Читать книгу Verloren im Cyberspace - Joachim Köhler - Страница 17

Philanthropische Milliarden

Оглавление

Seit die Cyberwelt vom Silicon Valley aus die reale Welt erobert hat, erheben sich im Tal, wo früher Obstplantagen und Kürbisfelder blühten, hochmoderne verglaste Bürokomplexe. Die Welt bestaunt das gigantische »Googleplex« mit seinen 23.000 Mitarbeitern, das ringförmige »Apple«-Gebäude, genannt Infinite Loop (Endlosschleife) oder das Facebook-Hauptquartier, das Mark Zuckerberg stolz »die größte zusammenhängende Bürofläche der Welt« nennt. Diese luxuriös ausgestatteten Konzernzentralen erwecken freilich den Eindruck, als herrschten hier nicht Stressangst und Konkurrenzdruck, sondern eitel Campus-Freude und Sunkist-Sonnenschein. Als lebten alle Mitarbeiter in ihren T-Shirts und Jeans so zusammen wie die Hippies in San Francisco. Silicon Valley präsentiert sich der Menschheit als Musterbiotop, dessen Bewohner nichts heißer ersehnen, als auf ihren glorreichen Weg in die Zukunft die ganze Welt mitzunehmen. Denn sie ist der Rohstoff, aus dem ihre Träume sind.

Betrachtet man das wunderwirkende Tal mit nüchternen Augen, sieht man vor sich ein Konglomerat gigantischer Netzwerk-Firmen, die sich auch untereinander vernetzt haben. Ihre Kooperation zum gemeinsamen Zweck der Profit- und Machtmaximierung geschieht von der Öffentlichkeit unbemerkt. Anfang 2020 etwa ging durch die Presse, dass das bekannte »Ring«-System für die Videoüberwachung von Hauseingängen, das seit Jahren mit weltweiter TV-Werbung um sich wirft, sensible Daten an Cybermultis weitergibt. Mittels digitalen Trackern verfolgen sie alles, was sich über den Besitzer und seine Besucher, seien es Paketboten oder Paketräuber, zu wissen lohnt. Beim Ausspähen bleiben die Multis unter sich: »Ring« gehört Amazon, und mit den hypersensiblen Trackern in den vermeintlich harmlosen Kamera-Apps werden unter anderem Google und Facebook versorgt. Letzteres geschieht sogar, wenn der stolze Ring-Inhaber gar kein Facebook-Konto besitzt.

Trotz der globalen Ausforschung blieb dem Silicon Valley der Malus, der den anderen Corporations anhaftet, erspart. Im Gegenteil, fast alle Schwachpunkte, die den gewöhnlichen Firmen ihr mieses Kapitalisten- und Ausbeuter-Image einbrachten, wurden im Valley ins Positive umgewandelt. So überflügelte man die anderen auch, weil man ihnen einen gewaltigen Bonus voraus hatte: Man versicherte, der Menschheit in Richtung Zukunft auf die Sprünge helfen zu wollen. So zumindest wollte es das Image, das von den Corporations des Silicon Valley verbreitet wurde.

Corporations sind eine typisch amerikanische, reichlich mit Rechten und Privilegien ausgestattete Institution. Als im 19. Jahrhundert die ersten dieser warenproduzierenden Großunternehmen juristische Bevorzugung erfuhren, verband der Staat das mit öffentlichen Aufträgen. Bis ins 20. Jahrhundert legte man Wert darauf, dass Corporations nicht nur dem eigenen Kassenstand, sondern auch dem Public Interest zu dienen hatten. Für die börsennotierten Unternehmen erwies sich dies als heikel, weil die Kluft zwischen Eigennutz und Gemeinwohl sich oft als unüberbrückbar erwies. Wo eine Pharmafirma prosperierte, waren bald die Gewässer vergiftet.

Genau hier können die Cybermultis ihren Vorteil ausspielen: Denn zweifellos bedienen Telekommunikation und Internet wie wenige andere Industrieprodukte das öffentliche Interesse. Sie sind das öffentliche Interesse. Alle interessieren sich für sie. Folglich entsprechen die Cybermultis der Forderung nach dem Gemeinwohl auf vorbildliche Weise. Der Cyberspace ist für jeden erreichbar, schenkt ihm fast unbeschränkte Freiheit und trägt außerdem zur gesellschaftlichen Bildung bei. So scheinen die Cybermultis die demokratischen Unternehmen schlechthin zu sein. Mit jeder neuen Technologie können sie ihren Vorsprung gegenüber ordinären Warenproduzenten ausbauen. Ja, ordinäre Warenproduzenten müssen sich noch bedanken, dass es das Internet gibt.

