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Vorwort

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»Die letzte Phase irdischen Aussterbens

wird sich nicht in

der Natur abspielen, sondern im

menschlichen Wesen selbst.«4

Shoshana Zuboff, 2018

Wer sich Wissen, Nachrichten, Entertainment und was sonst noch aus dem Internet besorgt, gleicht einem Angler, der seine Angelschnur vom sicheren Ufer aus in einen Fluss wirft. Da das Gewässer äußerst fischreich ist, beißt immer etwas an, wenn auch nicht immer das Richtige. Am ungefährlichsten ist es in Ufernähe, dort fließt das Wasser träge, und der Angler kann bis auf den Grund sehen. Man könnte es die Wikipedia-Zone nennen. Wer sich ihrem Flow überlässt, bewegt sich schwerelos durch alle Bibliotheken und Enzyklopädien der Welt, ohne seinen Schreibtisch verlassen zu müssen. Ein biblisches Versprechen scheint damit eingelöst: Wer sucht, der wird finden, wer anklopft, dem wird aufgetan.

Während man sich dank Google im Bilderstrom von immer neuen Ansichten und Ausblicken entzücken lässt, gleitet man, von Link zu Link getragen, tiefer und tiefer in den Strom hinein. Unmerklich nimmt die Fließgeschwindigkeit zu. Und dort, wo man gerade noch mittels Suchmaschine gesurft hat, klickt man sich zur Abwechslung durch YouTube-Clips, gerät anschließend in einen Twitter-Strudel, und während man mechanisch scrollt und scrollt, findet man sich selbst – dieses fast schon vergessene Selbst – bei Facebook wieder, dessen Newsfeed einen augenblicklich gefangen nimmt, denn er gehört einem allein. Und während man noch die »Gefällt mir«-Noten zählt, was meist wenig Wohlgefallen auslöst, wird man von einer Strömung, genannt Streaming, mitgerissen, die einen mit Musik umhüllt oder in den abgedunkelten Raum eines Kinos führt. Von dort treibt es einen ganz unwiderstehlich weiter in die Wirrnis der Game World hinein, wo man sich unversehens in eine Traumwelt innerhalb der Traumwelt versetzt sieht. Hier muss man immer wieder töten, um nicht selbst getötet zu werden, und immer wieder spielen, um nicht alles zu verlieren. Spätestens dann weiß man vor lauter Mitgerissensein nicht mehr, worauf all das, der Strom, das Treiben der Wellen, am Ende die Katarakte des virtuellen Wahnsinns, noch hinauslaufen. Und wohin. Sicher ist nur, dass man die Kontrolle verloren hat. Man spielt nicht mehr, man wird gespielt. Man ist der Fisch, der an der Angel zappelt.

Die Cyberwelt ist zu unserem Lebensmittelpunkt geworden, der allein darüber entscheidet, ob für uns etwas wirklich existiert oder nicht. Alle benutzen diese Welt, wenige beherrschen sie, kaum einer versteht sie. Entstanden durch die Verschmelzung von Computer- und Internettechnologie, spielt sich die Cyberwelt im Vordergrund ab, bietet allem eine Bühne und zeigt allen ihr Face. Man trägt sie bei sich und oft auch vor sich her wie eine Monstranz, die einem alles zeigt und die man allen zeigt.

Der nicht enden wollende Strom an Informationen erschafft so den Menschen, der immer woanders ist und Wichtigeres zu tun hat. Was hinter den Kulissen dieses Theaters der großen Weltentfremdung steckt, bleibt verborgen. Einerseits bringt die Cyberwelt die alles durchdringende Transparenz, führt ihre Nutzer in ein gläsernes Universum von unvorstellbaren Ausmaßen. Andrerseits hält sie sich selbst, als Wunscherfüllungsmaschine, im Hintergrund. Sie führt und verführt in eine Unendlichkeit von Räumen. Und bleibt selbst ein geschlossener Raum ohne Fenster.

Dies dunkle Reich, das den modernen Menschen Licht bringt, verfügt über gefühlte Allmacht. Sie beruht auf dem Zusammenspiel von zwei Netzwerken, die die Welt umspannen: zum einen das Internet der Informationen, die ein unendliches Zahlenwerk bilden, parallel dazu das menschliche Netzwerk, in das Milliarden von Nutzern verwoben und verstrickt sind. Das Internet ist unsere tägliche Verstrickung. Das Netz, das uns mit sanftem Nachdruck, aber auch unerbittlich zum Kollektiv zusammenfasst.

