiheit von Repression, Rassismus, Sexismus und Imperialismus. Vor allem aber wollte man den Konsumzwang, diese uramerikanische Krankheit, beenden. Die neue Generation legte Wert darauf, alles selber zu machen. Im Zeichen der Freiheit hatte man an den Universitäten gegen den Vietnamkrieg gekämpft. Amerika hatte den Krieg verloren, aber die Studenten den Krieg gegen den Krieg gewonnen. Bei politischen Protestveranstaltungen drängte sich die T-Shirt- und Button-tragende Jugend auf den Gängen der Stanford Universität, aus denen einem der Duft von Marihuana entgegenwehte.

Schon Ende der 1950er Jahre hatte der Protest gegen die Konsumgesellschaft der Nachkriegszeit eingesetzt. Beatniks wie Jack Kerouac schufen eine anarchistische Gegenkultur. Die Friedensbewegung mit dem Folksänger Pete Seeger beschwor die Rückkehr zur Menschlichkeit. Martin Luther Kings schwarze Bürgerrechtsbewegung forderte Gleichheit für alle. Und Timothy Leary, der Hippie-Guru, ermutigte zum drogeninduzierten Ausstieg aus der Gesellschaft. Sein berühmtes Wort, Turn on, Tune in, Drop out, rief die Jugend zum Dreischritt auf: Sie sollte sich geistig über die Gesellschaft erheben, die richtige Wellenlänge finden und endlich die Alltagsmisere hinter sich lassen. Abschalten, Aussteigen, Umdenken. Learys Devise wurde zum Schlachtruf der alternativen Lebensform.

Die Jugend- und Studentenbewegung, die von der Befreiung des Menschen träumte, hinterließ auch im Silicon Valley ihre Spuren. Die nahe gelegene Berkeley University, an der der Marxist Herbert Marcuse und Timothy Leary lehrten, war Hochburg des Protests gegen Vietnamkrieg, autoritären Staat und die Macht der Multis, genannt Corporations. Das ebenfalls nahe San Francisco mit seiner multikulturellen Bevölkerung und sexuellen Liberalität wurde zum Mekka der Woodstock-Generation. Wer in jenen Jahren in Kalifornien aufwuchs, wurde unvermeidlich vom Geist des Nonkonformismus angesteckt. Man rebellierte gegen die Autoritäten, agitierte gegen den Kapitalismus, strebte zurück zur Natur und sehnte sich nach dem neuen Menschen, der die Fesseln der zwanghaften Geldgier und repressiven Moral von sich warf. Aus dem »Eindimensionalen Menschen«, wie Marcuses Hauptwerk hieß, sollte der vieldimensionale Weltbürger werden. In Stanford konnte man ihn finden. Hier war Mitte der 1970er Jahre die Aufbruchstimmung eines neuen, menschlicheren Amerika noch lebendig.

Die Weltmacht der Computer-Corporations, die man dereinst mit dem Namen des jugendbewegten Tals verbinden sollte, lag in ferner Zukunft. Der Alltag war noch analog. Man schrieb auf elektrischen Schreibmaschinen, studierte Archivmaterial in Form von Mikrofiches, hörte Musik auf Vinylplatten und ärgerte sich über das Knistern der Rillen, das einem die Reibungsverluste der analogen Technik vor Ohren führte.

Die digitale Welt dagegen, die damals ihren Siegeszug antrat, besteht aus Zahlen, die nicht materiell dargestellt werden müssen. In Lichtgeschwindigkeit von Medium zu Medium übertragen, bleiben sie ewig mit sich identisch. Ihre Kombinationen lassen sich unendlich vervielfältigen, ohne dass sich das Geringste an ihrem Inhalt ändern würde. Digitales nutzt sich nicht ab. Es hält nicht nur die Wirklichkeit fest, sondern ist selbst eine Wirklichkeit. Am besten ließ sie sich auf Halbleitern aus Silicon speichern. Und damit war der neue Name, Silicon Valley, geboren.

Angezogen von berühmten Forschern und dem Geld, das für ihre Arbeit zu Verfügung stand, entstanden im Umkreis der Stanford University die ersten Startups. Schon 1939 hatten die Stanford-Absolventen Bill Hewlett und David Packard in einer campusnahen Garage ihre spätere Weltfirma gegründet. »Die Elektroniker«, so sagte David Packard, »kommen aus einem einzigen Grund nach Palo Alto. Sie wollen nahe der Stanford Universität arbeiten, weil sie eine bedeutende Quelle für neue Ideen der Elektronikindustrie ist, und ebenso eine Quelle für gut ausgebildete Ingenieure«11. Die Lebensader der Unternehmungsgründungen bildeten die Venture Capital-Firmen, die sich auf das Wagnis (Venture) der Computertechnik einließen und die benötigten Gelder zuschossen. Ihre generösen Besitzer nennt man noch heute ehrfurchtsvoll Business Angels, sozusagen die geflügelten Boten des Unternehmer-Gottes Mammon. Wer damals Tausende investierte, hat heute Milliarden. Mit der neuen Computergeneration waren mechanische Schreib- und Rechenmaschinen zu Schrott geworden. Was sich in Zahlenkombinationen ausdrücken ließ, existierte nun jenseits von Zeit und Raum. Alles war machbar, und alles war am Platz. Damals begann etwas im Silicon Valley, das man die Verfügbarmachung der Welt nennen könnte. Und sie schien nur darauf gewartet zu haben.

Verloren im Cyberspace

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