Besteht Demokratie darin, dass alle Mitglieder einer Gesellschaft untereinander auf Augenhöhe kommunizieren, um ihre Interessen ausgleichen zu können, scheint die Cyberworld auch die Erfüllung dieses Menschheitstraums zu bieten. Nicht nur fördert sie die freiheitliche Demokratie, sie verkörpert sie. Und zugleich führt sie die Demokratie ad absurdum. Denn nicht der Mensch selbst, sondern das Internet bestimmt, welche Interessen er verfolgt. Und die Gleichheit gehört ebenfalls zu den Illusionen, von denen das Internet lebt: Gleich ist man nicht, sondern man stellt sich, als wäre man es. Und was die Freiheit betrifft, so verzichtet jedermann gerne darauf, wenn er nur gut versorgt und unterhalten wird.

Der Begriff Jedermann ist nicht zu hoch gegriffen. Allein an der Dauerkommunikation der Social Media beteiligen sich 40 Prozent der Weltbevölkerung. Doch wird durch den digitalen Austausch nicht die Gemeinschaft, das soziale Miteinander, gestärkt, sondern auf eine neue Ebene gehoben: die der gegenseitigen Anpassung. Auf der Bühne der Social Media wird das große Welttheater aufgeführt, bei dem die Mitwirkenden Schauspieler und Publikum zugleich sind. Jeder gibt sich so, wie er wünscht, von den anderen gesehen und akzeptiert zu werden. Jeder passt sich dem Stück, das gerade gegeben wird, an. Jeder spielt die Rolle, die sich Ich-selbst nennt.

Doch bevor jedermann diese Identität im Medium finden konnte, hat er sich als das, was er wirklich ist, bereits aufgegeben, Distanz hergestellt zu sich selbst und Anderen. Ebendies lässt sich alltäglich auf der Straße beobachten, wenn dieser Jedermann, das Smartphone vor Augen, an einem vorbeihuscht. Womit er zu verstehen gibt, dass er ganz woanders ist und Wichtigeres zu tun hat. Aber damit ist er woanders, als er selbst ist, und hat Wichtigeres zu tun, als er selbst zu sein.

Das widerspricht natürlich dem weltoffenen, menschenfreundlichen Image des Silicon Valley. Der Eindruck, dass es sich hier um eine künstliche Welt handelt, in der die Corporations als Scheinpersonen die Menschen selbst in Scheinpersonen verwandeln, muss vermieden werden. Den industriellen Großunternehmen stellte sich dieses Problem seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie lösten es auf schlaue Weise: Aus der abstrakten Person ließen sie, wie das Kaninchen aus dem Hut, eine lebendige Person hervorgehen. Man »personalisierte« die Institution und stellte deren Belegschaft als »Familie« dar. Das Wort »Corporation ist kalt«, so erklärte ein General-Motors-Boss in den 1920er Jahren, während »Familie persönlich, menschlich, freundlich ist. Und so wollen wir, dass unsere Firma gesehen wird: als großer, von einem gemeinsamen Geist erfüllter Haushalt«.30

Ein für die Werbung passender Haushaltsvorstand ist schnell gefunden. Er kann gern prominent sein und das »Gesicht« der Firma liefern, er muss sympathisch und irgendwie normal sein. Einer wie du und ich. Oder ein Wesen aus der infantilen Traumwelt der Comics, eine Mickey Maus, ein Michelin-Männchen oder, bei McDonald’s, der Luftballonclown Ronald McDonald. Kann ein Clown das 66-Milliarden-Bouletten-Imperium vertreten, so mochten viele Amerikaner gedacht haben, dann kann auch ein Clown an der Spitze der Vereinigten Staaten stehen.

Diese Lenkung der Wahrnehmung, das sogenannte Perception Management, hat das Silicon Valley nicht nötig. Es besteht nicht nur aus den anonymen »Rechtspersonen« der Corporations, sondern wird von wirklichen Personen vertreten, die diese Firmen perfekt verkörpern: Gates ist Microsoft, Zuckerberg Facebook, Page Google, Bezos Amazon. Es sind einzelne Menschen, genial wie du und ich, die unsere Cyberworld am Laufen halten. Mit ihrem betont natürlichen Verhalten vermeiden sie die egoistische Kälte, die von den anderen Unternehmen ausströmt. Oder die Lächerlichkeit eines Ronald McDonald. Statt wie dieser Luftballons zu verteilen, verteilt Gates philanthropische Stiftungen, widmet sich angelegentlich der Rettung des Planeten und zerstreut damit letzte Zweifel an der Menschheitsmission der Cybermultis.