Gewöhnlich drückt man dies positiver aus: Das Internet bringt die Menschen einander näher, heißt es, eröffnet ihnen einen globalen Marktplatz für Kommunikation und Warenaustausch. Doch diese Menschheitsgemeinschaft, so wünschenswert sie sein mag, hat einen Haken. Beim kommunikativen »Seid umschlungen, Millionen« bleibt nämlich verborgen, dass jeder Mensch, der das Informationsuniversum nutzt, sich zugleich als Teil davon zur weiteren Nutzung anbietet. In einer Form, die sich seiner Kontrolle und seinem Wissen entzieht. In zahlenbasierte Informationen verschlüsselt, wird er selbst verkäuflich. Wodurch Schillers »Seid umschlungen, Millionen« einen weniger erfreulichen Sinn erhält: Für die Betreiber ist das unerschöpfliche Netzwerk eine unerschöpfliche Goldgrube.

Die Cyberwelt bietet sich als universale Dienstleistung an, die so gut wie nichts kostet. Sie präsentiert sich als allgegenwärtige Alternative zur wirklichen Welt. Zu ihrem unwiderstehlichen Angebot gehört, dass man, im Gegensatz zur Alltags- und Berufswelt, immer alles unter Kontrolle zu haben glaubt. Man ruft auf, was einen interessiert, und erhält prompt, was man sich wünscht. Man glaubt, am Steuerhebel seines eigenen Lebens zu sitzen. Und ist doch unmerklich selbst gesteuert: Was einem als ureigenstes Interesse erscheint, wird einem von diesem Wunderland der Wünschbarkeiten selbst nahegelegt. Man glaubt, sich mittels Maus, Tastatur oder Touchscreen die Welt untertan zu machen, wird aber selbst mit einem einzigen Mausklick zum Untertanen der Betreiber.

Der moderne Mensch kann nicht mehr ohne die Speicherfunktion des Computers leben. In der Cloud, der ominösen Datenwolke, ist sein eigenes Gewesensein festgehalten, in ihr feiert er die Erinnerungskultur seiner selbst: Was er an Texten und Bildern der Cyberwelt anvertraut hat, wird fortbestehen. Und er mit ihm. Das uralte und immer neue Problem der Vergänglichkeit scheint durch die Datenwolke besiegt zu sein: Sie schenkt allem, was zählt, ewiges Leben. Zahlen, in denen die Wirklichkeit codiert ist, und Photonen, die sie transportieren, sind zeitlos. Mit ihnen lässt sich alles im Augenblick einfrieren.

Alles bleibt, wie es ist. Was auf der Festplatte steht, schenkt dauernde Gegenwart, an der man sich festhalten kann. Man sieht nicht gern in die Zukunft, die ein bedrohliches Gesicht zeigt. Dagegen zeigt das, was der Gegenwart vorausging, ein vertrautes Gesicht. Vor allem, es bedroht einen nicht. Man hat das Vergangene schon hinter sich. Und man kann es auch jederzeit abrufen. Das Selbst ist im Selfie bestens aufgehoben.

Man glaubt die Cyberwelt zu nutzen, und wird von ihr benutzt. Aber schließlich, so heißt es, nutzt sie mehr, als sie schadet. Sie dient einem auf allen nur denkbaren Feldern. Und kostet nichts. Dass es doch etwas kostet, am Ende alles kostet, bemerkt man nur langsam. Die grenzenlose Vielfalt der Websites, die einen, wie das Kind im Spielzeugladen, entzückt, lenkt davon ab, dass die Cyberwelt genau dieses Online-Kind, zu dem wir konditioniert werden, im Visier hat. Ganz langsam, aber stetig, nimmt es Besitz vom Menschen, der vergisst, dass diese schöne neue Welt ein Spielzeugladen ist. Und der darüber sich selbst und seine Menschlichkeit vergisst.