Auch von der Laune des Marktes haben sich die Herren des Valley frei gemacht. Sie sind der Markt. Normale Unternehmen leiden unter wechselnden Vorlieben ihrer Kunden, denen sie jeweils die »Produktpalette« anpassen müssen. Die Technologie-Plattformen bestimmen auf subtile Weise, in welche Richtung sich diese Vorlieben zu bewegen haben. Die gepriesene Wahlfreiheit der Käufer wird ausgeschaltet, indem man einen Gruppenkonformismus erzeugt. Dem beugt sich jeder, der dazugehören will. Aus Kundenlaune wird Kaufzwang. Wer Sehnsüchte nach Produkten wecken kann, kann diese auch verkaufen. Nicht länger muss er sie, wie gewöhnliche Unternehmen, den Kunden andienen. Er teilt sie ihnen zu.

Bereits im Begriff »Plattform«, mit dem die Cybermultis sich selbst bezeichnen, liegt eine Irreführung. Sie schließt jeden Gedanken an Eigennutz aus. Bewusst suggeriert der Begriff Plattform, dass sie keine Unternehmen sind, die Produkte verkaufen. Stattdessen bieten sie, so ihre Selbstdarstellung, anderen Unternehmen großzügig Freiräume, in denen diese ihre Produkte verkaufen können. Denn wer sich exponiert, verkauft sich. Den Nutzern wiederum bieten sie das größte Produktangebot der Welt. Hier gibt es alles, und zwar sofort.

Die Plattformen selbst halten sich aus diesem Massentausch heraus. Sie müssen sich nicht verkaufen, denn man kommt von selbst zu ihnen. Sie verstehen sich auch nicht als Akteure, sondern als deren Ermöglicher. Das wiederum bringt den Vorteil mit sich, dem Monopolverbot zu entgehen. Weil sie selbst keine Waren verkaufen, sondern den Verkauf nur ermöglichen, können sie auch keine Preisabsprachen für Waren treffen. Und weil sie nur passiv in Erscheinung treten, können sie auch nicht für die Produkte oder geistigen Inhalte, die auf ihnen erscheinen, zur Verantwortung gezogen werden. Wird ein Massaker live gestreamt, verdienen sie mit. Aber völlig unschuldig. Ihre Diskretion bietet den Vorteil des Nichtbeteiligtseins und der Unauffälligkeit. Man stellt sich klein und ist doch größer als die Größten. Man streicht seinen Anteil an werbungsgenerierten Gewinnen ein, ohne sich weiter um negative Konsequenzen kümmern zu müssen.

Und doch bleiben Unterschiede. Warenproduzierende Unternehmen müssen den Weg in die Wohnung der Menschen mit Werbung pflastern. Cybermultis sind bereits darin. Das Zuhause des Menschen ist eigentlich das Symbol seiner Integrität, seiner Freiheit und seines Selbstbewusstseins. In seinen vier Wänden ist er Herr seines Schicksals. Das Haus, in dem man wohnt, ist das Heim, in dem man den Druck der Außenwelt abschütteln kann. Und genau dort haben es sich die Cybermedien bequem gemacht. Bei den meisten haben sie sogar die Herrschaft übernommen: Der Fernseher läuft, die Computerschirme leuchten und das Smartphone summt Alarm. All dies besagt, dass das wahre Leben nicht zuhause, sondern woanders spielt. Und dass die menschliche Freiheit darin besteht, sie sich auf interessante und unterhaltsame Weise nehmen zu lassen.

Die Cyberwelt hat sich im Zuhause der Menschen festgekrallt. Bildschirm-Medien stellen das Gewünschte dar, dienende Medien warten auf Befehle, Amazon auf Bestellungen. Unwiderstehlich wirkt dabei, dass das Informationsuniversum der Außenwelt zum integralen Bestandteil des Innenbereichs wird. Wobei die Welt der Filme, Bilder, Musik, Bücher, Spiele von den Cybercorporations in ihr Imperium stillschweigend einverleibt wird. Was sich digital darstellen lässt, erscheint im Netz. Dass jemand das Copyright daran besitzt, interessiert das Silicon Valley nur nebenbei. Schlimmstenfalls sucht man mit den Rechteinhabern einen Vergleich. Dank dieser Piratenmentalität erhält der Nutzer Zugriff auf alles, wonach ihm der Sinn steht. Im Gegenzug bietet er den Cyberpiraten Zugriff auf alles, wonach ihnen der Sinn steht.

Die Firmen des Silicon Valley, deren wohlklingende Namen täglich in aller Munde sind, unterscheiden sich in ihrem Wesen nicht von den börsennotierten Auto-, Kühlschrank- oder Waschmittelmultis. Doch verfügen sie über eine Macht, die, wenn auch uneingestanden, selbst jene der Politik weit übertrifft. Washington gibt der Welt den Takt vor, aber das Silicon Valley gibt Washington den Takt vor. Obwohl ihm von keiner Gesellschaft ein Mandat dazu erteilt wurde. Corporations sind durch nichts legitimiert als durch sich selbst. Zwar sind sie nicht gewählt, aber dafür kann man unter ihren Produkten wählen. Und weil diese alles Interesse auf sich ziehen, ist Macht kein Thema. Dankbar nimmt der Bürger entgegen, was er zu essen, anzuziehen oder anzusehen hat. Und auch, wiewohl ahnungslos, wer er ist.

Das zutiefst Fragwürdige an der Geschäftsform der Corporation besteht darin, dass sie das Kapital einer unbegrenzten Zahl von Shareholders (Aktionären) zusammenfassen kann, ohne diese selbst in die Verantwortung zu nehmen. Ihr Gewissen haben sie einem abstrakten wertfreien Konstrukt abgetreten, das über keine moralische Instanz verfügt. Von Einzelmenschen gebildet, stellt die Corporation eine anonyme und gewissenlose Macht dar. Wörtlich bedeutet Corporation »Verkörperung«. Nach dem Gesetzgeber verkörpern die Anteilseigner die Firma. Sie wird dadurch quasi zu einem eigenen Körper, erfüllt von menschlichem Geist. Der so entstandene »Mensch« kann anderen Menschen auf Augenhöhe gegenübertreten. Als Legal Person (Rechtsperson) kommen ihm alle Rechte zu, die ein Staatsbürger besitzt: Recht auf eigenen Namen, Vertragsschließung, Prozessführung, Vermögensbildung, Weiterleben auch nach dem Tod der Eigner. Vor allem kann er das amerikanische Verfassungsrecht des Pursuit of Happiness ausüben, wonach jeder Bürger das Recht hat, »nach Glück zu streben«. Für Corporations besteht das Glück darin, nach Profit zu jagen.

Die Firmen legen Wert darauf, dass diese Jagd auch hierarchisch verankert wird. Die Stelle der Führungsfigur nimmt meist ein Pseudopersonenkult ein, der sich Corporate Identity nennt. »Die moderne Ehefrau weiß«, so schrieb ein sarkastischer Aldous Huxley 1958, »dass die erste Loyalität ihres Mannes seiner Corporation gilt.«31 Durch diese bedingungslose Treue bildet die gesamte Belegschaft die Verkörperung der Pseudoperson. Im Glauben an die Firma sollen sich alle gleich fühlen, ohne es in Wahrheit zu sein. Diese falsche Identität schenkt jedem das Gemeinschaftsgefühl, wonach er etwas Anderes und Größeres ist als er selbst. Weshalb er dies Andere, seine unsichtbare Uniform, höher schätzt als sich selbst. Das Großunternehmen mit seinen unübersehbaren Strukturen und seiner Mitarbeitermasse nennt sich gern Family. Wir, so lautet das Credo, sind wie eine Familie, deren Mitglieder sich ihrem Wohl mit Leib und Seele zur Verfügung stellen. Wer sich selbstlos eine Corporate Identity »anzieht«, ist tatsächlich sein Selbst los.

Auch Facebook betrachtet sich als Großfamilie. Nicht der Geburtstag jedes Mitarbeiters wird gefeiert, sondern der Tag, an dem er ins Unternehmen eingetreten ist. Man nennt ihn Faceversary (Facebook-Jahrestag). Als habe der Gefeierte in der Firma seine wahren Eltern gefunden und sei als neuer Mensch wiedergetauft worden. Der Kult der Corporate Identity geht in einigen US-Firmen so weit, dass die Angestellten uniformiert wie Scientology-Mitglieder auftreten und das Hosianna ihrer Produkte singen. Es ist ein weltumspannendes Hosianna: Wäre Facebook eine Nation, könnte sie sich die größte der Welt nennen. Wäre sie eine Sekte, müssten alle Konfessionen vor ihr zittern.

Verloren im Cyberspace

Подняться наверх