Zum Existieren braucht der Mensch die Natur nur noch als Rohstofflieferanten, die Gesellschaft als prompten Dienstleister, und auch sein Körper ist nur noch fehlbares Bedienelement unfehlbarer Maschinen. Er ist Mensch nur noch im Nebenberuf. Die Grenzen der Nation hat er übersprungen, auch einen festen Ort muss er nicht mehr einnehmen. Sein Ort ist überall und nirgendwo. Er lebt in der Utopie des Alleswissens und Alleskönnens. Fortan ist er der Mensch, der alles kann und nichts ist. Außer den Informationen, die über ihn gesammelt sind.

Unbemerkt ist man posthuman geworden. So fremd der Begriff auf uns wirkt, so vertraut ist das, was er meint. Bezeichnet »postmodern« das, was nach der Moderne kommt, so bedeutet das Wort, das unbemerkt unsere Zeit und vielleicht alle kommenden Zeiten prägt, »nach dem Menschlichen«. Aber dieses »Nach« geschieht im Jetzt. Der Mensch ist auf dem Weg, sich endgültig in diese neue, unheimliche Identität zu verwandeln. Der Falter, gerade erst aus der Puppe geschlüpft, flattert bereits mit den Flügeln. Das Posthumane hat sich sprichwörtlich als etwas »entpuppt«, das nicht vorauszusehen war. Es hielt sich, wie man heute sagt, unter dem Radarschirm. Es blieb im Schatten, wo es prächtig gedieh. Berauscht von den unablässig wechselnden Horizonten des Cyberspace, ist man sich selbst abhanden gekommen.

Die beiden Schlüsselwörter der Cyberwelt sind aufschlussreich genug: Digital, dieser unablässig benutzte Begriff, bedeutet wörtlich »in Zahlen ausgedrückt«, meint aber »in Zahlen verschlüsselt«. Was verschlüsselt ist, kann nur der öffnen, der den Code dazu hat. Das andere Zauberwort ist Cyber. Heute lässt sich fast alles mit diesem Begriff verbinden, Cyberweek, Cybersecurity, Cybersex. Das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet schlicht »gesteuert«. Wer sich in den Cyberspace begibt, unterwirft sich einer Lenkung, auf die er selbst keinen Einfluss hat: Man kann wählen, aber was man wählen kann, entscheidet die höhere Instanz, der Cyberspace.

Um zu erkennen, dass in dieser schönen neuen Welt für den Menschen etwas gründlich schiefläuft, muss man kein Computer- und Internetfachmann sein. Auch ich bin das nicht. Als Philosoph, Journalist und Schriftsteller habe ich dreißig Jahre lang von diesem Informationsuniversum profitiert, mich aber auch mit seinen Tücken herumschlagen müssen. So lernte ich es ziemlich gut kennen. Sollten mir trotzdem in manchen Punkten Fehler unterlaufen sein, bitte ich den Leser um Nachsicht. Dabei möchte ich mich dem Eingeständnis des Futurologen Nick Bostrom anschließen, der einmal über sein neues Buch sagte, es enthalte »wahrscheinlich schwere Fehler und Irreführungen. Aber die in der Literatur vorgebrachten Alternativen stehen meiner Meinung nach noch schlechter da.«5

Das Unheimliche an diesem superintelligenten Ungeheuer Cyberwelt ist mir erst langsam aufgegangen. Besser gesagt, es ist mir aufgegangen, dass diese scheinbar so rationale Technologie mit ihrem launischen Eigenleben ein Ungeheuer ist. In dramatischer, vom Nutzer kaum verfolgbarer Beschleunigung ist es uns von Innovation zu Innovation über den Kopf gewachsen. Das allwissende Frage-und-Antwort-Spiel, der blitzschnelle Such-und-Finde-Mechanismus sowie die verführerische Heute-bestellt-morgen-geliefert-Automatik haben alle in ihren Bann gezogen. Schritt für Schritt, von Update zu Update lassen wir uns ins künstliche Paradies der digitalen Wunscherfüllung locken. Und gehen uns selbst dabei verloren. Über dem Eingangsportal der Cyberwelt stehen nicht, wie über Dantes Höllentor, die Worte »Lasst alle Hoffnung fahren, die ihr hier eintretet«, sondern: »Lasst euch selbst fahren, den Rest besorgen wir«.

Joachim Köhler

Hamburg, im November 2020

Verloren im Cyberspace

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